Nachhaltigkeit und ESG: Wie Unternehmen Greenwashing vermeiden
Massives Greenwashing verwässert viele ESG-Berichte. Doch wie lassen sich CO₂-Emissionen konsequent erfassen und einzelnen Produkten zuordnen? Zum ersten Mal gibt es nun einen machbaren Ansatz.
Von Robert S. Kaplan und Karthik Ramanna
Die vom Menschen verursachte Umweltverschmutzung habe zu einer Zunahme extremer Wetterereignisse wie Hitzewellen, Starkregen, Dürren und tropischen Wirbelstürmen geführt, warnte der Weltklimarat (IPCC) im August 2021 in einer Publikation, die den Auftakt für seinen neuesten Sachstandsbericht zum Klimawandel bildet. Dessen Hauptursache sind die aus den globalen Wirtschaftsaktivitäten resultierenden Treibhausgasemissionen. So liegt die CO2-Konzentration in der Atmosphäre inzwischen um 50 Prozent über dem Niveau des vorindustriellen Zeitalters.
Kein Wunder, dass Investoren, Interessengruppen, Politikerinnen und selbst führende Wirtschaftsvertreter seit einiger Zeit den Druck auf Unternehmen erhöhen, die Treibhausgasemissionen sowohl im eigenen Betrieb als auch innerhalb ihrer Liefer- und Vertriebsketten zu senken. Die knapp 200 CEOs des Business Roundtable – eines Zusammenschlusses, dessen Mitglieder einige der größten und bekanntesten US-Unternehmen repräsentieren – haben bereits 2019 mit einem gemeinsamen Bekenntnis zur Verantwortung von Unternehmen reagiert. Zu dieser zählt auch ein stärkerer Einsatz für die Umwelt. Und scheinbar lassen sie ihren Worten auch Taten folgen: Rund 90 Prozent der im Aktienindex S&P 500 vertretenen Unternehmen veröffentlichen inzwischen einen ESG-Bericht, der fast immer auch eine Schätzung der eigenen Treibhausgasemissionen enthält.
Allerdings ist ESG – das Kürzel steht für Environmental, Social and Governance, für Umwelt, Soziales und Unternehmensführung – in seiner jetzigen Form eher ein Schlagwort als eine Lösung. Jeder der drei Bereiche birgt unterschiedliche Chancen und Herausforderungen der Messung. Dies wird von den aktuellen Offenlegungsstandards jedoch nicht angemessen berücksichtigt.
Die Folgen: Nur wenige ESG-Berichte gehen ernsthaft auf die ethischen Abwägungen zwischen konkurrierenden Zielen der drei Bereiche einerseits und auf Auswirkungen auf den Unternehmensgewinn andererseits ein. Zudem picken sich Konzerne häufig Kennzahlen heraus, die sie in einem guten Licht dastehen lassen. Dies führt zu der weitverbreiteten Wahrnehmung, dass ESG-Berichte massives Greenwashing betreiben.
Da überrascht es nicht, dass die Prüferinnen und Prüfer dieser Berichte häufig keine positiven Urteile fällen, sondern sich lieber mit doppelten Verneinungen begnügen: "Wir haben in dem ESG-Bericht des Unternehmens keine Hinweise auf falsch ausgewiesene Sachverhalte gefunden", heißt es dann zum Beispiel. Und so hatten die Berichte bislang weder auf die Maßnahmen in Unternehmen noch auf externe Stakeholder große Auswirkungen.
Aus diesem Grund empfehlen wir Unternehmen, ihr ESG-Reporting zielgerichteter zu gestalten und besser überprüfbar zu machen. Zunächst einmal sollten sie für die wichtigsten und drängendsten ESG-Probleme spezifische und objektive Kennzahlen entwickeln, statt Allerweltsberichte zu erstellen, die allzu häufig ungenaue, nicht überprüfbare und widersprüchliche Daten enthalten. Ein idealer Ausgangspunkt dafür sind die Treibhausgasemissionen, denn sie stellen die unmittelbarste Gefahr für unseren Planeten dar und zählen unter den vielen ESG-Aspekten zu den Punkten, die sich am zuverlässigsten messen und auswerten lassen.
Die meisten Unternehmen, die bereits Schätzungen zu ihren Treibhausgasemissionen veröffentlichen (unter ihnen waren 2016 immerhin 92 Prozent der "Fortune 500"), verwenden das sogenannte Greenhouse Gas Protocol (kurz GHG Protocol). Dieses Regelwerk, das 2001 eingeführt und seither immer wieder aktualisiert wurde, gab erstmals Standards für die Messung von Treibhausgasemissionen vor, auf deren Basis Unternehmen anfangen konnten, ihre Umweltberichte zu erstellen. Es gilt heute als Methodik der Wahl. Die meisten ESG-Berichtsstandards basieren auf diesem Rahmenwerk.
Wie wir in diesem Beitrag zeigen werden, enthält der Ansatz indes gravierende konzeptionelle Fehler: Auf der einen Seite werden dieselben Emissionen gleich von mehreren Unternehmen ausgewiesen; auf der anderen Seite lassen manche Unternehmen Emissionen, die in ihren Liefer- und Vertriebsketten anfallen, einfach außen vor. Dass ESG-Berichte so wenige belastbare Zahlen liefern, liegt zum Teil schlicht an den Mängeln des GHG Protocol.
