Wie Führungskräfte psychologische Sicherheit im Team etablieren
Sie können sich jedes Diversity-Programm sparen, wenn Sie nicht auch die Kultur im Team angehen. Psychologische Sicherheit ist die wichtigste Führungsaufgabe der Zukunft. Eine Anleitung.
Von Wolfgang Jenewein, Anna-Christina Leisin, Maximilian Strecker
Es geschah in einer der monatlichen unternehmensweiten Teambesprechungen. Eine Personalmitarbeiterin wollte drei neue Teammitglieder vorstellen. Doch einer der leitenden Manager winkte ab und sagte entschieden: „Nein, das machen wir jetzt nicht.“ Diese Reaktion führte zu großer Irritation in der gesamten Belegschaft. Am Ende der Besprechung versuchte ein Teamleiter erneut die Neuen vorzustellen, wurde jedoch mit scharfen Worten des Managers abgekanzelt: „Nein, jetzt nicht!“ Es herrschte Stille im Raum. Ein Gefühl der Verlegenheit machte sich breit. Daraufhin erklärte der Manager, dass am nächsten Tag ein hochrangiger Manager aus der Muttergesellschaft anwesend sei und er die Vorstellung dort vornehmen werde.
Die Mitarbeitenden sahen ihn ungläubig an. Nach der Besprechung äußerten einige im kleinen Kreis, dass sie es für falsch hielten, die Neuen nicht vorzustellen und sie sich für das Verhalten ihres Managers schämen würden. Sie hätten die Neuen einfach zweimal vorgestellt. Doch sie trauten sich nicht, dies ihm mitzuteilen – aus Angst „einen Kopf kürzer“ gemacht zu werden.
In dieser Situation wurde der Eindruck erweckt, als zähle lediglich die Meinung des Vorgesetzten – es wurde über Angst, Hierarchie und Macht geführt. Mitarbeitende trauten sich nicht, zu sagen und zu tun, was sie für richtig und wichtig erachten – aus Angst vor aggressiven Wutanfällen, Zurückweisungen, negativem Feedback, Demütigung und Schuldzuweisungen. Hier greift die sogenannte „Voice-Silence Calculation“, welche die Wissenschaftler James Detert und Amy Edmondson 2011 entwickelt haben. Bei dieser Risikoabschätzung vergleichen Personen den wahrgenommenen Nutzen mit den Kosten, die eigene Meinung zu äußern. Sie wägen ab, wer profitiert, wenn sie ihre Meinung sagen, wie schnell dieser Nutzen eintritt und wie sicher das Eintreten dieses Nutzens ist. Je nachdem, ob der Nutzen oder die Kosten überwiegen, entscheiden sie sich dafür, ihre Meinung zu sagen oder dagegen.
Die Mitarbeitenden aus diesem Beispiel entschieden sich fürs Schweigen – aus Angst vor persönlichen und negativen Konsequenzen. Eine solche negative Teamkultur wird nicht absichtlich kultiviert, sondern meist unbewusst. Sie hat dennoch gravierende Auswirkungen für die jeweiligen Unternehmen: Mitarbeitende reduzieren ihr Engagement – und zwar drastisch. Sie bringen sich weniger ein, leisten weniger und letztlich bleiben wichtige Innovationen aus. Dreh- und Angelpunkt ist das Verhalten der Führungskräfte, das entscheidenden Einfluss auf die Kultur hat.
Viele Unternehmen haben inzwischen erkannt, dass das Konzept von homogenen Teams – die standardisiert, kosteneffizient und profitabel arbeiten – nicht mehr zeitgemäß ist. In solchen Modellen agiert die Belegschaft irgendwann nur noch stromlinienförmig, was Kreativität und Innovationen hemmt.
In den vergangenen Jahren entstand aus diesem Mangel heraus die Tendenz, stärker auf heterogene Teams zu setzen und Menschen verschiedener Nationalitäten, Kulturen, Geschlechter und Expertisen zusammenzubringen. Doch die Vielfalt blieb größtenteils ungenutzt, immer wieder konzentrierten sich die Teams nur auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Das ist für Unternehmen und Mitarbeitende gleichermaßen unproduktiv wie unbefriedigend und führt häufig zu Diversity-Washing, wo Vielfalt allein Marketing- und Werbezwecken dienen soll.
