Premium

Recruiting: Die besten Talente finden

Arbeitgeber tun sich keinen Gefallen damit, Bewerbungen durch allzu viele Filter laufen zu lassen. So sortieren sie Kandidaten aus, die eigentlich gut geeignet wären. Eine Studie zeigt, wie Unternehmen Leute finden, die bislang durch alle Raster gefallen sind.

Das Phänomen nennt sich "Great Resignation", die "große Kündigungswelle": Fast 20 Millionen Amerikaner haben im Jahr 2021 ihren Job gekündigt, und der Trend breitet sich auch in Westeuropa, Asien und darüber hinaus aus. Doch während sich Arbeitgeber allerorten bemühen, offene Stellen zu besetzen, kämpfen Millionen fähige Bewerber darum, überhaupt berücksichtigt zu werden.

Warum diese Diskrepanz – und wie können Unternehmen sie überwinden?

Eine Studie der Harvard Business School (HBS) und der Strategieberatung Accenture zeigt einen Hauptgrund für die Kluft: Automatisierte Digitalplattformen, die nahezu überall bei Einstellungen eingesetzt werden, sortieren systematisch eine große Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern aus. Diese kämen durchausinfrage, würden ihre Lebensläufe jemals die Schreibtische der Personalverantwortlichen erreichen. Bewerberinnen und Bewerber mit unkonventionellem Hintergrund wie Betreuer, Veteranen, Eingewanderte, Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder ehemalige Strafgefangene laufen besonders Gefahr, von den Plattformen potenzieller Arbeitgeber aussortiert und somit "versteckt" zu werden.

Allein in den Vereinigten Staaten blieben mehr als 27 Millionen Arbeitskräfte auf diese Weise vor passenden Arbeitgebern verborgen, heißt es in der Studie. "Diese Menschen wollen arbeiten", sagt Joseph B. Fuller, Professor an der HBS und Mitautor der Studie. Einige von ihnen sind unterbeschäftigt oder arbeiten nur in Teilzeit, während andere gänzlich vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.

Die Forschenden hatten im Jahr 2020 gut 8700 "unsichtbare" Beschäftigte sowie 2275 Führungskräfte in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Deutschland befragt. Die wichtigste Erkenntnis laut Fuller: Der Ausschluss von so vielen Talenten durch technische Verfahren hat unbeabsichtigte Folgen. Zwar hatte der Aufstieg des Onlinerecruitings in den 1990er Jahren Arbeitgebern einen breiteren Zugang zu Bewerbern versprochen als traditionelle Methoden. Doch das Ergebnis war eine unbeherrschbare Flut an Bewerbungen. So kamen Anfang der 2010er Jahre auf jede Stellenausschreibung durchschnittlich 120 Zuschriften, Tendenz steigend. Schon bald setzten Arbeitgeber daher digitale Systeme ein, um die Bewerbungen nachzuverfolgen und zu verwalten.

Die Programme sollten vor allem helfen, die Menge der Bewerbungen zu reduzieren. Mithilfe von Filtern suchten sie jene Kandidaten heraus, die den Anforderungen der Stelle am ehesten entsprachen. Ihre Sortierarbeit war erfolgreich: Im Jahr 2020 führten Arbeitgeber in der Regel vier bis sechs Vorstellungsgespräche pro Ausschreibung aus einem durchschnittlichen Pool von 250 Bewerbungen.

Viele der dabei Ausgeschlossenen, argumentieren die Forschenden, könnten jedoch hochproduktive Arbeitskräfte sein, auch auf mittleren und hoch qualifizierten Positionen. Zwar kann ein Algorithmus alle aussortieren, die keinen Hochschulabschluss haben, vorbestraft sind, eine Beschäftigungslücke aufweisen oder nur über eine von mehreren sehr spezifischen Fähigkeiten verfügen. Doch "all das sind keine besonders guten Indikatoren für die Bewertung von Eignung, Arbeitsmoral und Selbstwirksamkeit", sagt Manjari Raman von der HBS, eine weitere Mitautorin der Studie. Sie ergänzt: Die "schleichende Zunahme von Qualifikationsnachweisen" verschärfe das Problem, da die Unternehmen im Laufe der Zeit immer strengere, differenziertere Anforderungen stellten.