Die gute Nachricht lautet: Diese Mängel lassen sich beheben. Die Lösung, die wir hier vorstellen, verbindet neueste umwelttechnische Erkenntnisse über die Messung von Emissionen, den Einsatz von Blockchain-Technologien in der Bilanzierung und Prüfung sowie Best Practices aus Finanzbuchhaltung und Kostenrechnung, die sich über zwei Jahrhunderte hinweg entwickelt und bewährt haben.
Mit unserer Methodik können auch Treibhausgasberichte (GHG-Berichte) jene Relevanz und Zuverlässigkeit erreichen, die heute bei Finanzberichten üblich sind. Mehr noch: Vieles, was Unternehmen bei der Umstellung auf diese Methodik lernen, wird ihnen dabei helfen, andere negative – ökologisch oder sozial schädliche – Auswirkungen ihres Wirtschaftens besser zu erfassen.
Die Schwächen des GHG Protocol
Das GHG Protocol unterscheidet drei Kategorien (sogenannte Scopes) von Treibhausgasemissionen und erläutert explizit, wie sie zu erfassen und auszuweisen sind.
Scope 1: Direktemissionen aus Quellen, die dem Unternehmen selbst gehören oder die es kontrolliert, etwa Produktionsanlagen und Fuhrpark.
Scope 2: Emissionen von Anlagen, die Strom erzeugen, den das Unternehmen kauft und verbraucht.
Scope 3: Emissionen aus vor- und nachgelagerten Tätigkeiten in der Lieferkette des Unternehmens, also von Zulieferern, Abnehmern und Endkunden.
Scope-1-Emissionen lassen sich am einfachsten erfassen und sind vor allem für Unternehmen relevant, die selbst direkt große Mengen an Treibhausgasen produzieren. Dazu zählen vor allem Unternehmen der Branchen fossile Energien, Bergbau, Metall und Chemie sowie große Agrarfirmen. Die meisten anderen Unternehmen, einschließlich derer im Dienstleistungsgewerbe, produzieren nur geringe Mengen an Scope-1-Emissionen.
Scope 2 und 3 stehen im Wesentlichen für alle Emissionen, die nur indirekt mit den Geschäftsaktivitäten eines Unternehmens im Zusammenhang stehen. Für Scope-2-Emissionen sieht das GHG Protocol einen eigenen Bericht vor, weil sie sich leicht messen und einzelnen Unternehmen zuordnen lassen.
Aktuell melden mehrere Hundert Unternehmen ihre Emissionen nach den ersten beiden Kategorien. Der entscheidende Schwachpunkt des GHG Protocol ist jedoch die dritte Kategorie – Scope 3. Diese wurde von den Schöpfern des GHG Protocol eingeführt, um Unternehmen zu ermutigen, auch Einfluss auf jene Emissionen zu nehmen, die sie nicht direkt kontrollieren. So könnten sie zum Beispiel nur bei Zulieferern einkaufen oder nur an Unternehmen verkaufen, die selbst eher geringe Scope-1-Emissionen verursachen. Sie könnten auch mit Lieferanten und Kunden zusammenarbeiten, um die Treibhausgasemissionen entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette zu senken. Aber die Schwierigkeit, Emissionen mehrerer Lieferanten und Kunden über mehrstufige Wertschöpfungsketten hinweg zu erfassen, macht es für ein Unternehmen praktisch unmöglich, die von ihm verursachten indirekten Scope-3-Emissionen realistisch zu schätzen.
Ein Hersteller von Autotüren zum Beispiel müsste nach den Berichtsvorschriften für Scope 3 alle Treibhausgasemissionen aus den Prozessen seiner Zulieferer erfassen. Dazu gehören die Gewinnung von Kokskohle und Eisenerz, der Transport dieser Mineralien zu einem Stahlhersteller, die Produktion von Stahlblech aus dieser Kohle, diesem Eisenerz und anderen Rohstoffen sowie der Transport dieses Stahls zu den eigenen Fabriken. Zusätzlich müsste der Autotürenhersteller auch schätzen, welche Emissionen im Vertrieb anfallen: vom Transport der Autotür zum Kunden (dem Montagewerk) über die Fertigstellung des Autos und den Transport des Neuwagens zum Händler bis hin zum Betrieb des Wagens durch den Endkunden über vielleicht 15 Jahre hinweg.
Wer die Emissionen all dieser vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen schätzen will, wird fast zwangsläufig große Messfehler machen. Dies öffnet Verzerrungen und Manipulationen Tür und Tor, insbesondere bei Unternehmen mit langen, komplexen, internationalen Wertschöpfungsketten. Außerdem muss nach den Berichtsvorschriften für Scope 3 jedes Unternehmen in einer Wertschöpfungskette die Treibhausgasemissionen derselben Aktivität schätzen und vermelden. Das ist nicht nur ineffizient, sondern führt zum erwähnten Problem, dass die Emissionen mehrfach ausgewiesen werden – ein offensichtliches Manko für ein Bilanzierungssystem.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass viele Unternehmen die Scope-3-Emissionen in ihren ESG-Berichten komplett unter den Tisch fallen lassen. Das heißt allerdings auch, dass sie nicht nennenswert zur Verringerung der Gesamtemissionen in ihren Liefer- und Vertriebsketten beitragen. Und es entsteht ein System, das die Hauptverantwortung auf jene Zulieferer verlagert, deren Rohstoffabbau, Produktion und Vertrieb besonders viele Emissionen verursachen. Gleichzeitig spricht es jene Abnehmer und Verbraucher, die stark umweltschädliche Komponenten nutzen, von jeglicher Verantwortung frei.
