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Berge statt Büro: Viele Menschen träumen von weitern Reisen, nehmen aber Urlaub selbst dann nicht, wenn es erlaubt ist
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Freizeit ohne Ende? So machen Unternehmen ihren Talenten das Leben schwer

Mit unbegrenzten Urlaubstagen locken junge Firmen Talente. Das Konzept verspricht Entspannung, verursacht bei Beschäftigten jedoch häufig das Gegenteil.

Tobias Felser könnte an jeden Ort der Welt reisen, wenn er nur wollte: ein monatelanger Roadtrip durch Australien, mit dem Kreuzfahrtschiff in die Karibik, den kompletten Jakobsweg entlangwandern. Oder alles hintereinander. Sein Arbeitgeber, ein Softwarekonzern, bietet ihm eine unbegrenzte Zahl an Urlaubstagen. Doch Felser steht sich selbst im Weg. „Zwei Wochen im Sommer, ein paar Tage um Weihnachten herum“, fasst er zusammen, was er im vergangenen Jahr aus der großen Freiheit gemacht hat. Viel weniger Urlaub als in den Jahren zuvor, als Felser noch bei anderen Unternehmen arbeitete und dort wie das Gros der deutschen Arbeitnehmer bis zum Ende des Jahres eine streng limitierte Zahl Urlaubstage verplanen musste. Die völlige Flexibilität hingegen sorgte bei Felser für „sozialen Druck“, wie er das beschreibt. Deshalb möchte er seinen wahren Namen auch nicht verraten. Statt sich auf die Auszeit zu freuen, plagte ihn bei der Urlaubsplanung stets ein „schlechtes Gefühl“ gegenüber den 20 Kollegen in seinem Team. An ihnen habe er sich als Neuling bei der Urlaubsplanung schließlich orientiert, sagt Felser, und sie hätten nur eine oder zwei Wochen im Jahr freigemacht. Wenn überhaupt. „Da wollte ich nicht andauernd fehlen und sie im Stich lassen.“

Burn-out statt Erholung

Mit diesem Gefühl ist der Entwickler nicht allein. Auf Onlineplattformen wie Reddit berichten Hunderte von ähnlichen Erfahrungen. Ihnen verlange die Regelung mehr Freiheit ab, als sie ihnen gebe, einige schreiben sogar über Burn-out. Entpuppt sich das Versprechen, das Unternehmen wie Netflix oder Dropbox ihrer Belegschaft geben, am Ende als hohles Versprechen? Diese Frage stellt sich auch in Deutschland immer dringender.

Vor allem junge Firmen wie die Bank Tomorrow und die Lebensmittelfirma Purefood aus Hamburg, das Münchner Mehrweg-Start-up Recup oder das Berliner PR-Unternehmen Getpress sehen in dem unbegrenzten Urlaubsanspruch offenbar ihre Chance, um die umworbenen Talente zu gewinnen – wenn sie bei den Gehältern schon nicht mit Großkonzernen mithalten können.

Jonathan Kurfess weiß um diese Gefahren und glaubt, ihnen vorbeugen zu können. Seit zehn Monaten bietet er den 150 Mitarbeitern seines Hamburger Marktforschungsunternehmens Appinio die Möglichkeit, so viel Urlaub zu nehmen, wie sie möchten. Aber: „Im Arbeitsvertrag sind mindestens 20 Urlaubstage vereinbart“, betont Kurfess. Der gesetzliche Mindestanspruch bei einer Fünftagewoche, eine Art Sicherheitsstufe. „Unsere Mitarbeiter werden von unserer Personalabteilung mit Nachdruck ermahnt, wenn sich im Laufe des Jahres abzeichnet, dass sie nicht auf diese 20 Urlaubstage kommen“, sagt er. Aktuell nimmt sich jeder im Schnitt knapp 30 Urlaubstage fürs Jahr. Dass sich die Belegschaft für das eigene Wohlbefinden also tatsächlich mal fünf, vielleicht sogar zehn Tage mehr Urlaub als in der Wirtschaft üblich nimmt, zeigt sich im Fall von Appinio nicht. Im bundesweiten Schnitt kamen Beschäftigte zuletzt auf gut 29 Urlaubstage.

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Was, wenn keiner mehr kommt?

Auch Kaja Keller, Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Gansel Rechtsanwälte, kennt Erfahrungen, wie sie Entwickler Felser gemacht hat. Sie weiß: Das Konzept, das keine Grenzen verspricht, stößt schnell an eben diese – wenn es keine klaren Regeln gibt. „Führungskräfte sollten unbedingt dafür sorgen, dass der soziale Druck nicht entsteht“, betont sie. Andererseits kann die Sache auch zulasten des Arbeitgebers kippen: Wenn den Mitarbeitern unbegrenzter Urlaub vertraglich zugesichert wurde, lässt sich das kaum zurückdrehen. Sollte also tatsächlich niemand mehr ins Büro kommen. Einzig mit Betriebsvereinbarungen ließen sich neue Regeln für alle Mitarbeiter formulieren, sagt Keller. Bloß: Dafür braucht es einen Betriebsrat, und diesen haben die wenigsten Start-ups. „Vertragsverhandlungen mit jedem einzelnen Mitarbeiter wären die Folge“, sagt Keller.

Dass die Sache mit dem unbegrenzten Urlaub bei Appinio bislang weder von der Belegschaft noch von der Geschäftsführung zum Schaden der anderen Seite ausgenutzt wird, dürfte vor allem daran liegen, dass es klare Spielregeln gibt. Und wohl auch daran, dass die Beschäftigten noch oft an einem gemeinsamen Standort zusammenkommen. Man kennt einander, man vertraut einander, man nutzt einander nicht aus. Ob das allerdings auch noch gelingt, wenn das Unternehmen weiter stark wachsen solle, muss sich noch zeigen.

Tobias Felser arbeitet bereits mit Tausenden Kollegen auf der ganzen Welt zusammen. Da trage niemand dafür Sorge, dass er ausreichend freimacht. 25 Tage stünden in seinem deutschen Arbeitsvertrag, sagt er. Die will er in diesem Jahr nehmen. Immerhin. Ob er in den nächsten Jahren mal die Grenzen austestet? Mal mehr Urlaub nimmt? „Vermutlich nicht.“

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