Die von Raman und Kollegen befragten "unsichtbaren" Beschäftigten hatten sich in den vergangenen fünf Jahren auf durchschnittlich 25 Stellen beworben, oft ohne eine Antwort zu erhalten. "Ist es dann eine Überraschung, dass sie schließlich aufgeben?", fragt sie.

Heute, sagt Joseph B. Fuller, biete der angespannte Arbeitsmarkt Arbeitgebern jedoch die Chance, ihre Rekrutierungsstrategien zu überdenken. Der Rückgriff auf bisher ungenutzte Talentpools könne ein großes Unterfangen sein, doch Fuller hält es für durchaus machbar. "Unternehmen strengen sich oft sehr an, um ihre kommerziellen Lieferketten als Reaktion auf veränderte Marktbedingungen umzugestalten", heißt es in der Studie. "Aber nur wenige nutzen die grundlegenden Prinzipien des Lieferkettenmanagements – von der Erfassung von Daten über die Qualitätskontrolle von Lieferanten bis hin zur Zusammenarbeit mit Lieferanten, um anhaltende Probleme zu lösen – auch dafür, neue Talente einzustellen."

Das Vorgehen hat beträchtliche Vorteile: Unternehmen, die gezielt nach unsichtbaren Arbeitskräften suchen, haben in 36 Prozent der Fälle seltener Probleme mit Talent- und Qualifikationsdefiziten als andere. Zudem übertreffen diese Mitarbeitenden ihre Kolleginnen und Kollegen in sechs Schlüsselkriterien: Arbeitseinstellung und -moral, Produktivität, Arbeitsqualität, Engagement, Anwesenheit und Innovation. Weil sie so begeistert an die Arbeit gehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie kündigen, geringer als bei anderen. Dadurch sinken die mit Fluktuation verbundenen Kosten. Und weil viele von ihnen Frauen sind oder unterrepräsentierten Gruppen angehören, kann ihre Einstellung ein Unternehmen seinen Zielen bei Gleichstellung, Diversität und Inklusion näher bringen.

Viele große Unternehmen denken heute umfassender darüber nach, wie und wen sie einstellen. Der IT-Konzern IBM hat zum Beispiel den verpflichtenden Hochschulabschluss für viele Stellen abgeschafft. Und die Bank JPMorgan Chase fragt nicht mehr, ob Bewerber vorbestraft sind. Die Apothekenkette CVS Health stellt für das Einräumen ihrer Ladenregale auch neurodiverse Personen ein, also Menschen, die etwa an Autismus, Legasthenie oder AD(H)S leiden. Die US-Restaurantkette Hot Chicken Takeover beschäftigt in ihren Küchen Menschen, die nach Drogenmissbrauch mittlerweile clean sind. Und die Automobilhersteller VW, Daimler und Porsche beschäftigen Flüchtlinge für die Arbeit an ihren Fließbändern.

Was können Sie tun?

Arbeitgebern empfiehlt das Forschungsteam der Harvard Business School die folgenden Maßnahmen:

Ändern Sie die Maßstäbe. Unternehmen sollten kurzfristige Messgrößen für den Einstellungserfolg abschaffen, etwa Kosten und Zeit für die Besetzung freier Stellen. Stattdessen sollten sie längerfristige Messgrößen nutzen, etwa wie lange es dauert, bis neue Mitarbeiter sich eingearbeitet haben, wie lange sie bleiben und wie hoch ihre Beförderungsquote ist. Das sei schwieriger, als es sich anhört, sagt Fuller, denn in vielen Unternehmen sind die Personalabteilungen weit weg von den operativen Bereichen und folglich nicht daran gewöhnt, Leistungsmanagement- und andere Daten auszutauschen.

Kein Unternehmen sollte mehr in Stellenanzeigen nach „Rockstars“ oder „Ninjas“ suchen.

Analysieren Sie die Daten und formulieren Sie Stellenausschreibungen neu. Arbeitgeber sollten für jede Position Längsschnittdaten analysieren, um jene Eigenschaften zu identifizieren, die für einen langfristigen Erfolg notwendig sind. Beim Umformulieren der Stellenbeschreibungen sollten überflüssige Fähigkeiten und solche, die sich am Arbeitsplatz lernen lassen, ersatzlos wegfallen. Mit diesen Informationen können Arbeitgeber und Technologieanbieter gemeinsam sicherstellen, dass Bewerber nach den neuen Kriterien geprüft und eingestuft werden.

