Tschüss, Deutschland! Sechs Auswanderer erzählen von ihrem neuen Leben in der Schweiz
Ein neuer Job, besseres Gehalt und mehr Wohnraum: Hier erklären Deutsche, warum es sie in die Alpenrepublik zieht – und was die Schweiz so besonders für sie macht.
**Berlin.**Rund 1,1 Millionen Deutsche haben ihren Wohnsitz im europäischen Ausland, wie Statistiken der Europäischen Union zeigen. Die meisten davon, mehr als 300.000, leben in der Schweiz. Während die Zahl der Deutschen mit Wohnsitz in Spanien, Italien und Frankreich im vergangenen Jahrzehnt schrumpfte, ist sie in der Schweiz ununterbrochen gewachsen – um mehr als 55.000 binnen zehn Jahren.
Häufig nennen deutsche Auswanderer ein sehr viel höheres Gehalt als Grund für den Neuanfang im Nachbarland – und das trotz sehr viel höherer Lebenshaltungskosten. Dass das Bild der „reichen Schweizer“ kein Mythos ist, zeigt auch ein internationaler Ländervergleich zur Kaufkraft von der Weltbank.
Ausschlaggebend bei dem Vergleich ist dabei das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, bereinigt nach der Kaufkraft. Dieser Maßstab trägt dem Umstand Rechnung, dass die Preise für Güter und Dienstleistungen wie einen Restaurantbesuch oder die Miete in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind, ebenso wie das Durchschnittseinkommen.
So gelten 20 Schweizer Franken, also umgerechnet 20 Euro, für eine Pizza in einem Zürcher Restaurant als gewöhnlicher Preis. Dennoch belegt die Schweiz im internationalen Ranking der Weltbank den Platz 6. Deutschland hingegen liegt auf Platz 19.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Die Zahlen sind das Eine – aber was sagen Deutsche, die ihrem Heimatland für ein neues Leben in der Schweiz den Rücken kehren? Was macht die Alpenrepublik zum Sehnsuchtsort? Sechs Auswanderer berichten an dieser Stelle über ihre Beweggründe.
Johannes Neumann, 36, hat Stuttgart für Amriswil verlassen
„Der Gedanke zum Auswandern entstand vor ein paar Jahren. Meine Frau, meine drei Kinder und ich haben meine Schwiegermutter in Romanshorn, die seit 20 Jahren dort in der Schweiz lebt, immer wieder mal besucht. Der Ort liegt direkt am Bodensee. Dort haben wir uns sehr wohlgefühlt – es gab viel Natur, gute Luft und eine Menge Platz.
In Stuttgart war es quasi unmöglich, als Familie eine ausreichend große und bezahlbare Wohnung zu finden. Wir haben zu fünft in einer 70 Quadratmeter großen Wohnung gelebt. Für etwas Geräumigeres und annähernd Bezahlbares hätten wir schon sehr weit aus der Stadt herausfahren müssen, wo nicht mal mehr eine S-Bahn vorbeikommt. Da können wir ja gleich wegziehen, dachten wir uns.
Zudem gibt es bis heute mit dem Verkehrsprojekt Stuttgart 21 extrem viele Baustellen in der Stadt, was das Herumkommen deutlich erschwert – egal ob mit Bus, U-Bahn oder Auto. Um Parkplätze in Wohnortnähe zu finden, musste ich abends schon mal eine Viertelstunde um den Block fahren. Wegen der Kessellage ist die Luft in Stuttgart vom Feinstaub verdreckt – und die Hitze liegt im Sommer über der ganzen Stadt.
Als die Hebammenausbildung meiner Frau zu Ende ging und sie ihre selbständige Nebentätigkeit aufgab, fassten wir den Entschluss, Deutschland zu verlassen. Zunächst ging meine Frau vor. Dann kam die Pandemie und ich und die Kinder konnten wegen Reisebeschränkungen für eine Weile nicht nachziehen. Im Sommer 2020 ging es dann zum Glück rüber nach Amriswil, das ist etwa eine halbe Autostunde von Konstanz entfernt.
