Web3: Molly White dokumentiert Betrug im Krypto-Universum
Die Softwareexpertin Molly White schreibt auf ihrer Website, Web3 sei „eine riesige Abzocke, die Benzin auf unseren bereits schwelenden Planeten gießt“. Ein Interview über die oft übersehenen Probleme eines Blockchain-basierten Internets.
Von Thomas Stackpole
Harvard Business manager: Was hat Sie dazu motiviert, die Probleme des Web3 öffentlich zu machen?
Molly White: Ende 2021 hat sich grundlegend verändert, wie über die Kryptowelt gesprochen wird. Zuvor ging es vor allem um spekulative Investments für Leute, die auf das große Geld hoffen und hohe Risiken in ƒKauf nehmen. Nun war plötzlich die Rede davon, dass sich das gesamte Internet ändern würde, hin zu Dienstleistungen auf der Basis von Blockchains. Jeder würde ein Kryptowallet haben und die Blockchain für soziale Medien, Videospiele, Onlinecommunitys und Ähnliches nutzen.
Da wurde ich hellhörig. Ich hatte immer gedacht: Krypto kann man machen, muss man aber nicht. Selbst für Softwareentwickler war es eine Nischentechnologie. Die meisten, die sich aus finanziellem Interesse damit befassten, schienen die Risiken zu kennen. Doch plötzlich galt Krypto als etwas, mit dem wir uns alle beschäftigten mussten. Neue Projekte richteten sich an ein Mainstreampublikum – und damit auch an Menschen, die weder die Technologie noch die finanziellen Risiken richtig verstanden.
Das machte mir Sorgen. Blockchains sind für viele, wenn nicht gar die meisten Anwendungsfälle, die als „Web3“ verkauft werden, nicht gut geeignet. Ich habe große Bedenken, was passiert, wenn sie trotzdem eingesetzt werden. Und ich sah, dass viele Krypto- und Web3-Projekte furchtbar schiefgingen. Die Projektideen waren unglaublich schlecht durchdacht. Viele Menschen und Unternehmen haben durch Betrügereien, Hacks und Anwendungsfehler eine Menge Geld verloren.
Was sind typische Fehler oder Missverständnisse?
Ich habe bei Web3-Projekten vor allem das Gefühl, dass die Lösung ein Problem sucht. Häufig scheinen die Initiatoren nur zu wissen, dass sie irgendwas mit Blockchain machen wollen. Dann suchen sie ein Problem, was sie sich mit einer Blockchain lösen lässt – ohne darüber nachzudenken, ob sie wirklich die richtige Technologie ist oder ob das Problem überhaupt mit technologischen Mitteln gelöst werden sollte.
Das krasseste Beispiel ist vielleicht das Crowdfundingportal Kickstarter. Es hat Ende vergangenen Jahres zum Leidwesen vieler Nutzerinnen und Nutzer angekündigt, die Plattform auf einer Blockchain neu aufzusetzen. COO Sean Leow wollte die Entscheidung in einem Interview erklären. Dabei vermittelte er den Eindruck, dass er im Grunde keine Ahnung hatte, was die Änderung eigentlich bewirken sollte, welche Governance-Probleme damit gelöst werden sollten und warum eine Blockchain dafür geeignet sein sollte.
Viele Unternehmen kündigen NFT-Projekte an, ohne sich zu informieren, welche Erfahrungen andere in der Branche gemacht haben. Viele Spieleentwickler, die NFT-Pläne angekündigt hatten, ruderten schon nach ein paar Tagen oder sogar nach ein paar Stunden wieder zurück. Doch irgendwie kommt immer wieder ein neuer Spielehersteller mit einem NFT-Plan um die Ecke – und wundert sich dann, dass sich die Kunden über den immensen CO2-Fußabdruck von NFTs aufregen und ihm dann Abzocke vorwerfen. Das gilt sogar für Organisationen, die sich den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben haben. Der World Wildlife Fund etwa wollte eine weniger CO2-intensive NFT-Serie für bedrohte Arten einführen, und ist damit gescheitert.