Vielfalt ist der richtige Weg, um die Herausforderungen und Chancen unserer Zeit zu meistern. Doch sie muss bewusst angegangen werden. Entscheidend ist der Faktor der psychologischen Sicherheit, wie wir in unserer Forschung und Zusammenarbeit mit Managerinnen und Managern in den vergangenen sechs Jahren festgestellt haben (zur Forschung siehe Kasten „Die Methode“ unten). Es geht darum, ein Teamklima zu etablieren, in dem sich die Mitglieder sicher fühlen, sich verletzlich zeigen und gegenseitige Wertschätzung ausdrücken können. Erst diese Rahmenbedingungen ermöglichen, unterschiedliche Meinungen in einer Gruppe zu hören, kontrovers zu diskutieren und Entscheidungen gut informiert zu treffen. Individuelle Stärken, Expertise und Perspektiven werden genutzt – und dadurch die Leistung, das Engagement und die Innovationskraft im Team gesteigert. So kommen Unternehmen wie Mitarbeitende endlich in den Genuss der Vorteile einer diversen Zusammensetzung.
Vielfalt ist der richtige Weg, um die Herausforderungen und Chancen unserer Zeit zu meistern.
Forscher bei Google haben in einer internen Studie mit über 180 Teams herausgefunden, dass psychologische Sicherheit der wichtigste Faktor für High Performance ist. Das bedeutet, dass das Level an psychologischer Sicherheit im Team den entscheidenden Unterschied zwischen besonders erfolgreichen und weniger erfolgreichen Teams ausmacht.
Leider ist dieses Konzept in vielen Unternehmen noch größtenteils unbekannt oder wird gar missverstanden. Oft wird psychologische Sicherheit mit einer Wohlfühlatmosphäre gleichgesetzt, in welcher alle Teammitglieder stets der gleichen Meinung sein müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist auch keine Frage der Persönlichkeit, wie viele glauben.
Die Forschung der Wissenschaftlerinnen Amy Edmondson und Josephine P. Mogelof aus dem Jahr 2005 zeigt eindeutig, dass psychologische Sicherheit ein Teamklima meint, das alle Mitglieder gleichermaßen betrifft. Psychologische Sicherheit ist kein abstraktes Konstrukt, sondern wird in verschiedenen Situationen im Unternehmensalltag gebildet.
Wir sind davon überzeugt, dass die Entwicklung von psychologischer Sicherheit am Arbeitsplatz eine der zentralen Führungsaufgaben der kommenden Jahrzehnte sein wird. Hier gibt es einiges zu tun. Heute haben lediglich 30 Prozent aller Mitarbeitenden das Gefühl, ihre Meinung zähle bei der Arbeit, wie die globale Gallup-Studie von 2017 zeigt. Führungskräfte sollten sich fragen, welches Verhalten sie in ihren Teams fördern. Ihre Aufgabe ist, an einer Teamkultur mitzuwirken, in der sich Mitarbeitende trauen, ihre Meinung zu sagen, Ideen einzubringen und ehrlich miteinander zu diskutieren.
Durch unsere wissenschaftliche Forschung haben wir viele neue Stellhebel erarbeitet, die Führungskräften eine echte Hilfestellung geben können, psychologische Sicherheit in ihren Teams systematisch zu etablieren und zu kultivieren. Wir haben das Konzept der psychologischen Sicherheit im Detail analysiert und sind dabei auf zwei Dimensionen gestoßen. Auch das Geschlecht spielt eine bedeutende Rolle.
Aufbauend auf den Konzepten der Wissenschaftler Amy Edmondson (1999) sowie Neil Anderson und Michael West (1998) haben wir im Rahmen unserer quantitativen Studien mit über 100 Mitarbeitenden und Führungskräften aus internationalen Großkonzernen die Dimensionen der psychologischen Sicherheit untersucht. Dabei haben wir zwei Dimensionen identifiziert, die psychologische Sicherheit umfassen: erstens die im Team wahrgenommene Möglichkeit, Verletzlichkeit zeigen zu können, und zweitens die im Team wahrgenommene Wertschätzung.
