Darum sind Introvertierte genauso gute Führungskräfte
In sich gekehrte Menschen werden oft unterschätzt oder falsch verstanden. Dabei sind sie sehr gute Führungskräfte und haben stets ein offenes Ohr.
Bei der ersten Begegnung war es nicht leicht, mit dem Software-Entwickler Reto* ins Gespräch zu kommen. Zu lange waren die Gesprächspausen, einsilbig seine Antworten. Small Talk scheint nicht sein Ding zu sein.
Später arbeitete Reto an einem Projekt mit: Er verstand die Business-Prozesse und Bedürfnisse sofort. Die Applikation, die er darauf basierend entwickelte, wurde pünktlich fertig und funktionierte einwandfrei. Dieses überzeugende Ergebnis hatte man dem zugeknöpften Kollegen nicht zugetraut.
Der Systemspezialist Beat* kommt am liebsten bereits um sechs Uhr morgens zur Arbeit. Dann kann er zwei Stunden in Ruhe arbeiten, bevor es ihm ab acht Uhr im Grossraumbüro zu laut wird.
Beat wirkt verschlossen, Kaffee- und Mittagspausen in grösserer Runde vermeidet er. Nur diejenigen, die eng mit ihm zusammenarbeiten oder auf der Raucherterrasse mit ihm ins Gespräch kommen, entdecken den Menschen hinter der Fassade: ein kompetenter Fachspezialist und engagierter Familienvater.
Introversion galt lange als defizitär
Wenn man introvertierte Personen wie Reto und Beat nach ihrem Kommunikationsverhalten und dem ersten Eindruck beurteilt, kommen sie nicht besonders gut weg. Etwa ein Drittel aller Menschen ist eher introvertiert, aber längst nicht alle wirken so in sich gekehrt wie Reto und Beat. Viele haben extrovertierte Verhaltensweisen übernommen, um gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.
Jeder Mensch befindet sich irgendwo auf der Skala zwischen intro- und extrovertiert. Menschen in der Mitte, also die Ambivertierten, vereinen beide Eigenschaften. Als Merkmal gilt: Wer das Arbeiten im Homeoffice während des Corona-Lockdowns überwiegend positiv erlebt hat, ist vermutlich eher introvertiert.
Amerika als extrovertiertes Vorbild
Über viele Jahre hinweg wies die Introversion keinen guten Ruf auf. Aber warum? Eine Antwort liefert das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitspsychologie: Dort stehen beim Stichwort «Extraversion» Eigenschaften wie gesellig, aktiv, gesprächig, personenorientiert, herzlich, optimistisch und heiter. Introversion hingegen wird als Mangel an Extraversion beschrieben und galt als defizitäre Eigenschaft.
Mitunter prägte auch das amerikanische Vorbild diese Ansicht: Um im Land der unbegrenzten Möglichkeiten erfolgreich zu sein, ist es wichtiger als anderswo, sich selbst ins beste Licht zu rücken und rhetorisch dick aufzutragen.
Möglicherweise liegt das daran, dass selbstbewusste, risikofreudige und kommunikative Menschentypen – kurzum extrovertierte Leute – das Einwanderungsland USA mitgestalteten.
Sichern Sie sich jetzt das Digital-Abo für die Handelszeitung zum exklusiven Vorteilspreis!
Sympathikus und Parasympathikus
Erst in diesem Jahrhundert haben Wissenschafter festgestellt, dass die Unterschiede zwischen intro- und extrovertierten Menschen genetisch und physiologisch bedingt sind.
Wenn also in sich gekehrte Menschen versuchen, extrovertierter zu werden, geht es ihnen ähnlich wie einem Marathonläufer, der bei einem Hundertmeterlauf antritt – beide fühlen sich fehl am Platz. Um zu verstehen, wie anders die beiden Extreme ticken, muss man sich mit den unterschiedlichen Nervensystemen und Hirnfunktionen auseinandersetzen:
Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Teilsystemen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus ist auf Leistung und Aktivität ausgerichtet; er bereitet den Körper auf Anstrengungen, Angriff oder Flucht vor.
Bei extrovertierten Menschen ist der Sympathikus prägend. Im Gegensatz dazu werden introvertierte Menschen stärker durch den «Gegenspieler» Parasympathikus beeinflusst. Er sorgt für Entspannung, Erholung, einen sinkenden Herzschlag und für Ruhe.
Das Nervensystem und die Persönlichkeit
Extrovertierte Menschen sind für die Stimulationsverarbeitung bevorzugt ausgestattet: In ihren Hirnen ist der Bereich, in dem Sinneseindrücke ankommen und verwertet werden, deutlich stärker durchblutet als bei den Intros. Sie können deshalb viel leichter äussere Eindrücke aufnehmen und verarbeiten.