Lösen lässt sich das Problem, indem wir uns die Kosten- und Finanzbuchhaltung zum Vorbild nehmen. Denn es ist eine grundlegende Aufgabe jedes Unternehmens, die Wertschöpfung zu berechnen – und wir können daraus lernen.
Nehmen wir unseren fiktiven Autotürenhersteller: Will er den von ihm geschaffenen Mehrwert berechnen, schätzt er nicht etwa alle Preise aller Unternehmen auf allen Stufen der Wertkette. Stattdessen erfasst jeder Hersteller nur, was er für die Waren und Dienstleistungen seiner direkten Lieferanten bezahlt und was er für seine Produkte von den direkten Kunden als Verkaufserlöse erhält.
Unterstellen wir der Einfachheit halber einmal, dass alle Materialtransfers innerhalb der Wertschöpfungskette von Stufe zu Stufe zu Selbstkosten erfolgen, ohne Gewinnspanne bei Verkauf und Übergabe. In diesem Fall umfassen die Anschaffungskosten des Autotürenherstellers die Gesamtkosten für den Rohstoffabbau durch ein Bergbauunternehmen am Anfang der Kette zuzüglich aller Ausgaben für Personal, Bearbeitung und indirekte Kosten, die auf den vorgelagerten Stufen entstehen – bis die Vorprodukte beim Türenhersteller landen.
Dieser addiert anschließend die eigenen Kosten hinzu – direkte wie indirekte – und erhält auf diese Weise die Gesamtkosten für die Herstellung einer Tür, die bis zu ihrem Verkauf und ihrer Auslieferung an ein Automontagewerk aufgelaufen sind. Dieser Prozess setzt sich entlang der Wertschöpfungskette immer weiter fort, bis am Ende ein Verbraucher das Auto kauft.
Genau dieses Prinzip lässt sich auch auf Treibhausgasemissionen anwenden.
Alle Emissionen überall erfassen
Die Wertschöpfungskette unseres Autotürenherstellers beginnt bei einem Bergbauunternehmen, sagen wir in Perth, Westaustralien, das die für eine Autotür notwendigen Rohstoffe Kokskohle und Eisenerz fördert. Dieses Unternehmen misst mittels chemischer und technischer Methoden all seine Scope-1-Emissionen, um diese dann – die Wissenschaft mit der Kostenrechnung kombinierend – auf die Tonnen von Kohle, Eisenerz und alle anderen Rohstoffe zu verteilen, die es in der jeweiligen Berichtsperiode gefördert hat. Dieser Schritt funktioniert ähnlich wie die Schätzung von Stückkosten im Rahmen eines normalen Activity Based Costing (dazu später mehr).
Das Ergebnis ist eine Schätzung der Treibhausgasemissionen pro Tonne der jeweils geförderten Rohstoffe. Während die Buchhaltung jedoch die monetären Kosten für die Produktion einer Tonne Rohstoff als Bestand und damit als Vermögenswert in der Bilanz ausweisen würde, erfassen wir die pro Fördertonne emittierten Treibhausgaseinheiten als E-Schulden (wobei E für das E in ESG steht, also Environmental). Dies spiegelt die Tatsache wider, dass es sich um ökologische Kosten handelt, die der gesamten Gesellschaft entstehen.
Übergibt die Bergbaufirma nun die Kohle und das Eisenerz einem Transportunternehmen, dann übernimmt dieses die E-Schulden der Bergbaufirma in seine eigene Umweltbuchhaltung (ähnlich wie es Vorprodukte im Rahmen der Finanzbuchhaltung als Bestände erfasst). Wenn das Bergbauunternehmen alle Rohstoffe, die es in einer Berichtsperiode fördert, an nachgelagerte Unternehmen wie den Transportdienstleister weitergibt, sind seine E-Schulden am Ende der Periode genauso hoch wie zu Beginn.
Während die Rohstoffe auf einem Massengutfrachter von Perth nach – sagen wir mal – Port Talbot in Wales unterwegs sind, erfasst die Reederei die beim Betrieb des Frachters anfallenden Treibhausgasemissionen im Rahmen ihrer Umweltbuchhaltung als zusätzliche E-Schulden. Mit einfachen Methoden der Kostenrechnung ordnet sie die gesamten E-Schulden des Frachters den an Bord befindlichen Rohstoffen zu.
Wenn die Reederei dann zum Beispiel in Port Talbot 38 Prozent des geladenen Eisenerzes und 6 Prozent der geladenen Kohle an einen Stahlhersteller übergibt, überträgt sie in ihrer E-Buchhaltung entsprechende Anteile der jeweiligen E-Schulden auf das Stahlunternehmen. Diesem "gehören" damit nicht nur die Rohstoffe selbst, sondern auch deren Verbindlichkeiten.
Mit seinen Hochöfen und Walzwerken verursacht das Stahlunternehmen bei der Herstellung von Stahlblech wieder eigene Scope-1-Emissionen. Die von ihm eingekauften und selbst verursachten E-Schulden ordnet es mithilfe des gleichen Bilanzierungsprozesses jeder Tonne Stahlblech zu, die es produziert. Übergibt es seinen Stahl dann einem Bahnbetreiber zum Weitertransport, trägt jede Tonne ihren Anteil der kumulierten E-Schulden, die in der Wertschöpfungskette bis zu diesem Punkt aufgelaufen sind – vom Bergwerk über alle Transporte bis hin zur Stahlproduktion.