Dimension 1: Verletzlichkeit kultivieren
Beginnen wir mit einem Negativbeispiel. Im Zuge des Abgasskandals beim Fahrzeughersteller VW berichteten führende Manager von einer ausgeprägten Angstkultur. Teammitglieder trauten sich nicht anzusprechen, dass sie die vorgegebenen Ziele nicht erreichen konnten. Sie hatten Angst, Dinge zu hinterfragen und Fehler zuzugeben. Verletzlichkeit wäre ihnen sicherlich als Schwäche ausgelegt worden. Druck und Angst gefährdeten in diesem Fall sogar den Fortbestand des Unternehmens.
Psychologische Sicherheit bedeutet im Kern, dass sich Mitarbeitende im Team verletzlich zeigen können, wie unsere Analysen zeigen. Dadurch fühlen sie sich in der Lage, über Probleme und schwierige Themen zu sprechen. Sie trauen sich, Risiken einzugehen und haben keine Angst, dass ihnen Fehler später angelastet werden. Je verletzlicher Menschen interagieren können, desto leichter fällt es ihnen, Kollegen und Kolleginnen um Hilfe zu bitten.
Auf der Basis unserer Forschungsstudien haben wir drei Strategien identifiziert, mit denen Führungskräfte die Fähigkeit zur Verletzlichkeit in ihren Teams positiv beeinflussen können.
1. Frauen in Führungspositionen
Wir empfehlen Unternehmen, mehr Frauen in Führungspositionen zu befördern. Unsere Befragungen von über 150 Führungskräften und Mitarbeitenden verdeutlichen, dass sowohl Männer als auch Frauen mangelnde psychologische Sicherheit in Teams darauf zurückführen, dass weibliche Führungskräfte unterrepräsentiert sind. Mehrere Befragte äußerten, dass es auf Führungspositionen stark an Diversität beziehungsweise an der weiblichen Perspektive fehle. Es wurde mehrfach kritisiert, dass die Führungsetage lediglich aus „älteren, weißen Männern“ bestehe und die wenigen Frauen, die es gebe, von ihren männlichen Kollegen nicht als Teil des „Männerklubs“ angesehen würden. Unsere Befragungen ergaben auch, dass eine geringe Anzahl an weiblichen Führungskräften dazu führt, dass Männer und Frauen sich seltener trauen, Verletzlichkeit im Team zu zeigen. Insbesondere Frauen würden ihre Meinung in einem männerdominierten Umfeld eher zurückhalten, weil es ihnen an Unterstützung fehle.
Weiblichen Führungskräften wird im Schnitt eine stärkere Teamorientierung und dadurch eine höhere Kompromissbereitschaft zugeschrieben, wie unsere Studien zeigen. Sie werden als wesentliche Chance gesehen, Siloverhalten in Unternehmen zu überwinden und das Wirgefühl zu stärken. Ein ausgeglichenes Verhältnis von Frauen und Männern in Führungspositionen stärkt die wahrgenommene Verletzlichkeit und somit die psychologische Sicherheit im Team.
Unsere Studien liefern zudem erste empirische Hinweise für Erklärungen für den positiven Einfluss von weiblichen Führungskräften auf psychologische Sicherheit (siehe Kasten „Unterschiede zwischen Frauen und Männern“ unten). So wurde Frauen im Vergleich zu Männern mehr Egostärke zugeschrieben.
Egostärke ist nicht zu verwechseln mit einem großen Ego, was in unserem Sprachgebrauch negativ konnotiert ist. Der Begriff bezeichnet vielmehr die Fähigkeit einer Person, ihre Identität und ihr Selbstgefühl aufrechtzuerhalten, auch angesichts von Stress und Konflikten. Menschen mit größerer Egostärke gehen Herausforderungen mit dem Gefühl an, dass sie ein Problem überwinden und dadurch sogar wachsen können. Sie sind nicht so stark auf Bestätigung von außen angewiesen wie Menschen mit geringerer Egostärke.
