Deutsche Autobauer schwenken bei Software um – zu großer Aufwand, zu wenig Know-how, zu hohe Kosten
Außer BMW haben sich alle deutschen Autobauer bei der Software-Entwicklung verkalkuliert. Nun bekommen sie ein verlockendes Angebot.
Mit gewaltigen Investitionen wollten Deutschlands Autobauer die Softwareentwicklung im Auto dominieren. Nun zeigt sich: Die Hersteller sind mit dem Ansatz der Eigenentwicklung gescheitert und schwenken um. Zu groß ist die Herausforderung, zu gering das eigene Know-how, zu hoch sind die Kosten. Die Autobauer müssen sparen, allen voran Volkswagen.
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Nach Informationen aus Konzernkreisen will VW bei seiner Softwareeinheit Cariad allein in diesem Jahr einen dreistelligen Millionenbetrag einsparen. Bei Mercedes wurden die Investitionen in die Entwicklung des eigenen Betriebssystems auf ein bis zwei Milliarden Euro gedeckelt.
Die Folge: Statt auf Eigenentwicklungen setzen die Autobauer jetzt auf Kooperationen mit Techkonzernen wie Google. Volkswagen, BMW und Mercedes hatten sich bislang davor gescheut, sie fürchteten einen Kontrollverlust bei Daten und Entwicklung.
Google kommt der Branche nun entgegen. Statt des Betriebssystems Google Automotive Services, mit dem die Amerikaner das gesamte Infotainment im Auto übernehmen wollten, bietet man nun „Google built in“. Die reduzierte Lösung lässt die Integration einzelner Apps wie Google Maps und Youtube im Auto zu. Gleichzeitig behalten die Hersteller die Hoheit über ihre eigene Software, die als Rahmen fungiert.
Peter Fintl, Autoexperte bei der Unternehmensberatung Capgemini, hält das für sinnvoll. „Die Autoindustrie erkennt gerade, dass man sich auch mit Techkonzernen wie Apple oder Google nicht nur arrangieren muss, sondern vielmehr sogar kann.“
Mercedes, VW und Porsche arrangieren sich bei Software mit Apple und Google
Viele Autofahrerinnen und -fahrer kennen Anwendungen wie Google Maps bereits von ihrem Handy und nutzen diese auch im Fahrzeug. Allerdings muss man dafür bislang in den meisten Fällen noch immer das Smartphone mit dem Auto verbinden. Mercedes integriert inzwischen Googles Karten-App und Youtube in sein Betriebssystem Mercedes-Benz Operating System, kurz MB.OS. Auch mit dem chinesischen Internetkonzern Tencent arbeiten die Schwaben zusammen.
Im Volkswagen-Konzern ist ein neuer App-Store offen für Dutzende Drittanbieter, potenziell auch für Google. Ab Juli ist dieser in vielen Audi-Modellen verfügbar. Ab Mitte 2024 soll das neue Infotainment-Element auch bei der Kernmarke VW zum Einsatz kommen, heißt es in Unternehmenskreisen.
Auch Porsche verhandelt seit Längerem mit Google und Apple über eine tiefere Integration. Vollzogen ist der Deal noch nicht, wie Oliver Blume, VW- und Porsche-Chef in Personalunion, kürzlich auf der Bilanzpressekonferenz betonte. Im Gespräch seien sogenannte „Blended Ecosystems“, bei denen die Apps der Techkonzerne mit dem Betriebssystem im Auto verschmelzen. Die Lösung könnte ein Vorläufer für weitere Konzernmarken sein.
VWs Softwaretochter Cariad sucht bereits einen Google-Experten
Nach allem, was in Wolfsburg zu hören ist, schaut man bei Volkswagen genau auf Mercedes' Deal mit Google. Was VW offenbar daran gefällt: Die Schwaben haben nach eigener Aussage trotz Google-Integration weiterhin die Kontrolle über sicherheitsrelevante Daten, Grundlage der Kooperation bleibt bei Mercedes das eigene Betriebssystem. Das könnte auch ein Modell für VW sein.
Der Hintergrund: Fertige Infotainment-Systeme, wie sie Google anbietet, bedeuteten bislang zwangsläufig einen Kontrollverlust für die Autobauer. Wer das von Google entwickelte Betriebssystem Google Automotive Services (GAS) nutzt, hat kaum noch Gestaltungsspielraum bei der Entwicklung des Infotainment-Systems im Auto und verliert zudem die Kontrolle über die Daten. Das wollen die Autohersteller tunlichst vermeiden.