Erreicht der Stahl einige Tage später den Wareneingang des Autotürenherstellers, etwa in Solihull in England, gehen die mit der Lieferung verbundenen E-Schulden – nun auch inklusive der anteiligen, nach Tonnen berechneten Emissionen für den Schienentransport von Port Talbot nach Solihull – auf den Türenhersteller über. Dieser Prozess setzt sich so lange fort, bis der Käufer des fertigen Autos ein Zertifikat über die Menge der Treibhausgase erhält, die bei der Herstellung und dem Transport seines Wagens insgesamt entstanden sind.
Manche Unternehmen entscheiden sich möglicherweise dafür, Treibhausgase direkt aus der Atmosphäre zu entfernen, zum Beispiel über die Abscheidung von CO2 oder über Wiederaufforstungsprojekte. In diesem Fall können sie – vorbehaltlich einer Prüfung – einen entsprechenden Betrag von ihren E-Schulden abziehen und so die Verbindlichkeiten verringern, die sie über die Vertriebskette bis zum Endkunden weiterreichen.
Emissionen auf Produkte verteilen
Das neue Bilanzierungssystem erfordert zwei grundlegende Schritte:
1. Unternehmen müssen die Netto-E-Schulden berechnen, die sie in einer Berichtsperiode nach Abzug eventueller Abhilfemaßnahmen verursacht haben, und diese zu den vorher aufgelaufenen, erworbenen E-Schulden addieren.
2. Diese E-Schulden müssen sie teilweise oder vollständig auf alle in der Berichtsperiode produzierten Einheiten umlegen.
Für den ersten Schritt, die Berechnung der selbst verursachten E-Schulden, können Umweltingenieure schätzen, wie hoch die mit den Hauptquellen des Unternehmens verbundenen Treibhausgasemissionen sind. Hier geht es etwa um das Verbrennen fossiler Brennstoffe für Strom, Wärme und Transporte, um die Herstellung von Metall, Zement, Glas und Chemikalien, in der Landwirtschaft um Emissionen bei der Viehzucht, Abholzung und Wiederaufforstungen sowie um die Abfallentsorgung.
Die Allokation im zweiten Schritt läuft genauso ab wie das Zuordnen von Gemeinkosten und anderen Kosten auf verschiedene Produkte und Leistungen im Rahmen des Activity Based Costing (ABC, siehe auch den Kasten oben "Wie sich E-Schulden den Produkten zuordnen lassen"). Angenommen, die Reederei befördert nur zwei Produkte von Perth nach Port Talbot: Kohle und Eisenerz. Die mit diesen Produkten verbundenen E-Schulden übernimmt die Reederei vom Bergbauunternehmen, berechnet pro Tonne. Da auch die Übergabe der Produkte an das Stahlwerk pro Tonne erfolgt, ist die Kostenrechnung simpel: Der Übertrag der E-Schulden erfolgt analog zum Übertrag von Kosten in einem ABC-System.
Natürlich entstehen durch den Transport von Perth nach Port Talbot zusätzliche Treibhausgasemissionen, die der Fracht ebenfalls zugeordnet werden müssen. Eisenerz besitzt allerdings eine höhere Dichte als Kokskohle, deshalb fallen die mit dem Transport verbundenen E-Schulden für die beiden Produkte unterschiedlich hoch aus. In einem Allokationsmodell nach dem Vorbild eines ABC-Systems lässt sich die exakte Zuteilung über Kostentreiber auf Basis von Gewicht, Volumen und Entfernung berechnen.
Genau wie physische Lagerbestände werden auch E-Schulden, die in einer Berichtsperiode erworben und verursacht, aber nicht an Kunden weitergereicht wurden, auf den Büchern gehalten, bis sie irgendwann in der Zukunft weitertransferiert werden. Diese buchhalterische Erfassung von E-Schulden ermöglicht es Unternehmen, Treibhausgasemissionen aus langfristigen Vermögenswerten wie Werken und Maschinen zu bilanzieren und über die Zeit abzuschreiben.
Installiert ein Stahlhersteller etwa einen Hochofen, übernimmt er Treibhausgasschulden, die unter anderem durch die Emissionen bei Produktion und Transport der Steine entstanden sind, die für die Auskleidung benötigt werden. Diese Treibhausgasschulden werden gewissermaßen – um im Buchhaltungsjargon zu bleiben – "aktiviert", der Stahlhersteller kann sie über die restliche Nutzungsdauer des Hochofens hinweg abschreiben. Ähnlich wie das Unternehmen in der Kostenrechnung die Kosten für Anschaffung und Installation des Hochofens auf die damit produzierten Produkte umlegt, weist es mit dem E-Schulden-System in jeder Berichtsperiode einen Teil der mit dem Hochofen verbundenen E-Schulden den Produkten zu, die in dieser Periode hergestellt werden.