Bei introvertierten Menschen hingegen sind die vordere Grosshirnrinde und der vordere Thalamus besser durchblutet. Dort sind das Erinnern, Lernen, Planen und Problemlösen verortet. In sich gekehrte Menschen sind deshalb stärker mit der Verarbeitung innerer Vorgänge beschäftigt und haben daher eine geringere Kapazität für Sinneseindrücke von aussen.
Diese physiologischen Unterschiede liefern die Erklärung dafür, warum extro- und introvertierte Menschen oft sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben: Extros benötigen mehr Aktivitäten, Austausch und Stimulation für ihr energetisches Gleichgewicht, Intros hingegen brauchen Alleinzeit, um ihre Akkus wieder aufzuladen.
Dennoch können auch introvertierte Menschen in kommunikativen Berufen ihr Glück finden – als Verkäufer, Lehrerin, Politiker –, solange es ihnen gelingt, nach der Anstrengung runterzufahren und aufzutanken.
Was introvertierte Manager anders machen
Die promovierte Chemikerin Irmtraud Lang war mit ihrer extrovertierten Art im wissenschaftlichen Umfeld eher eine Ausnahme. Nach wenigen Jahren in der chemischen Industrie machte sie sich selbstständig als Personalvermittlerin für hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte im Life-Sciences-Bereich. Nach ihrer Erfahrung werden die ruhigeren und zurückhaltenderen Kandidatinnen und Kandidaten oft unterschätzt.
«Ich persönlich schätze die Eigenschaften introvertierter Menschen: wie sie zuhören können, ihr analytisches und strategisches Denken, ihre innere Ruhe, Detailorientierung und Ausdauer», zählt Irmtraud Lang auf und ergänzt: «Viele Führungsteams sind deshalb erfolgreich, weil sich ihre Mitglieder optimal ergänzen. Oft findet man zum Beispiel die Kombination aus extrovertiertem CEO und introvertiertem CFO vor.»
Wegen des fragwürdigen Ansehens der Introversion hielt sich lange Zeit hartnäckig die Vorstellung, eine ideale Führungskraft sei extrovertiert.
Persönlichkeiten wie Barack Obama, Bill Gates oder Angela Merkel haben uns eines Besseren belehrt – ebenso wie ein Experiment der Harvard Business School aus dem Jahr 2011: Adam Grant, Professor für Organisationspsychologie, und sein Team baten Studentengruppen, in kurzer Zeit möglichst viele T-Shirts zu falten.
Proaktive Teams brachten Vorschläge ein, diese Aufgabe auf kreative Weise zu erfüllen. Passive Teams hielten sich stärker an die Vorgaben der Führungsperson. Es zeigte sich, dass die passiven Teams bessere Leistungen unter der Anleitung einer extrovertierten Führungskraft erbrachten, während proaktive Teams die besten Ergebnisse in Kombination mit einer introvertierten Führung erzielten.
Introvertierte im Dialog und als Führungsperson
In Berufen, die noch von «Command and Control» geprägt sind, ist somit eine extrovertierte Führungskraft effektiver. Aber: Mit dem Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft werden Hierarchien flacher, und ein dominanter Führungsstil ist weniger wirksam.
Die komplexer werdende Arbeitswelt ist immer mehr darauf angewiesen, dass Menschen ihr Wissen teilen; dass sie innovativ und kreativ sind und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. In einer solchen Umgebung werden introvertierte Führungskräfte und solche, die ihr Verhalten gut anpassen können, erfolgreicher sein.
Vermutlich werden also Reto und Beat zwar den bevorstehenden Weihnachtsapéro früher verlassen als ihre Teamkollegen und -kolleginnen. Nicht, weil sie unsozial sind, sondern weil ihre Energie aufgebraucht ist. Ein Teamanlass eignet sich sowieso nicht dazu, eine zurückhaltende Person näher kennenzulernen.
Dafür wählt man lieber eine Begegnung zu zweit, am besten in einer reizarmen Umgebung ohne Ablenkungen. So öffnen sich auch der introvertierte Beat und Reto und erzählen mehr von sich selbst. Vor allem aber können die beiden auch richtig gut zuhören und haben als Führungspersonen immer ein offenes Ohr für interne Anliegen.
*Namen geändert
Unsere Abos finden Sie hier: https://fal.cn/Xing_HZ_Abo
Mit dem Digital-Abo von Handelszeitung und BILANZ werden Sie umfassend und kompetent über alle relevanten Aspekte der Schweizer Wirtschaft informiert
Weitere News aus Wirtschaft, Politik und Finanzen finden Sie hier: https://fal.cn/Xing_HZ_Home