Hier zahlen wir für 150 Quadratmeter zwar eine wesentlich teurere Monatsmiete. Dafür verdienen meine Frau und ich in der Schweiz nun wesentlich mehr. Ich als ausgebildeter Erzieher und meine Frau als Hebamme hätten in Deutschland Vollzeit arbeiten müssen, um unser Leben zu finanzieren. Hier können wir einen Gang zurückschalten. Zudem kann ich als Tagesvater arbeiten – die Kinder kommen also direkt zu mir in die Wohnung und ich kann auch meine eigenen Kinder betreuen, während meine Frau im Dienst ist.
Dennoch muss man festhalten: In der Schweiz ist der Leistungsgedanke sehr stark und die Gesellschaft viel unerbittlicher als die Deutschen mit ihrem sehr viel großzügigeren Sozialstaat. Viele Menschen definieren sich hier über ihre Arbeit. Freizeitangebote gibt es aber genug. Wenn wir als Familie rauswollen, sind wir in zehn Autominuten am Bodensee oder für einen Tagesausflug auf schneebedeckten Bergen wie dem Säntis.
Mit der neu gewonnenen Zeit kann ich außerdem meinen Hobbys nachgehen: Musik machen zum Beispiel oder Fußball spielen bei einer Mannschaft in der Nähe. Es stimmt, die Menschen hier sind deutlich zurückhaltender und verschlossener als in Deutschland. Als Familie konnten wir dennoch Anschluss an die Region finden, indem wir immer wieder Gäste zu uns eingeladen und uns eine entspannte und offene Haltung bewahrt haben.“
Anne Albrecht, 32, hat Hamburg für Zürich verlassen
„Dass ich in die Schweiz ausgewandert bin, hat sich fast zufällig ergeben. In Hamburg habe ich vorher länger auf einer Intensivstation und in der Anästhesie als Krankenschwester gearbeitet. Irgendwann hatte ich die Nase voll von dem Job: Es frustrierte mich, während acht Stunden Arbeit kaum eine Pause machen und nichts essen zu können, weil so viel zu tun war – und das so gut wie jeden Tag.
Neben meinem Vollzeitjob habe ich zusätzlich noch auf 450€-Basis gearbeitet. Mit 25 Jahren fühlte ich mich durch die Arbeit bereits sehr körperlich erschöpft. Ich brauchte erstmal eine Auszeit und habe mich auf ein Work-and-Travel-Visum für Australien beworben – und bin danach fünf Monate auf dem Kontinent herumgereist und habe auch dort gearbeitet. Irgendwann war ich auch in Südostasien reisen, also in Thailand, Myanmar und Vietnam.
Während meiner Reise habe ich in die sozialen Medien geschaut und den Facebook-Post einer Freundin entdeckt, mit dem sie Pflegepersonal in die Schweiz rekrutieren wollte. Weil ich keine Lust mehr auf mein altes Leben hatte, dachte ich mir: ein neues Land ist gar keine so schlechte Idee. Bis dahin wusste ich auch nicht sonderlich viel über die Schweiz.
Ich habe alle benötigten Unterlagen eingeschickt. Wenig später haben wir einen Tag Probearbeit in einem Spital im Kanton Luzern organisiert. Es hat mir in der Schweiz gefallen – und im Dezember 2015 habe ich Hamburg verlassen und bin nach Zürich gezogen. Dort habe ich im Kanton Zürich einen neuen Job in der Pflege begonnen.
Es war keine Fließbandarbeit wie man sie in Deutschland kennt: So konnte ich immer wieder mit den Patienten für ein paar Minuten Gespräche führen, mir Zeit für sie nehmen. Das liegt auch am besseren Personalschlüssel und der höheren Qualität in der Pflege. Allerdings habe ich meine Anstellung in der Pflege nach drei Jahren verlassen – mit meiner Herkunft als Deutsche hatte ich in der Belegschaft unter anderem einen schweren Stand und litt unter Mobbing. Als Deutsche versteht man nämlich am Anfang kein Schweizerdeutsch, das kann im Notfall zum Verhängnis und Grund zum Lästern werden.