Was Unternehmen ausweisen können
Mit den beiden beschriebenen Buchhaltungsschritten können Unternehmen den Bestand und die Veränderung ihrer E-Schulden ausweisen, genauso wie sie alles andere ausweisen (siehe Abbildung "Die E-Schulden-Rechnung"):
Lagerbestand zu Beginn einer Berichtsperiode
Jährliche Rohstoffkäufe
Produzierte Fertigerzeugnisse
Herstellungskosten
Lagerbestand zum Ende einer Berichtsperiode
Diese fünf Positionen entsprechen bei den E-Schulden den folgenden Posten:
Netto-E-Schulden zu Beginn einer Berichtsperiode
Erworbene E-Schulden
In der Periode verursachte Netto-E-Schulden
Weitergereichte (veräußerte) E-Schulden
Netto-E-Schulden zum Ende der Berichtsperiode
Manche Umweltschützer befürchten vielleicht, dass Unternehmen sich einer strengen Prüfung ihrer emissionsintensiven Aktivitäten entziehen können, wenn sie alle von ihnen verursachten Scope-1-Emissionen an ihre Kunden weiterreichen. Aber genau wie ein guter Buchprüfer oder eine gute Analystin nicht nur das Jahresergebnis anschaut, sondern auch andere Größen wie Herstellungskosten und Veränderungen der Lagerbestände bewertet, könnte ein Umweltanalyst anhand unserer E-Schulden-Buchhaltung detailliert nachvollziehen, wie viele E-Schulden ein Unternehmen übernommen, selbst verursacht und weitergegeben hat.
Die Vorteile von E-Schulden
Das Buchhaltungssystem für E-Schulden bietet eine Reihe von Vorteilen. Am wichtigsten ist, dass die Mehrfacherfassung von Scope-3-Emissionen entfällt, die das aktuelle Vorgehen auf Basis des GHG Protocol mit sich bringt. Darüber hinaus bietet das System weniger Anreize für Zahlenkosmetik und Manipulation. Ein Unternehmen kann nicht einfach seine Scope-1-Emissionen durch Auslagern der Produktion beseitigen und dann – wie es aktuell möglich ist – seine Scope-3-Emissionen unter Verweis auf hohe Messfehler oder den mangelnden Zugriff auf ferne Zulieferer und Kunden ignorieren. In dem Moment, in dem ein Unternehmen Produkte und Dienstleistungen kauft, erwirbt es im E-Schulden-System alle Treibhausgasemissionen, die in der Wertschöpfungskette bis zu diesem Punkt angefallen sind – und sei es bei einem Betrieb, den es kurz zuvor noch ausgelagert hat.
In diesem System bringt es auch nichts, die auf Kunden übertragenen E-Schulden bewusst niedriger auszuweisen, weil dadurch die im eigenen E-Schulden-Konto verbleibenden Netto-Emissionen immer weiter steigen. Dies würde darauf hindeuten, dass die Produktion des Unternehmens die Umwelt stärker belastet, als die Kunden bereit sind zu akzeptieren. Umgekehrt würden Unternehmen, die versuchen, ihr E-Schulden-Konto durch überhöhte Schuldentransfers an die Kunden zu entlasten, schnell auf Widerstand stoßen, weil die Kunden im Zweifelsfall lieber bei Lieferanten einkaufen, die die Umwelt weniger belasten.
Das System ermöglicht auch eine eigene Wesentlichkeitsschwelle. Einige der aktuell maßgeblichen ESG-Standards sehen vor, dass Unternehmen ökologische Aspekte offenlegen müssen, die ein erhebliches finanzielles Risiko darstellen. Umgekehrt ist es nach dieser Logik zulässig, wenn viele emissionsintensive Prozesse im ESG-Bericht nicht auftauchen, sofern sie keine wesentlichen Auswirkungen auf den Jahresabschluss des Unternehmens haben. In der E-Schulden-Buchhaltung lässt sich nun eine eigene Wesentlichkeitsschwelle für Treibhausgase festlegen, unabhängig von den finanziellen Auswirkungen.
Der letzte Vorteil, den wir hier nennen wollen, ist die Überprüfbarkeit. Die E-Schulden-Bilanz eines Unternehmens lässt sich genauso von externen Prüfern unter die Lupe nehmen wie der finanzielle Abschluss mit seinen Vermögenswerten und Verbindlichkeiten. Die externen Prüfer (idealerweise ein Team aus Umweltingenieuren und Kostenbuchhaltern) können die internen Treibhausgasmessungen und Allokationsmodelle des Unternehmens sowie seine Käufe und Transfers von E-Schulden verifizieren – insbesondere bei emissionsintensiven Produkten und Leistungen. Sie können auch den E-Schulden-Saldo zu Beginn und zum Ende einer Berichtsperiode vergleichen. Die Prüfer können zudem die Transaktionen der E-Schulden mit den entsprechenden Bewegungen in der Finanzbuchhaltung abgleichen: Fallen zum Beispiel die verbuchten E-Schulden – gemessen an den Veränderungen im Lagerbestand des überprüften Unternehmens – ungewöhnlich niedrig aus, gerade auch im Branchenvergleich, wäre dies ein Warnsignal.
Für das Akkumulieren und Weitergeben der E-Schulden von einer Produktionsstufe zur nächsten – angefangen beim ersten Schritt in der Wertschöpfungskette – lässt sich die Blockchain-Technologie einsetzen. Das senkt die Buchhaltungs- und Prüfungskosten im gesamten System. Blockchains sind besonders nützlich, um Scope-1-Emissionen auf jeder Wertschöpfungsstufe zu verzeichnen und dafür zu sorgen, dass die Summe aller E-Schulden-Transfers stets auch tatsächlich der Höhe aller E-Schulden in der Kette entspricht.
Dass das E-Schulden-System eine aufwendige Buchhaltung mit sich bringt, ist nicht zu befürchten, denn es kann auf der bestehenden Infrastruktur für Finanzberichterstattung und Kostenrechnung aufsetzen. Es verwendet einfach eine andere Maßeinheit: die Menge der Treibhausgasemissionen statt Zahlungsmittel und ihre Äquivalente.