Die Arbeitgeber sollten anschließend Hypothesen aufstellen, in welchen bislang nicht erschlossenen Bereichen des Arbeitsmarktes sich die erforderlichen Eigenschaften am ehesten finden lassen. So haben beispielsweise Callcenter von der Einstellung älterer Arbeitnehmer profitiert, während Luft- und Raumfahrt- sowie Rüstungsunternehmen erfolgreich auf arbeitslose Ex-Soldaten zurückgreifen.

Unternehmen brauchen oft Hilfe, um mit den Menschen in den entsprechenden Segmenten des Arbeitsmarktes in Kontakt zu kommen. Für einige Gruppen, etwa ehemalige Soldaten, Migranten und ehemals Inhaftierte, können sich die Unternehmen an gemeinnützige Organisationen und Sozialunternehmer wenden. In jedem Fall sollten sie ihre Stellenausschreibungen so umfassend wie möglich formulieren. Entmutigender Fachjargon, übertriebene Superlative wie "Weltklasse" oder "Experte" sollten entfallen, da sie nachweislich Bewerberinnen und Minderheiten abschrecken. Auch Formulierungen, die vor allem Männer ansprechen, sind tabu – kein Unternehmen sollte in seinen Ausschreibungen mehr nach "Rockstars" oder "Ninjas" suchen.

Legen Sie mehr Gewicht auf Einarbeitung. Wer Mitarbeitende aus zuvor unsichtbaren Kandidatenpools beschäftigt, sollte dafür etwas höhere Einarbeitungskosten in Kauf nehmen. Ein standardisierter Ansatz beim Onboarding funktioniert bei diesen Beschäftigten oft nicht, da sie besondere Bedürfnisse, Stärken und Erfahrungslücken haben. Arbeitgeber müssen zudem sicherstellen, dass sie nicht ausgegrenzt werden. Dabei kann es helfen, wenn auch noch andere Kollegen als nur eine Recruitingmanagerin bei der Einarbeitung mithelfen oder wenn eine Führungskraft vor den Beschäftigten die Mythen entlarvt, die sich um "unsichtbare" Arbeitskräfte ranken.

"Die Maßnahmen, die den Weg für den Wiedereinstieg dieser Mitarbeitergruppen ebnen, sind weder exorbitant teuer noch außergewöhnlich", schlussfolgert das Forschungsteam. "Es geht um eine vernünftige Praxis, die dazu beiträgt, jegliche Arbeitnehmer zu gewinnen." Indem Unternehmen ihr Vorgehen optimierten, könnten sie alle möglichen Talente auf schnelle und clevere Weise anziehen. © HBP 2022

____________________________________________________________________________________

Unabhängig werden von den Entwicklungen am Arbeitsmarkt

Ernie DuPont findet Talente an ungewöhnlichen Orten. Der Senior Director für Personalentwicklung bei der US-Apothekenkette CVS Health arbeitet mit lokalen Behörden, kommunalen Gruppen und Nonprofits zusammen, um Arbeitskräfte zu rekrutieren, die von anderen Unternehmen übersehen werden.

Harvard Business manager: CEOs klagen über Arbeitskräftemangel, doch in den USA sind Millionen Menschen arbeitslos. Warum?

Ernie Dupont: Vielleicht suchen die Arbeitgeber nicht an den richtigen Stellen. Wir haben vor 20 Jahren die Entscheidung getroffen, Arbeitskräfte zu finden, die sonst übersehen worden wären. Eines unserer ersten Projekte war in Washington, D. C. Zusammen mit dem Bürgermeister identifizierten wir einen wirtschaftlich schwachen Bezirk. Dort richteten wir ein Karrierezentrum ein, zu dem auch eine Apothekenattrappe gehörte. Alle Interessenten sollten die Regale mit den Produkten und die Kassen sehen und verstehen, was die Arbeit bei CVS mit sich bringen würde. Inzwischen haben wir ähnliche Zentren im ganzen Land. Wir haben mehr als 120.000 Menschen eingestellt, die zuvor in irgendeiner Form von öffentlicher Unterstützung abhängig waren. Wir haben Initiativen zur Einstellung von ehemaligen Soldaten und älteren Arbeitnehmern. Mit 50 Übungsapotheken versuchen wir im ganzen Land, Menschen mit Behinderungen zu rekrutieren und auszubilden. Seit 2012 haben wir über diese Programme 4000 Leute eingestellt.