Nach mehreren Jobwechseln – Fluktuation in der Pflegebranche ist sehr üblich –, habe ich mich selbständig gemacht und betreibe eine Praxis für Darmgesundheit, wo ich die Schulmedizin mit der Naturheilkunde kombiniere. Die Bezahlung ist in der Schweiz wesentlich besser, in der Pflege lässt sich ein fast drei Mal so hohes Nettogehalt wie in Deutschland verdienen.
Ich kann mir hier mehr Dinge leisten wie zum Beispiel mehrwöchige Urlaube in Neuseeland, Peru oder auf den Seychellen – und das innerhalb eines Jahres. In Deutschland war ich quasi nie reisen außer für den Trip nach Australien auf den ich jahrelang gespart hatte. Dafür muss man sich aber in der Schweiz sehr gut absichern – denn wer krank wird, kann schnell zum Sozialfall werden. Zum Zahnarzt zu gehen ist zum Beispiel keine Kassenleistung und ist extrem teuer.
Vermissen tue ich gutes Vollkornbrot, Leberwurst und die direkte Art wie ich sie aus Hamburg kenne. Damit meine ich klare Ansagen. So zu sprechen, stößt viele Schweizer aber vor den Kopf. Ein klassisches Beispiel: Wer beim Bäcker steht und sagt: „Ich bekomme eine Brezel“, gilt bereits als extrem ruppig. Als ich meinem Partner sagte: „Wir müssen mal was besprechen“, dachte er, ich würde meine Sachen packen und ihn verlassen wollen.“
Martin Zeiske, 39 Jahre, verlässt München für Niederuzwil
„Drei Jahre lang haben meine Frau und ich überlegt, ob wir in die Schweiz auswandern sollen oder nicht. Wir haben festgestellt, dass die Vorteile eines Wegzugs aus München überwiegen – auch wenn die Stadt mit seinen vielen Parks und Freizeitmöglichkeiten sehr liebenswert ist.
Die Wohnung ist zu Ende April gekündigt, dann werden meine Schweizer Ehefrau, meine dreijährige Tochter und ich nach Niederuzwil nahe St. Gallen ziehen. Mehrere Gründe haben uns zu dieser Entscheidung bewegt: Zum einen konnten haben wir in München keine familiäre Unterstützung. Nach unserem Umzug werden die Schwiegereltern in St. Gallen dafür ihr Enkelkind öfter sehen können, was eine Entlastung für uns ist.
Zum anderen wurde das Leben als Familie in München immer beschwerlicher – das fängt bei den Mietpreisen an und hört bei der Verkehrspolitik auf. Unsere jetzige Wohnung im Domagkpark im Norden zum Beispiel ist 65 Quadratmeter groß, kostet 830 Euro warm und ist staatlich gefördert nach dem „München Modell“ – für mittlere Einkommen und Familien mit Kindern. Der neue Wohnberechtigungsschein begrenzte unsere dreiköpfige Familie auf eine Drei-Zimmer-Wohnung.
Zwar verdiene ich im Schnitt als IT-Administrator und Projektmanager überdurchschnittlich gut – aber in München kann ich mir mit dem Gehalt trotzdem nicht ohne Weiteres eine größere Wohnung auf dem regulären Wohnungsmarkt leisten.
In Niederuzwil hingegen kostet die Miete für eine 108 Quadratmeter große Wohnung zwar mehr als doppelt so viel – aber dafür ist auch das Gehalt in der Schweiz sehr viel besser. Ich werde einen Job annehmen ähnlich dem in München. Unterm Strich wird aber voraussichtlich viel mehr Gehalt übrigbleiben, werde ich meiner Tochter mehr bieten können und auch die Rente wesentlich besser ausfallen als in Deutschland.