Was andere damit anfangen können
Vor allem börsennotierte Unternehmen sehen sich durch Investoren und Analysten unter Druck gesetzt, Nachhaltigkeitsberichte zu veröffentlichen. Aber wenn nur solche Unternehmen Treibhausgasemissionen ausweisen müssten, würden einige womöglich ihre Börsennotierung aufgeben oder gar nicht erst an die Börse gehen, damit sie Umweltschäden weder messen noch offenlegen müssen. Deshalb sollten alle Unternehmen angehalten werden, ihre E-Schulden auszuweisen – auch große nicht börsennotierte Unternehmen wie Bechtel, Bosch, Cargill, Koch und Mars sowie Joint Ventures, Limited Partnerships und Unternehmen, die im Besitz von Wagniskapitalgebern oder Private-Equity-Gesellschaften sind. Nur sehr kleine Unternehmen mit vernachlässigbaren Mengen erworbener und selbst verursachter Treibhausgasemissionen sollten von der Berichtspflicht für E-Schulden ausgenommen werden.
Große privatwirtschaftliche Unternehmen sind aber nicht die einzigen Emissionshändler. Auch staatliche Unternehmen und Behörden der unterschiedlichsten Bereiche – von Verteidigung über Transport und Energie bis hin zum Gesundheitswesen – produzieren und verbrauchen tonnenweise Treibhausgasemissionen. Auch sie sollten E-Schulden-Berichte veröffentlichen.
Davon abgesehen könnten belastbare Emissionsberichte Banken und Investmentfonds dabei helfen, der Forderung nachzukommen, ihrerseits die Emissionen der Unternehmen in ihrem Portfolio offenzulegen. Standardsetzer wie die Task Force on Climate-Related Financial Disclosures des Finanzstabilitätsrats (Financial Stability Board, kurz FSB) haben Formeln für die Gewichtung unterschiedlicher Anlagewerte entwickelt und stützen sich dabei auf Merkmale wie die Art eines Wertpapiers (zum Beispiel Schuldtitel versus Eigentumsanteile) oder das Maß an Kontrolle, das die Investmentgesellschaft auf das jeweilige Unternehmen ausübt. Doch auch wenn solche Formeln nützlich sein können, bleibt die aktuelle Erfassung der zugrunde liegenden Umweltbelastungen – die Summe der Emissionen von Scope 1 bis 3 – aus den erläuterten Gründen unzureichend.
Das E-Schulden-System bietet eine zuverlässigere Methode, um die vom verwalteten Vermögen eines Fonds oder einer Investmentgesellschaft ausgehende Umweltverschmutzung zu berechnen: als gewichtete Summe der E-Schulden aller Portfoliounternehmen am Ende einer Berichtsperiode. Banken und Fonds hätten mit diesem System eine deutlich bessere Datengrundlage, um den ökologischen Fußabdruck ihrer Portfoliounternehmen zu beeinflussen und auszuweisen.
Die Emissionsbuchhaltung nach unserem E-Schulden-Modell verhindert die Pauschalverurteilung ganzer Branchen als "schmutzig", wie bei fossilen Brennstoffen oder Bergbau üblich. Es dürfte kaum zur Senkung der weltweiten Emissionen beitragen, wenn Investoren sich aus ethischen Gründen aus solchen Sektoren verabschieden, denn diese wären nicht so groß geworden, wenn ihre Produkte nicht im großen Umfang von vermeintlich "sauberen" Unternehmen (mit geringen Scope-1-Emissionen) genutzt würden.
Unser Ansatz berücksichtigt, dass Umweltverschmutzung in der Wirtschaft auf das Zusammenspiel vieler verschiedener Akteure zurückzuführen ist. Er ermutigt – unabhängig von der Branche – alle Unternehmen, Treibhausgasemissionen bei ihren Entscheidungen über Produktdesign, Beschaffung und Verkauf zu berücksichtigen.
Solange es noch keine neuen Meldevorschriften für den Ausweis von E-Schulden gibt, können große Unternehmen ihren Worten Taten folgen lassen – allen voran die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Erklärung des Business Roundtable über den "Purpose of a Corporation" von 2019. Sie könnten unser neues System freiwillig anwenden und von ihren Lieferanten und Kunden verlangen, es ihnen gleichzutun. Damit könnten sie sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, weil sie umweltbewussten Verbrauchern und Investoren signalisieren, dass sie die Treibhausgasemissionen in ihrer gesamten Wertschöpfungskette merklich und nachprüfbar reduzieren.
Ausgehend von E-Schulden-Berichten könnte die Macht der Marktkräfte – Angebot und Nachfrage sowie der Wettbewerb – dazu führen, dass sich Unternehmen wirklich nachprüfbar für den Klimaschutz einsetzen, statt mit geschönten ESG-Berichten nur Greenwashing zu betreiben.
Sollte der Staat zu der Auffassung kommen, dass die durch eine belastbare Umweltberichterstattung entfesselten Marktkräfte nicht ausreichen, um die Treibhausgasemissionen im angestrebten Ausmaß zu reduzieren, böte das E-Schulden-System die Datengrundlage und Infrastruktur für unterschiedliche CO2-basierte Besteuerungskonzepte.