Unternehmen müssen zuerst das Problem analysieren und dann erst eine Technologie für die Lösung suchen, nicht umgekehrt. Die Lösung ist dann vielleicht nicht der neueste Hype und lockt auch keine Wagniskapitalgeber an. Trotzdem dürften Unternehmen damit langfristig deutlich erfolgreicher sein. Zumindest wenn das Ziel tatsächlich darin besteht, ein Problem zu lösen – und nicht Wagniskapital einzusammeln.
Sie sagen, dass Web3 für den Datenschutz eine Katastrophe ist und Onlinebelästigung massiv verschärfen könnte. Warum?
Blockchains sind unabänderlich. Wenn Daten erst einmal in ihnen gespeichert sind, lassen sie sich nicht mehr entfernen. Bei nutzergenerierten Inhalten wie zum Beispiel in sozialen Netzwerken hat das enorme Auswirkungen. Wer etwas postet, kann den Inhalt nicht mehr löschen – er bleibt für immer in der Blockchain. Doch es gibt noch weit schlimmere Folgen. Wenn jemand in den sozialen Medien andere belästigt oder beschimpft, persönliche Daten offenlegt, Rachevideos oder Kinderpornografie postet oder andere schwerwiegende Verstöße begeht, bekämpfen die Plattformbetreiber das normalerweise mit Content-Moderatoren. Bei der Blockchain sind diese Schutzmöglichkeiten extrem eingeschränkt. Das Gleiche gilt für Plagiate von Kunstwerken, Spam oder vertrauliche Daten wie Betriebsgeheimnisse.
Bei vielen Blockchains sind auch finanzielle Transaktionen in allen Einzelheiten öffentlich. In der Theorie sollen Pseudonyme Vertraulichkeit gewährleisten. Kryptowallets werden über eine Zeichenfolge identifiziert, die nicht unmittelbar einer Person zuzuordnen ist. Doch da man vermutlich für die meisten Transaktionen dasselbe Wallet verwendet, dürfte es schwierig und aufwendig sein, die Wallet-Adresse geheim zu halten. Ist die Wallet-Adresse aber bekannt, sind auf einer beliebten Blockchain wie Ethereum sämtliche Transaktionen einer Person für alle einsehbar. Dieses Problem wird sich verschärfen, sollte Krypto in Zukunft wirklich allgegenwärtig werden.
Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein erstes Date, und Sie überweisen ihm oder ihr die Hälfte der Restaurantrechnung. Dann könnte Ihr Date jede Transaktion sehen, die Sie je getätigt haben. Nicht nur die öffentlichen Transaktionen auf der Bezahl-App, mit der Sie das Essen bezahlt haben, sondern wirklich alle: die geteilten Restaurantrechnungen aller früheren Dates, die monatlichen Überweisungen an Ihre Therapeutin, ob Sie Schulden bezahlen oder nicht, Ihre Spenden (oder dass Sie nichts spenden), Ihre Altersvorsorge (oder dass Sie nicht vorsorgen). Ihr Date könnte auch sehen, wo der Laden ist, bei dem Sie abends um zehn oft noch einen Becher Eis kaufen. Jeder könnte das sehen: Ex-Partnerinnen, Verwandte, mit denen Sie nichts mehr zu tun haben, potenzielle Arbeitgeber – jeder Außenstehende, der sich für Ihre Daten interessiert. Wenn jemand Sie stalken oder belästigen wollte, würde er oder sie hier alle Details Ihres Lebens finden.
Manche Blockchains versuchen, solche Informationen aus Datenschutzgründen zu verschleiern. Aber das bringt auch Nachteile mit sich. Transparenz kann zwar Belästigung ermöglichen, im Gegenzug machen Features für mehr Privatsphäre auch Finanzkriminalität wie Geldwäsche leichter. Außerdem ist es sehr schwierig, Kryptowährungen anonym zu verwenden und in traditionelle Währungen umzutauschen. Es gibt eine Reihe von Methoden, die Anonymität ermöglichen, aber sie erfordern technisches Know-how und viel Aufwand.