Im positiven Sinne zeigten Frauen in unserer Untersuchung mehr Egostärke, indem sie etwa eher bereit waren, Probleme rund um psychologische Sicherheit in ihrem Team zuzugeben und Herausforderungen in Bezug auf das Teamklima anzugehen. Umgekehrt hinderte eine geringere Egostärke einige männliche Führungskräfte daran, kulturelle Herausforderungen im Team einzuräumen.
2. Auf Egostärke achten
Wir haben beobachtet, dass Manager und Managerinnen mit mehr Egostärke eher dazu bereit sind, Herausforderungen im Team, eigene Fehler sowie persönliche Unwissenheit offen zuzugeben als jene mit geringerer Egostärke. Geringe Egostärke schien Manager daran zu hindern, eigene Fehler und Probleme rund um das Teamklima anzuerkennen. Ein Grund war die Angst, für die Teamprobleme verantwortlich gemacht zu werden, was ein schlechtes Licht auf sie werfen würde und potenziell negative persönliche Konsequenzen für die eigene Reputation oder Karriere bedeuten könnte.
Unsere konkrete Empfehlung lautet daher, Egostärke als persönliche Kompetenz beim Recruiting von Führungskräften und Mitarbeitenden sowie als Kriterium bei Beförderungen zu berücksichtigen. Eine Möglichkeit ist beispielsweise, in Bewerbungsgesprächen, Assessment-Centern oder Beförderungsgesprächen nach persönlichen Beispielen aus dem Führungsalltag zu fragen, bei welchen die Interviewten Egostärke demonstriert haben. Zusätzlich sollte neben der Selbsteinschätzung auch die Fremdeinschätzung erfolgen – Kollegen und Kolleginnen können hierfür sicher ein hilfreiches Feedback zur erlebten Egostärke geben.
3. Demut vorleben
In unseren Studien haben wir Demut als zentrale Kompetenz von Führungskräften identifiziert, um die wahrgenommene Fähigkeit zur Verletzlichkeit im Team zu stärken. Demut ist in dem Sinne zu verstehen, wie es auch der irische Schriftsteller Clive S. Lewis beschrieb: „Demut bedeutet nicht, weniger von sich selbst zu denken. Es bedeutet, weniger an sich selbst zu denken.“
Im Rahmen unserer Studien sind wir bei den Analysen auf drei unterschiedliche Aspekte von Demut gestoßen.
Demut durch Verfügbarkeit. Die Verfügbarkeit einer Führungskraft hat großen Einfluss darauf, wie verletzlich sich Teammitglieder zeigen können. Wenn Führungskräfte sich selbst als zu wichtig erachten, um verfügbar zu sein, trauen sich ihre Mitarbeitenden auch nicht, ihre Probleme anzusprechen, Fragen zu stellen oder schwierige Themen mit ihrem Chef oder ihrer Chefin zu diskutieren. Es fehlt die persönliche Nähe, um sich zu öffnen. Zum anderen entwickeln Teammitglieder das Gefühl, dass Vorgesetzte keine Zeit für ihre Themen haben, wenn ihre Chefs und Chefinnen nicht ansprechbar sind. Daher empfehlen wir Führungskräften, sich folgende Fragen zu stellen:
Inwiefern können meine Mitarbeitende auf mich zukommen?
Bin ich ausreichend verfügbar?
Wie viel Zeit eines Tages/einer Woche bin ich in Meetings eingespannt und wie viel Zeit bleibt für Vieraugengespräche mit Mitarbeitenden?
Für die konkrete Umsetzung im Führungsalltag empfehlen wir, bewusste Freiräume für Mitarbeitende zu schaffen und sie aktiv einzuladen, ganz gleich ob am Anfang oder am Ende eines Arbeitstages, an bestimmten Tagen in der Woche oder zu ausgewählten Zeiten. Dadurch signalisieren Führungskräfte, dass der Dialog gewünscht ist.