Zudem schlug uns die Münchner Verkehrspolitik zunehmend quer. Als Familie ist das Auto für uns kein Luxusprodukt, sondern wir sind täglich darauf angewiesen – zum Beispiel für Großeinkäufe, Fahrten in die Schweiz, oder wenn wir zum Arzt fahren müssen. Jedoch gibt es kaum Anwohnerparkplätze in der Umgebung, Autofahrer sind von Stellplätzen in der Tiefgarage abhängig – die ebenfalls Geld kosten und rar gesät sind. Die Situation wird sich nicht bessern, weil zunehmend Parkplätze wegfallen und der Radverkehr zu Lasten des Autoverkehrs ausgebaut wird.
Vermissen werde ich die Parks und Eisdielen in München. Denn obwohl die Schweiz italienisch geprägt ist, muss man die Eisdielen in dem Land quasi mit der Lupe suchen. Der Umzug ist schon ein Sprung ins kalte Wasser, weil wir die Zelte in Deutschland komplett abbrechen und wir nicht einfach wieder zurückgehen können. Doch ich bin optimistisch, weil ich die Schweizer als sehr zuvorkommend und höflich empfunden habe. Außerdem haben wir mit den Schwiegereltern in der Nähe eine Art Starthilfe für unser neues Leben.“
Anja Kroll, 38, hat Köln für Uitikon-Waldegg verlassen
„Ich bin im September 2019 von Köln in die Schweiz ausgewandert, weil es ein tolles Jobangebot aus Zürich gab. Die Stelle war in der Unternehmensberatung – dabei konnte ich meine Erfahrungen aus meinem alten Job als Pressesprecherin in der Versicherungsbranche einbringen.
Es war eine relativ kurzfristige Entscheidung mit zwei Monaten Vorlauf. Ich hatte die Haltung: Wenn das nicht klappt mit der Schweiz, dann gehe ich einfach zurück. Aber erstmal will ich es ausprobieren. Mein Auslandssemester in Großbritannien lag bereits eine Weile zurück und ich hatte wieder den Drang, ins Ausland zu gehen.
Ein paar Monate ging es gut, dann kam die Corona-Pandemie. Messen, Konferenzen, Afterwork-Veranstaltungen fielen weg – und plötzlich war es fast unmöglich, sich in kurzer Zeit von null ein Business-Netzwerk als Beraterin aufzubauen. Das Netzwerk wäre der Schlüssel gewesen, um neue Kunden zu gewinnen.
Erst war ich in Kurzarbeit, dann kam die Kündigung weil es nicht mehr genügend Arbeit in der Beratung gab. Ich wollte in der Schweiz und meinem Zürcher Vorort Uitikon-Waldegg bleiben und musste schauen, wie es weitergeht – sonst hätte ich nach einer bestimmten Zeit nach Deutschland zurückkehren müssen. Drei Monate später startete ich meinen heutigen Job in der Kommunikationsabteilung eines großen Schweizer Industrieunternehmens mit Standorten in mehr als 20 Ländern.
In Deutschland war ich als Alleinstehende mit meinem Gehalt in der höchsten Steuerklasse und musste 42 Prozent Steuern zahlen. Es kam einer Bestrafung gleich, dass ich kinderlos und nicht verheiratet bin – das ist wahnsinnig antiquiert und auch ein Grund für meinen Wegzug in die Schweiz, wo die Steuerbelastung wesentlich geringer ist. Die Arbeit selbst findet in einem sehr internationalen Umfeld statt, was ich sehr schätze.
Trotz aller Vielfalt gibt es hin und wieder Vorurteile gegenüber Deutschen, zum Beispiel dass sie sehr direkt seien und besserwisserisch auftreten würden – was zu einem bestimmten Grad wohl auch stimmt. Außerdem sind die Schweizer sehr viel strikter bei Regelverstößen. Das Bußgeld fürs Überschreiten des Tempolimits kann sehr schnell einen vierstelligen Betrag oder wahlweise sogar mehrere Tage Gefängnisstrafe bedeuten.
Glücklicherweise hatte ich vor meiner Auswanderung bereits einige Freunde in der Schweiz und musste nicht bei null anfangen, was Beziehungen angeht. Und ich habe auch schnell ganz neue Hobbys für mich entdeckt: Skifahren, Hochtouren und andere Outdoor-Aktivitäten. Das ist ein fantastischer Ausgleich zu meinem fordernden Job.