Woran liegt es, dass in der öffentlichen Debatte zu dem Thema von all diesen Dingen praktisch nichts zu hören ist?
Ich bin immer wieder überrascht, wie häufig mir jemand sagt, dass er noch nie über das Missbrauchspotenzial der Technologie nachgedacht habe. Das ist auch bei Unternehmen so. Und wenn sie sich damit beschäftigen, heißt es häufig, diese Probleme seien Kleinigkeiten, um die man sich später kümmern könne. Es schockiert mich, wenn Unternehmen so argumentieren. Wir reden hier von systemimmanenten Eigenschaften einer Technologie, die sich nicht einfach im Nachhinein ändern lassen. Ich halte es für absolut inakzeptabel, Produkte auf den Markt zu bringen, ohne die Risiken für die Anwender zu berücksichtigen.
Web3-Befürworter sagen, die Blockchain könne das Internet demokratisieren und neue Quellen des Wohlstands erschließen, auch für Menschen ohne eigenes Bankkonto.
Ich gebe zu, das klingt verlockend. Aber bisher waren Kryptowährungen vor allem erfolgreich darin, Durchschnittsbürgern und -bürgerinnen oder finanziell Benachteiligten Geld abzunehmen und an Reiche umzuverteilen.
„Bisher waren Kryptowährungen vor allem erfolgreich darin, Durchschnittsbürgern oder finanziell Benachteiligten Geld abzunehmen und an Reiche umzuverteilen.“
Die Argumente dafür, dass diese Technologie nun plötzlich eine Demokratisierung des Wohlstands bewirken soll, sind für mich alles andere als überzeugend. Der Kryptosektor ist schlecht reguliert, vor allem die neuen Bereiche, die mit dezentralen Finanzmärkten zu tun haben. Mir erschließt sich nicht, wie eine schlecht regulierte Technologie mit perversen finanziellen Fehlanreizen in Zukunft wie durch Zauberhand ein faireres, besser zugängliches System schaffen soll.
Was den Zugang zur Finanzwelt für Menschen ohne Bankkonto und die Demokratisierung des Internets betrifft, sitzen viele dem altbekannten Trugschluss auf, soziale Probleme ließen sich mit technologischen Mitteln allein lösen. Wenn Menschen keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen haben, liegt das nicht an der Technologie. Es fängt damit an, dass sie gar kein Geld haben, um ein Bankkonto zu eröffnen. Sie haben keine Ausweispapiere, es gibt keine Bank in der Nähe und auch keinen Internet- oder Mobilfunkzugang. Vielleicht haben sie wegen des korrupten Finanz- oder Rechtssystems in ihrer Heimat auch schlicht kein Vertrauen zu Banken.
Solche Probleme lassen sich nicht einfach mit einer Blockchain aus der Welt schaffen. Im Gegenteil. Kryptolösungen bringen sogar noch zusätzliche Hürden mit sich. Sie erfordern zum Beispiel technisches Know-how und Sicherheitsmaßnahmen für das Kryptowallet. Nötig sind auch Zeit und Wissen, um Abzockerprojekte von solchen zu unterscheiden, die gute Absichten haben. Bei Zwischenfällen an den Onlinebörsen, die das Vermögen verwahren, gibt es keinen wirksamen Verbraucherschutz. Auch bei Betrug lässt sich Geld nur schwierig zurückholen.
Haben Kryptowährungen eigentlich etwas Gutes?
Ich räume ein, dass sie an einigen Stellen auch Positives bewirkt haben. Meiner Einschätzung nach war das aber vor allem dort der Fall, wo es solche enormen gesellschaftlichen und politischen Probleme gab, dass wirklich alles besser war als der Status quo.