Der Staat könnte sich zum Beispiel am Umsatzsteuersystem orientieren und die Differenz zwischen den weitergegebenen und den erworbenen E-Schulden eines Unternehmens besteuern. Unternehmen, die versuchen, die Steuer zu umgehen, indem sie die Herstellung besonders umweltbelastender Produkte an andere auslagern, müssten im Einkauf höchstwahrscheinlich höhere Preise bezahlen, weil die Hersteller der Produkte für die höheren Emissionssteuern, die der Staat ihnen abverlangt, entschädigt werden wollen. Denkbar wäre auch eine nach dem Modell der Kapitalertragsteuer erhobene Steuer. Diese wäre auf hohe E-Schulden-Bestände zu entrichten, auf denen Unternehmen sitzen bleiben, deren Kunden nicht bereit sind, Produkte aus besonders umweltschädlichen Herstellungsprozessen zu kaufen.
Eine dritte Option wäre die Besteuerung der gesamten E-Schulden, die in den von Verbrauchern erworbenen Produkten und Dienstleistungen stecken. Damit könnte das Umweltbewusstsein der Konsumentinnen und Konsumenten noch weiter erhöht werden. Geringverdiener könnten in diesem Modell mithilfe von CO2-Steuergutschriften entlastet werden.
Allerdings sind CO2-Steuern nicht unproblematisch. Eine Steuer, die nicht weltweit erhoben und durchgesetzt wird, könnte dazu führen, dass Unternehmen flüchten und ihre Aktivitäten in Länder ohne eine solche Abgabe verlagern.
Mit Verschmutzungszöllen gegen Einfuhren aus solchen Ländern vorzugehen wäre bei den geltenden internationalen Handelsvereinbarungen schwierig. Und eine globale CO2-Steuer scheint ein weit entferntes Ziel angesichts von geopolitischen Erwägungen und Schwierigkeiten bei der Durchsetzung. Zum Beispiel könnten staatliche Unternehmen solche Abgaben umgehen, insbesondere in Ländern mit wenig transparenten Rechtssystemen, die internationale Verträge bereits mit versteckten Subventionen für inländische Arbeitgeber untergraben.
Der schnellste Weg, die Treibhausgasemissionen systematisch zu senken, besteht vermutlich darin, Unternehmen über ein E-Schulden-Berichtswesen mit marktbasierten Maßnahmen zu besserem Klimaschutz zu bewegen.
Die Erfahrungen aus der breit angelegten Einführung einer E-Schulden-Buchhaltung könnten als Ausgangspunkt für ein umfassenderes ESG-Berichtswesen dienen. Natürlich lassen sich nicht alle ESG-Komponenten in einer einzigen Berichtslösung abbilden. Wie gesagt: ESG ist kein einheitliches Konzept. Aus Sicht der Berichterstattung haben E, S und G nur gemeinsam, dass es bei keinem Bereich um eine Finanzkennzahl geht. Und ein gemeinsames Berichts-, Bewertungs- und Investmentsystem für drei Bereiche zu entwickeln, die nur das verbindet, was sie nicht sind, ist wenig Erfolg versprechend.
Das Fehlen eines gemeinsamen Rahmens für die drei Bereiche kann bereits innerhalb eines einzelnen ESG-Berichts zu Widersprüchen führen. Angenommen, ein Unternehmen muss auf Druck der Stakeholder die CO2-Emissionen seines Fuhrparks reduzieren, der mit Verbrennungsmotoren betrieben wird. Das Unternehmen könnte auf Elektrofahrzeuge umstellen und damit seinen CO2-Fußabdruck senken. Aber was, wenn der Hersteller der Batterien für diese E-Autos Konfliktmineralien – Zinn, Tantal, Wolfram und Gold – verwendet, geschürft von zwangsverpflichteten Strafgefangenen?
Oder ein anderes Beispiel: Ein Unternehmen steht in der Kritik, und seine Wertpapiere werden aus Portfolios ausgeschlossen, weil seine ESG-Berichte eine hohe Zahl an Arbeitsunfällen zeigen. Das Unternehmen setzt in der Folge verstärkt auf Automatisierung und Auslagerung seiner Tätigkeiten und weist im Jahr darauf deutlich weniger Arbeitsunfälle aus. Aber was ist mit der nicht erfassten Zahl der damit einhergehenden Stellenstreichungen – und mit den wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Standortgemeinden und Lieferanten?
Manche Befürworter von ESG-Berichten fordern nicht nur eine qualitative Offenlegung, sondern auch, dass der monetäre Wert der ESG-Komponenten zwecks Aufnahme in die Gewinn- und Verlustrechnung geschätzt wird. So lasse sich ein viel umfassenderes Bild vom wahren Gewinn eines Unternehmens machen, argumentieren sie. Doch es ist erheblich schwieriger, den Wert von ESG-Komponenten wie Arbeitspraktiken, Diversität in der Belegschaft und guter Unternehmensführung zu berechnen, als in der herkömmlichen Finanzbuchhaltung Zuwächse auf Basis künftiger Zahlungsströme abzuschätzen.
Manche Buchhalter versuchen auch seit Jahrzehnten, das Personal in die Bilanz eines Unternehmens aufzunehmen, um die viel bemühte Managementfloskel "Die Mitarbeiter sind unser größtes Kapital" in Zahlen zu gießen. Diese Bemühungen sind bislang immer gescheitert. Entweder waren die Kennzahlen für den Wert der Beschäftigten irrelevant (etwa die typischen Ausgaben für das Einstellen und Schulen des Personals) oder subjektiv und nicht nachprüfbar.