Demut durch Offenheit. In vielen der von uns untersuchten Teams konnten wir beobachten, dass Führungskräfte große Schwierigkeiten hatten, eigene Fehler zuzugeben. Viele Befragte erzählten, dass sie von Topmanagern noch nie den Satz gehört hätten: „Ja, das war mein Fehler.“
Unsere Analysen zeigen jedoch, dass die offen eingestandene eigene Fehlbarkeit der eigenen Führungskräfte ein entscheidender Hebel ist für die psychologische Sicherheit eines Teams. Nur wenn Führungskräfte als Vorbild wirken und eigene Fehler vor anderen offen zugeben, trauen sich Mitarbeitende, Risiken einzugehen, Probleme anzusprechen und Fehler einzuräumen. Fehler werden dann gemeinsam konstruktiv analysiert und gelöst.
Diese Haltung entspricht dem Growth Mindset, das die renommierte Wissenschaftlerin und Stanford Professorin Carol Dweck beschrieben hat. Wer mit einer solchen Geisteshaltung an die Arbeit geht, betrachtet Fähigkeiten als Resultat der persönlichen Entwicklung und Fehler als Möglichkeit, um zu lernen und zu wachsen – im Gegensatz zum Fixed Mindset, in dem Fähigkeiten eher als gegeben und unveränderbar gesehen werden.
Unsere Studienergebnisse zeigen, dass die Egostärke der Führungskräfte eine wichtige Rolle spielt für ihr Mindset und die gelebte Fehlerkultur: Wenn die Egostärke gering ist, werden Fehler nicht zugegeben, sondern man versucht über Wochen oder Monate, Kollegen oder Kolleginnen dafür verantwortlich zu machen. So wird die Energie nicht konstruktiv im Sinne der Problemlösung eingesetzt. In unseren Studien bewiesen interessanterweise Frauen mehr Egostärke als Männer und waren daher eher dazu in der Lage, eigene Fehler offen einzuräumen.
Demut durch Nichtwissen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bemängelten in unserer Studie, sie hätten noch nie erlebt, dass Führungskräfte zugeben, etwas nicht zu wissen. Stattdessen würden vor allem Manager denken, sie müssten auf jede Frage selbst eine Antwort liefern und dass es eine Schwäche sei, die Hilfe von anderen anzunehmen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Seine eigene Unwissenheit und Unsicherheit über einen Lösungsweg einzugestehen, hat einen positiven Einfluss auf die wahrgenommene Fähigkeit zur Verletzlichkeit und damit psychologische Sicherheit im Team.
Unsere Studien zeigen, dass sich Mitarbeitende Führungskräfte wünschen, die sich ihrer Expertise bewusst sind, aber gleichzeitig bereit, in anderen Bereichen von anderen zu lernen. Diese Lernbereitschaft wurde in unseren Studien vor allem weiblichen Führungskräften zugeschrieben.
Dimension 2: Wertschätzung kultivieren
Die zweite Dimension von psychologischer Sicherheit, die wir im Rahmen unserer Forschung identifiziert haben, ist die wahrgenommene Wertschätzung im Team. Hier geht es um drei zentrale Aspekte: um die wahrgenommene Wertschätzung von individuellen Fähigkeiten und Talenten; um die Wertschätzung von unterschiedlichen Meinungen sowie die Wertschätzung von Diversität im Team.
Psychologische Sicherheit bedeutet somit einerseits, dass individuelle Fähigkeiten und Stärken der Teammitglieder geschätzt und genutzt werden. Vielleicht hilft dabei das Bild der Marvel-Helden „Avengers“ – jeder Superheld, jede Superheldin bringt unterschiedliche, hilfreiche Fähigkeiten in das Team ein: der geniale Iron Man, der schnelle und mutige Captain America, der blitzerzeugende Thor, der übernatürlich starke Hulk sowie die gewiefte und agile Black Widow und viele mehr. Zum anderen werden in Teams mit hoher wahrgenommener Wertschätzung verschiedene Meinungen und Perspektiven anerkannt und integriert. Die Teammitglieder haben das Gefühl, dass die Meinungen aller im Team Gehör finden und nicht nur die Meinung der Chefin oder einzelner Lieblingskollegen zählt. Nicht zuletzt umfasst diese Dimension, dass Andersartigkeit auch wertgeschätzt wird und Menschen das Gefühl haben, sie können wirklich sie selbst bei der Arbeit sein.