Oft denke ich beim Wandern in den Bergen: Wow, ich stehe hier wirklich in einer Postkartenlandschaft. Im Kanton Schwyz gibt es zum Beispiel einen Gratwanderweg mit Aussicht auf den Vierwaldstättersee. Das Wasser dort strahlt wegen Mineralien und Gesteinen in einem türkisblau, es hat nahezu mediterranes Flair. An Orten wie diesen komme ich zur Ruhe. Ich habe die Landschaft sogar als Motiv genommen und mit Acryl auf einer Leinwand verewigt.“
Anna Münchow, 25, verlässt Leverkusen für Luzern
Als ich die Schweiz das erste Mal besucht habe, fühlte ich mich direkt wohl mit den Bergen und Seen in der Umgebung. Immer öfter bin ich ins Land gereist und war mit einer Freundin aus Zürich auf Wanderungen.
Am meisten hat mich die Jungfrau-Region begeistert – das ist im Berner Oberland zwischen dem Brienzer- und Thunersee. In der Nähe gibt es malerische Dörfer wie Mürren auf 1600 Metern Höhe, oder zum Beispiel das „Tal der 72 Wasserfälle“ in Lauterbrunnen. Die wichtigsten Orte wie Grindelwald sind mit Seil- oder Bergbahnen verbunden, aber auch mit dem Zug kann man gut herumreisen.
Diese Erfahrungen haben in den letzten eineinhalb Jahren meinen Wunsch verstärkt, mehr im Alpinsport aktiv zu werden – also regelmäßig Gipfel zu besteigen, über Gletscher zu wandern, Klettertouren zu machen oder Ski zu fahren. In Leverkusen, wo ich noch lebe – die Stadt liegt zwischen Köln und Düsseldorf –, geht das nicht. Das ist einer der Gründe, warum ich Deutschland verlasse.
Mindestens genau so wichtig ist aber auch: Seit ein paar Monaten bin ich sehr unglücklich auf der Arbeit. Ich bin Erzieherin in einem Kindergarten mit Zwei- bis Sechsjährigen. Es herrscht akuter Personalmangel, wie ich fast jeden Tag zu spüren bekomme. Im letzten Jahr haben uns viele Kolleginnen verlassen oder sind langfristig erkrankt – es ist nur noch die Hälfte der Belegschaft da, die eigentlich nötig wäre.
Wir kommen an unsere Belastungsgrenze, und pädagogische Arbeit ist kaum noch möglich. Ich will nicht nur betreuen und beaufsichtigen, sondern den Kindern auch Angebote machen können – je nachdem, ob sie sich bewegen oder auch mal ein kleines Experiment mit Wasser mitmachen möchten zum Beispiel. Oder dass man sich auch im Team zurückziehen kann, über das ein oder andere auffällige Kind spricht, und überlegt: Wie können wir dem Kind helfen, es fördern? All diese Dinge – Pädagogik eben –, fehlen bei meiner jetzigen Stelle in Deutschland.
Im vergangenen Sommer habe ich dann die Entscheidung gefällt, endgültig in die Schweiz auszuwandern. Dort ist das Betreuungssystem anders – Kindergärten gibt es nur bei privaten Trägern, alles ist ein wenig kleiner und mehr Personal gibt es auch. Ich habe mich auf Stellen in Zürich und Luzern beworben und bei beiden Stellen innerhalb einer Woche eine sofortige Zusage bekommen.
Am Ende habe ich mich für Luzern entschieden, weil ich einen harmonischeren Eindruck von dem Team hatte. Ich bekomme eine Vollzeit-Stelle als Gruppenleiterin, und kann endlich wieder einen pädagogischen Alltag mit Angeboten, Projekten und Ausflügen ausleben und meine Erfahrungen im situationsorientierten Ansatz einbringen. Ab Mai geht es los.
Freunde und Verwandte stehen ganz hinter meiner Entscheidung und freuen sich, dass ich mein Leben und meine Träume lebe. In Luzern werde ich ganz bei null anfangen, deshalb hoffe ich, in dem Land bald Kontakte knüpfen und Anschluss finden zu können. Vielleicht auch jemanden, mit dem ich meine Leidenschaft für die Berge teilen kann.