Noch schwieriger, wenn nicht unmöglich, wäre es, eine Formel für den aggregierten Wert der unterschiedlichen ESG-Komponenten zu finden. Dafür wären allgemein anerkannte ethische Regeln für den Umgang mit den bereits angedeuteten Zielkonflikten zwischen den Komponenten erforderlich. Indem ESG-Befürworter völlig unterschiedliche nicht finanzielle Bereiche als homogenes Konzept behandeln, stehen sie wahrscheinlich sogar grundlegenden, konsequenten Überlegungen darüber im Weg, wie sich die einzelnen ESG-Komponenten am sinnvollsten erfassen und offenlegen lassen.
Wie lässt sich die ESG-Berichterstattung also voranbringen? Wir schlagen vor, mit ein paar wichtigen Aspekten zu beginnen, bei denen weitgehend Einigkeit darüber herrscht, was "gute" und was "schlechte" Ergebnisse sind, und die wir bereits hinreichend erfassen können. Von den drei ESG-Komponenten eignet sich das E für "Environmental" am besten für eine Berichterstattung nach rigorosen, klaren Regeln. Denn welche Mengen an Gasen, Feststoffen und Flüssigkeiten ein Unternehmen verbraucht und produziert, lässt sich objektiv physisch messen. Das ist eine gute Nachricht, denn damit ist die am leichtesten zu messende Komponente auch die, bei der es um die aktuell größte Bedrohung für die Menschheit geht.
Das "Soziale" eines Unternehmens – das S in ESG – eignet sich ebenfalls für den hier vorgestellten Ansatz, wenngleich die Berichterstattung hierüber eine weitaus größere Herausforderung darstellt. Die Meinungen, was ein wünschenswertes und was unerwünschtes Verhalten von Unternehmen darstellt, gehen dann doch weiter auseinander.
Wie bei den Treibhausgasemissionen können wir zunächst bei jenen negativen sozialen Auswirkungen unternehmerischen Handelns beginnen, die nach Meinung nahezu aller Menschen eingedämmt oder beseitigt werden sollten: zum Beispiel unsichere Arbeitsbedingungen, Kinder- und Sklavenarbeit, Bestechung und Korruption. Obwohl fast die ganze Welt diese Praktiken verurteilt, gibt es dennoch viele Unternehmen, die sie innerhalb ihrer globalen Lieferkette weiterhin stillschweigend akzeptieren. Ein S-Schulden-Berichtswesen, das solche Praktiken in den Wertschöpfungsketten erfasst, könnte Unternehmen und Verbraucher motivieren, sie aktiver zu unterbinden.
Der Aspekt "Governance" wirft innerhalb des ESG-Modells die größten Probleme auf. Governance ist kein Ergebnis, sondern ein Prozess. Wertvoll ist gute Unternehmensführung nur dann, wenn sie zu besseren finanziellen, ökologischen oder gesellschaftlichen Ergebnissen führt. Bis die Streiter für Good Governance sinnvolle Messgrößen für solche Ergebnisse entwickelt haben, sollten Unternehmen das Thema Governance unserer Meinung nach so behandeln wie die internen Kontrollen gemäß der Sarbanes-Oxley-Regulierung: mit qualitativen Offenlegungen und Audits, bei denen externe Prüfer kontrollieren, ob und wie gut ein Unternehmen die Regulierungsstandards einhält.
Mit unserer Konzentration auf Treibhausgasemissionen wollen wir anderen ökologischen Problemen – etwa der Verschmutzung von Boden und Wasser oder der Zerstörung der biologischen Vielfalt – keineswegs die Relevanz absprechen. Ebenso wenig wollen wir den Nutzen leugnen, den eine Verbesserung der sozialen Aspekte und der Unternehmensführung bringt. Wir empfehlen nur eine Konzentration auf das, was wir jetzt schon gut umsetzen können und müssen: Treibhausgasemissionen besser zu erfassen und offenzulegen – auf integrierte, umfassende und überprüfbare Weise. Was wir aus der Umsetzung lernen, kann später als Vorlage dienen, andere ökologische und soziale Folgen unternehmerischen Handelns zu erfassen und offenzulegen. © HBP 2022
Die Autoren
Robert S. Kaplan ist Senior Fellow und emeritierter Professor für Leadership Development an der Harvard Business School. Er hat die Konzepte der Balanced Scorecard und des Activity Based Costing mitentwickelt.
Karthik Ramanna ist Professor für Business and Public Policy an der Blavatnik School of Government der Universität von Oxford.
Kompakt
Das Problem Der Klimawandel ist eine existenzielle Bedrohung für uns alle. Dennoch kommt die Wirtschaft beim Abbau ihrer Treibhausgasemissionen nur langsam voran – obwohl Unternehmen viel Zeit und Energie auf ihre ESG-Berichte verwenden.
Die Ursache Das GHG Protocol, auf dessen Grundlage mehr als 90 Prozent der "Fortune-500"- Unternehmen ihre ESG-Berichte erstellen, hat gravierende buchhalterische Schwächen, die ein falsches Bild zeichnen.
Die Lösung Ein alternatives, umfassendes System auf Basis bewährter Buchhaltungsmethoden macht es möglich, Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette eines Unternehmens zu erfassen und weiter-zugeben. Das von den Autoren entwickelte E-Schulden-System hat erhebliche Vorteile für Unternehmen und Gesellschaft.
Dieser Artikel erschien erstmals in der April-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