Nachfolgend zwei weitere Stellhebel, mit denen die wahrgenommene Wertschätzung im Team gestärkt werden kann: die aktive Inklusion unterschiedlicher Meinungen und das Stärken von zwischenmenschlichen Beziehungen.
1. Verschiedene Meinungen zulassen
Was sich vielleicht trivial anhört, haben wir in unseren Studien als rares Führungsverhalten identifiziert. Zahlreiche Mitarbeitende erklärten, dass ihre Vorgesetzten nur wenig Interesse an anderen Meinungen hätten. Mehrere Befragte schilderten, dass zwar kompetente Mitarbeitende eingestellt würden, ihnen aber nicht zugehört werde und daher die diversen Fähigkeiten im Team nicht geschätzt würden. Unsere Studien decken auf, dass viele Führungskräfte den Eindruck vermitteln, sie seien als Einzige in der Lage, die Probleme zu lösen und auf jede Frage eine Antwort zu geben. Außerdem begründeten mehrere Befragte, dass Führungskräfte so daran gewöhnt seien, diejenigen zu sein, die als Erstes sprechen, dass sie oft in einen langen Monolog verfallen und dabei auch noch denken, sie würden dem Team einen Gefallen tun. Ein solches Verhalten – ob bewusst oder unbewusst – verhindert jedoch die Entwicklung hin zu einem inklusiven Team, in dem Mitarbeitende offen ihre Perspektive einbringen.
Unsere Analysen zeigen auch, dass erneut die Egostärke von Führungskräften großen Einfluss hat. Mehr Egostärke ermöglicht Führungskräften Demut – die es ihnen wiederum ermöglicht, nach den Meinungen und Ideen ihrer Kolleginnen und Kollegen zu fragen, zuzuhören und Wertschätzung zu zeigen. Bei Führungskräften mit geringer Egostärke gelingt dies weniger gut, weil ihr Bedürfnis nach Selbsterhöhung und Allwissenheit dominiert. In unseren Studien wurden auch hier Unterschiede zwischen Frauen und Männern ersichtlich: Weibliche Führungskräfte zeigten auch in diesem Punkt mehr Egostärke als Männer – sie fragten andere aktiver und regelmäßiger nach ihren Meinungen und Ansichten.
Zudem wurde in unseren Interviews teilweise eine mangelnde Offenheit und fehlender Respekt von männlichen Führungskräften für die Meinungen weiblicher, jüngerer Führungskräfte offenbart. Die befragten Mitarbeitenden schilderten, dass weibliche Führungskräfte von ihren männlichen Kollegen teilweise nicht als gleichwertig behandelt und oft nicht wirklich ernst genommen würden.
Für die konkrete Umsetzung im Führungsalltag empfehlen wir Managerinnen sowie insbesondere Managern, häufiger aktiv nach den Meinungen und Ideen ihrer Mitarbeitenden und Kolleginnen zu fragen. Was ist deine Meinung? Was denkst du? Selbstverständlich wird eine solche Verhaltensänderung mit Anlaufschwierigkeiten verbunden sein, zum Beispiel wenn es das Team nicht gewohnt ist, rege an der Diskussion mit ihren Vorgesetzten teilzunehmen.
Ermutigen Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre Meinungen zu sagen und Fragen zu stellen. Zeigen Sie ihnen, dass Sie sich für ihre Perspektive interessieren. Sie können auch bewusst Teammitglieder ansprechen, die bislang einen eher geringen Redeanteil in Besprechungen hatten, um auch von deren Perspektiven und Erfahrungen zu profitieren. Fragen Sie offen nach, wer zu einer gewissen Fragestellung Erfahrungen mitbringt oder neue Lösungsvorschläge hat. Stellen Sie dabei klar, dass auch Ideen vorgebracht werden dürfen, die ungewöhnlich oder zunächst unpassend erscheinen.