Hat sich das ausgezahlt?

Ja. Menschen, die über diese Initiativen zu uns kommen, sind oft viel länger beschäftigt als Arbeitnehmer, die wir über die üblichen Kanäle rekrutieren.

Was ist der Schlüssel zu Ihrem Erfolg?

Das Schlüsselelement sind unsere strategischen Partnerschaften mit Organisationen, die uns den Zugang zu diesen Arbeitskräften erleichtern. Wenn wir einen potenziellen Partner prüfen, versuchen wir, gemeinsame Ziele zu finden. So können wir Ergebnisse liefern, die für alle Beteiligten relevant sind. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass CVS Health in kommunale Einrichtungen investiert. In Pittsburgh, Pennsylvania, bieten wir zum Beispiel Ernährungsberatung und Gesundheitsleistungen wie Zahn- und Augenbehandlungen in unserem Karrierecenter an. Durch eine Partnerschaft mit einer örtlichen Kirche konnten wir unsere Initiativen ausweiten. Wir glauben, dass eine gesunde, florierende Gemeinschaft bessere Arbeitskräfte hervorbringt. Das passt zu unserer Mission als Gesundheitsunternehmen.

Die Studie von Accenture und der Harvard Business School konstatiert, dass Algorithmen bei der Lebenslaufprüfung gute Kandidaten aussortieren. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Das kommt vor. Wir haben deshalb im vergangenen Jahr einige Änderungen vorgenommen und die Ausbildungsansprüche bei einigen Stellen gesenkt.

Warum machen das andere Unternehmen nicht genauso?

Wir haben anderen geholfen, ähnlich unkonventionelle Einstellungsprogramme einzurichten wie wir, zum Beispiel dem Textildiscounter T.J. Maxx. Im Vorfeld sage ich dann den Führungskräften: "Sie müssen akzeptieren, dass Sie nicht sofort Ergebnisse erzielen." Ich erlebe immer wieder, dass Unternehmen Initiativen wie diese mit konventionellen, "experimentellen" Denkschemata bewerten: Wenn sie nicht sofort Resultate sehen, zucken sie mit den Schultern und ziehen weiter. Mein Rat ist, sich auf zwei oder drei Jahre festzulegen. Außerdem gilt: Der Erfolg des neuen Rekrutierungsverfahrens lässt sich nicht mit Kennzahlen wie Kosten und Zeit für die Besetzung von Stellen messen.

Welche Maßstäbe verwenden Sie?

Wir schauen vor allem auf die Qualität der Programme, auf die Beziehungen, die sich daraus ergeben, und auf die langfristigen Ergebnisse. Wir definieren Erfolg als den Aufbau und die Aufrechterhaltung einer stabilen Pipeline von Talenten, die unabhängig ist von den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Den Wert unseres Ansatzes stellen wir momentan unter Beweis.

Dieser Artikel erschien erstmals in der Juni-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.

Recruiting: Die besten Talente finden

Premium

Diese Inhalte sind für Premium-Mitglieder inklusive

Der Zugang zu diesem Artikel und zu vielen weiteren exklusiven Reportagen, ausführlichen Hintergrundberichten und E-Learning-Angeboten von ausgewählten Herausgebern ist Teil der Premium-Mitgliedschaft.

Premium freischalten

Harvard Business manager schreibt über Das Wissen der Besten.

Der Harvard Business Manager ist die erweiterte deutsche Ausgabe der US-Zeitschrift "Harvard Business Review" (HBR), des renommiertesten Managementmagazins der Welt. Die Redaktion ergänzt die besten Artikel aus der HBR um wichtige Forschungsergebnisse von Professoren europäischer Universitäten und Business Schools sowie um Texte deutschsprachiger Experten aus Beratungen und dem Management von Unternehmen. Unsere Autoren zählen zu den besten und bekanntesten Fachleuten auf ihrem Gebiet und haben ihre Erkenntnisse durch langjährige Studien und Berufspraxis erworben.

Artikelsammlung ansehen