Andreas Kohl, 34, hat Malchin für den Aargau verlassen
„2009 hatte ich meinen Wehrdienst bereits geleistet und auch meine Lehre zum Hotelfachmann in Mecklenburg abgeschlossen. Danach wollte ich Auslandserfahrungen sammeln. Bei der Suche nach einer Saisonstelle habe ich ein Jobangebot in Österreich gefunden und eine Stelle in einem Schweizer Restaurant.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Da habe ich mich für Letzteres entschieden, weil ein Freund bereits in dem in dem Land arbeitete und Positives berichten konnte. So bin ich damals von Malchin nahe Rostock zunächst ins schweizerische Buchs im Kanton Aargau gezogen. Die Region liegt recht mittig zwischen Basel und Zürich und ist bekannt für Burgen, Schlösser und Thermalbäder.
In dem gehobenen Restaurant im Aargau wurde ich dann Chef de Service: ich habe Lehrlinge ausgebildet, Kellner koordiniert, Gäste bei der Weinauswahl beraten und tranchiert und filetiert. Eigentlich wollte ich nur sechs Monate in der Schweiz bleiben, aber ich hatte keinen wirklichen Grund, nach Deutschland zurückzukehren. Mein damaliger Lohn in Mecklenburg lag zum Beispiel gerade einmal bei 1300 Euro im Hotel. In der Schweiz hatte ich im selben Jahr bereits 4100 Franken verdient, heute wären das umgerechnet 4100 Euro.
Ich wechselte später vom Chef de Service in die Versicherungsbranche und beriet Kunden aus der Gastronomie. Seit 2014 arbeite ich im Verkauf für ein vom Coca-Cola-Konzern lizensiertes Unternehmen und übersehe dafür drei Kantone. Zu den Kunden gehören Restaurants, Cafés und Bars. Neben dem Gehalt ist auch der Lebensstandard hoch.
So sind zum Beispiel Wohnungen wegen des vermehrten Neubaus im Aargau viel besser als in Mecklenburg. Aktuell lebe ich in Ueken in einer 130 Quadratmeter großen Mietwohnung mit Terrassen auf zwei Seiten, elektronischen Lichtschaltern und Bodenheizung in allen Räumen. Die Küche ist zu meinem Glück als ehemaliger Gastronom modern und war beim Einzug mit dabei, zusammen mit Kochinsel, Induktionsherd, Abzugshaube, und einem Dampfgarer. Im Mai wird meine Frau, die als Ärztin in Friedrichshafen am Bodensee arbeitet, zu mir in die Wohnung ziehen.
Das Schöne an der Schweiz ist die überschaubare Größe und gleichzeitige Vielfalt des Landes: In wenigen Stunden kann man ins Tessin fahren, also in die italienische Schweiz, und dort das gute Wetter genießen. Wer skifahren oder wandern will, fährt in die Ostschweiz in die Berge. Ich nehme bei Ausflügen in die Bodenseeregion auch sehr gerne mein Fahrrad mit. Zuhause in meiner Wohngegend habe ich es nicht weit zu modernen Schwimmbädern und Kinos.
Zudem gehe ich mit Freunden und Bekannten immer wieder abends zum Essen und Trinken aus, was in Malchin eher selten der Fall war. Da wurden die Bordsteine quasi um 19 Uhr hochgeklappt. Zwar gibt es die Sorge vor deutschfeindlichen Schweizern, aber bislang habe ich keine negativen Erfahrungen gemacht.
Insgesamt habe ich die Schweizer als etwas reservierter erlebt als die Deutschen. Sie reden zum Beispiel sehr ungern über Themen wie die eigene Familie oder Finanzen. Dafür lässt sich mit ihnen eher über Politik und Weltanschauungen philosophieren, vor allem anlässlich der vielen Volksabstimmungen in der Schweiz und dem Verhältnis zur Europäischen Union.“
Dieser Artikel ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