Machen Sie Ihren Teams klar, dass diverse Ideen, Perspektiven und Fragen willkommen sind. Nehmen Sie sich in den nächsten Besprechungen zurück und profitieren Sie von der Kraft der Vielfalt Ihres Teams.
2. Beziehungen stärken
Investieren Sie Zeit in die Beziehungen zu Ihren Mitarbeitenden. Unsere Studien zeigen, dass zwischenmenschliche Nähe zu mehr Offenheit und Respekt für die Perspektiven und Meinungen anderer führt und unterschiedliche Fähigkeiten von Teammitgliedern so besser erkannt, eingesetzt und geschätzt werden können. Wenn Sie in die zwischenmenschlichen Beziehungen zu Ihren Teammitgliedern investieren und sie aktiv nach ihren Meinungen fragen, stärken Sie das Gefühl, dass verschiedene Meinungen in Ihrem Team Gehör finden, dass niemand für Diversität abgelehnt, sondern im Gegenteil wertgeschätzt wird. So können Sie auch von den individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen Ihrer Teammitglieder profitieren.
Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben die Gefühle der Angst und der Unsicherheit von Mitarbeitenden verstärkt. Einige der Gründe dafür liegen in der weltweiten Covid-19-Pandemie, politischer Instabilität, technologischer Disruption, Machtmissbrauch durch Vorgesetzte (#MeToo) sowie Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Hautfarbe. Wir befinden uns in Zeiten der Transformation, in denen es sich Unternehmen nicht leisten können, stehen zu bleiben. Es braucht Hochleistung und Innovation sowie Mitarbeitende, die sich einbringen und Verantwortung übernehmen.
Die Potenziale der Diversität müssen endlich entfaltet werden. Das Ziel sind inklusive Teams, in welchen diverse Ideen, Meinungen und Fähigkeiten genutzt werden. Unsere Forschung zeigt, dass solche Teams durch psychologische Sicherheit gebildet werden können. Es geht darum, ein Klima zu kultivieren, in dem sich die Mitglieder sicher fühlen, sich verletzlich zu zeigen, und gegenseitige Wertschätzung spüren. Das wird nicht nur zu mehr Zufriedenheit und Engagement in Ihrem Unternehmen führen, sondern auch Lernen, Innovation und Hochleistung ermöglichen. Es ist an der Zeit, die in vielen Unternehmen kultivierte Angstkultur zu überwinden, um die Potenziale von Diversität zu nutzen. Psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz systematisch zu entwickeln ist die zentrale Führungsaufgabe der Zukunft. © HBm 2022
Die Methode
Wie können Führungskräfte ein psychologisch sicheres Umfeld für Innovation, Lernen und Leistung fördern? Wolfgang Jenewein, Anna-Christina Leisin und Maximilian Strecker haben zu diesem Thema an der Universität St. Gallen über sechs Jahre lang geforscht.
Die Studien wurden in internationalen Großkonzernen in Deutschland und in Tochterunternehmen in den Vereinigten Staaten durchgeführt. Durch das tiefe Eintauchen in den Unternehmenskontext, war es dem Autorenteam möglich, Vertrauensbeziehungen mit den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern aufzubauen. Dieses Vertrauen ermöglichte tiefe Einblicke und Erkenntnisse zu sensiblen Aspekten, die durch die alleinige Anwendung klassischer Methoden eher verwehrt geblieben wären. Es wurden sowohl quantitative als auch qualitative Studien durchgeführt: Zunächst wurde mittels einer quantitativen Umfrage mit über 100 Mitarbeitenden und Führungskräften eine Bestandsaufnahme gemacht und das Level an psychologischer Sicherheit im Team gemessen. Weiter analysierte das Autorenteam Gruppenunterschiede in Bezug auf psychologische Sicherheit, zum Beispiel zwischen Geschlechtern. Darauf aufbauend wurden über 150 qualitative Gruppen- und Einzelinterviews mit Mitarbeitenden und Führungskräften geführt, um wesentliche Einflussfaktoren für psychologische Sicherheit zu identifizieren. Die qualitativen Feldbeobachtungen dienten dazu, die Erkenntnisse der quantitativen und qualitativen Methoden anzureichern.