So ist es mithilfe von Kryptowährungen gelungen, Menschen in unterdrückerischen Regimen mit Geld zu versorgen. Doch es gibt nicht viele Beispiele. Funktioniert hat das wohl vor allem, weil der Kryptobereich noch so klein ist, dass diese Regime ihn nicht auf dem Schirm haben.
Was macht Ihrer Meinung nach dann die Anziehungskraft von Web3 aus?
Die weltanschaulichen Argumente für Web3 sind sehr überzeugend, ich teile viele dieser Ideale. Ich bin sehr für ein besser zugängliches Finanzsystem, gerechter verteilten Wohlstand, die Unterstützung von Künstlern und Entwicklern, Privatsphäre im Netz, Kontrolle über die eigenen Daten und einen demokratischen Zugang zum Internet. Das sind alles Dinge, die Projekte im Web3 angeblich bewirken sollen.
Ich glaube nur nicht, dass Technologien auf der Basis von Kryptowährungen und Blockchains dafür die richtigen sind. Sie bauen finanzielle Hürden auf, statt sie einzureißen. Sie wollen alles, was wir tun, um eine finanzielle Ebene ergänzen. Das ist in meinen Augen schlimmer als die bisherigen Systeme. Wir sprechen hier über soziale und gesellschaftliche Probleme, nicht über technische. Deshalb werden auch die Lösungen nicht in einem technischen, sondern in einem gesellschaftlichen und politischen Wandel liegen.
Sollten wir dann überhaupt über Web3 berichten? Oder verschaffen wir dem Hype nur mehr Aufmerksamkeit?
Es ist zu spät, das Thema zu ignorieren und zu hoffen, dass es sich von selbst erledigt. Ich habe diese Phase Ende 2021 hinter mir gelassen. Journalisten müssen jetzt Expertinnen und Experten ausfindig machen und kritische Fragen stellen. Krypto und Web3 sind in vielerlei Hinsicht – technisch, wirtschaftlich, soziologisch und juristisch – so kompliziert, dass es für den Einzelnen schwierig ist, über alle Aspekte zu berichten. Aber es gibt extrem kompetente Leute, die Krypto aus all diesen Perspektiven unter die Lupe nehmen.
Einer der größten Fehler von Medien besteht darin, Aussagen der Kryptojünger einfach unreflektiert abzudrucken. Das gilt natürlich auch für die Gegenseite. Ich denke, die meisten, wenn nicht gar alle Skeptiker begrüßen es, wenn sich jemand kritisch mit ihren Aussagen auseinandersetzt. Natürlich sind ihre finanziellen Anreize im Gegensatz zu denen der Kryptobefürworter verschwindend gering.
Der Techkolumnist Kevin Roose schrieb jüngst in der „New York Times“, dass letztlich die frühen Skeptiker für die Missstände in den sozialen Medien im Web 2.0 verantwortlich seien. Sie hätten ihre Bedenken nicht laut genug geäußert. Dem würde ich entgegenhalten: Sie hatten gar nicht die Möglichkeit, so laut zu sein, wie sie gern gewesen wären. Und diejenigen, die ihre Kritik gehört haben, haben nicht oder nicht sinnvoll reagiert. Aber vielleicht schaffen wir es ja, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. © HBP 2022
Profil
Molly Whiteist Informatikerin, Wikipedia-Autorin und Blockchain-Expertin. Sie arbeitete acht Jahre lang für den Softwareanbieter HubSpot und beriet den US-Senator Sheldon Whitehouse bei der Regulierung von Kryptowährungen. Als Web3-Kritikerin hat sich die Amerikanerin vor allem durch ihre Website „Web3 Is Going Just Great“ einen Namen gemacht. Dort dokumentiert sie Fehlschläge und Betrügereien im Web3. Unter anderem läuft auf der Seite auch ein „Grift-Counter“: Der Zähler schätzt, wie viel Geld Betrüger im Web3 erschlichen haben – inzwischen sind es mehr als zehn Milliarden Dollar.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Oktober-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