Unterschiede zwischen Frauen und Männern
Das Autorenteam hat deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern festgestellt. In ihrer quantitativen Studie zeigten die Forscher, dass Frauen das Level an psychologischer Sicherheit im Team signifikant geringer bewerteten als Männer.
Auf Basis ihrer quantitativen Umfrage, der qualitativen Feldbeobachtungen sowie Gruppen- und Einzelinterviews lieferte das Forscherteam mögliche Erklärungen für die Geschlechterunterschiede. Zum einen gab es Hinweise darauf, dass Frauen sich psychologisch unsicherer fühlten als Männer. Dies kann generell der Fall sein oder auf den männerdominierten und technischen Unternehmenskontext zurückgeführt werden. Die Unterrepräsentanz von Frauen im Forschungskontext könnte ein Grund sein, warum Frauen seltener riskierten, sich verletzlich zu zeigen und sich weniger wertgeschätzt fühlten als Männer. Zum anderen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Frauen sich tatsächlich mehr trauten als Männer, Probleme rund um die psychologische Sicherheit im Team anzusprechen. Das heißt, eine Erklärung für die geringere Bewertung von psychologischer Sicherheit im Team durch Frauen als durch Männer ist, dass Frauen das Teamklima ehrlicher und deshalb negativer bewerteten als Männer. Diese Unterschiede konnte das Forscherteam zu Teilen durch mehr Egostärke von Frauen im positiven Sinne erklären. Sie ermöglichte es Frauen, Probleme der psychologischen Sicherheit im Team leichter zuzugeben.
Autoren
Wolfgang Jeneweinist Professor an der Universität St. Gallen und Direktor des dortigen Instituts für Mobilität. Er forscht zu Positive Leadership, High Performance und Führung von Change. Er coacht und berät Vorstände internationaler Konzerne sowie Teams im Hochleistungssport.
Anna-Christina Leisinist Geschäftsführerin von Syspilot Consulting. Sie coacht Topmanager und Topmanagerinnen im Rahmen groß angelegter Führungsentwicklungsprogramme in internationalen Konzernen. Sie forscht und publiziert zu den Themen Führung, Purpose und psychologische Sicherheit.
Maximilian Streckerist Geschäftsführer eines Großhandelsunternehmens. Er unterrichtet an der Executive School der Universität St. Gallen und ist Keynote Speaker zu den Themen Führung, Purpose und psychologische Sicherheit. Er coacht Topmanager und Topmanagerinnen und Hochleistungsteams im Sport.
Kompakt
Das Problem Viele Unternehmen haben Diversität in ihre Ziele aufgenommen und besetzen ihre Teams zunehmend mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Expertise oder Geschlechts. Doch nur selten entfalten diese ihr ganzes Potenzial. Auf Minderheiten lastet ein hoher Anpassungsdruck. Verschiedene Perspektiven und Kompetenzen bleiben weiter unberücksichtigt. Es fehlt die passende Teamkultur und psychologische Sicherheit, um inklusive Hochleistungsteams zu bilden und die Vorteile der Diversität voll auszunutzen.
Die Lösung Psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz systematisch zu entwickeln ist eine der zentralen Führungsaufgaben der kommenden Jahrzehnte. Das Ziel ist ein Teamklima, in dem ein ehrlicher und konstruktiver Diskurs von Teammitgliedern mit unterschiedlichen Meinungen möglich ist und diverse Fähigkeiten genutzt werden. Insbesondere Frauen fördern schon heute die psychologische Sicherheit, deswegen sollten Unternehmen sie befördern. Daneben sollten Unternehmen die Egostärke von potenziellen Führungskräften untersuchen, denn diese beeinflusst die Fähigkeit, Fehler zuzugeben und andere Meinungen anzuhören.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Oktober-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