Auf ihrem Karriereportal sucht VWs Softwaretochter Cariad bereits nach einem Google-Experten. „Als Unternehmen wollen wir technisch auf Augenhöhe mit Partnern sprechen“, erklärt ein Cariad-Sprecher die Absicht hinter der Ausschreibung. Eine Entscheidung für oder gegen eine Integration von Google Automotive Services sei daraus nicht abzuleiten. Es gehe erst einmal darum, sich die Technik anzuschauen, zu verstehen und zu bewerten.
Lange Zeit konzentrierten sich Volkswagen und Mercedes beim Thema Software auf Eigenentwicklungen. „Tech oder Tod“, gab Ex-VW-Chef Herbert Diess als Parole aus, von zehn auf 60 Prozent sollte die konzerneigene Leistung bei der Fahrzeugsoftware steigen. Mercedes strebte ähnlich hohe Werte an und versprach ein „Windows fürs Auto“.
Eigene Software von VW und Mercedes „völlig unrealistisch“
Funktioniert hat das nicht. Und hätte es auch nie, wie Christoph Grote, Chef der BMW-Einheit „Digital Car“, anhand von zwei Zahlen illustriert. Die erste: In der Software eines Premium-Neuwagens stecken etwa 500 Millionen Zeilen Code. Die zweite: Ein Entwickler schreibt pro Tag im Schnitt maximal 100 Zeilen.
„Wenn man das in Köpfe umrechnet, merkt man schnell: Es ist völlig unrealistisch, als Autohersteller fast alle Softwarekomponenten selbst zu programmieren“, sagte Grote dem Handelsblatt „Wer das tut, isoliert sich.“ Im Gegensatz zu Mercedes und Volkswagen hatte BMW diese Entwicklung bereits früher antizipiert.
Aktuell bewegen sich die Autohersteller und die Techkonzerne aufeinander zu. Dass die Autobauer ihre Zurückhaltung inzwischen abgelegt haben, hat laut Experten drei Gründe:
1. Fehlendes Know-how
Geschätzt 70 bis 90 Prozent der Innovationen in luxuriösen Limousinen und SUVs stammen nicht von den Fahrzeugherstellern selbst, sondern von Zulieferern wie Bosch, ZF oder Continental. Das ist seit Jahrzehnten so.
Mit dem Aufbau eigener Softwareplattformen wollten einige Autobauer das etablierte Wertschöpfungsverhältnis tendenziell umkehren. Den Aufwand dafür haben sie allerdings „kolossal unterschätzt“, konstatiert Capgemini-Experte Fintl, der bei der Beratung die Bereiche Technologie und Innovation leitet.
Einer der wenigen traditionellen Fahrzeughersteller, der sich der Tragweite der Aufgabe ansatzweise bewusst war, ist BMW. Die Münchener haben sich über 20 Jahre hinweg ein Team aus rund 8.500 Softwareexpertinnen und -experten aufgebaut und mit ihnen Prozesse und standardisierte Toolketten entwickelt.
„Jede Zeile Code, die wir in unsere Mainline, den Hauptcode, übernehmen, wird vorher akribisch durchgetestet“, sagt BMW-Fachmann Grote. Das passiere hunderttausend Mal pro Tag. Danach würden die Codestücke in die Toolketten eingebracht. Das sei ein bisschen wie „das Zusammenfügen der Bauteile in der physischen Autoproduktion“, erklärt Grote. Da wie dort gebe es viele Stationen und Regeln. „So etwas baut man nicht über Nacht.“
2. Ausufernde Kosten
Tatsächlich haben Deutschlands Autobauer die Kostenseite im Softwarebereich lange Zeit zu niedrig eingepreist. Bei der VW-Softwaretochter Cariad und deren Vorläufer Car.Software-Org kalkulierte man zunächst mit lediglich 1,4 Milliarden Euro an jährlichen Investitionen. Diese stiegen dann auf 2,5 Milliarden Euro, die Kosten drohten auch wegen einer Reihe von Übernahmen auszuufern.
Bei Mercedes durchforstete eine Truppe des Beratungsunternehmens McKinsey die Strukturen, um die Anlaufkosten für das Betriebssystem MB.OS zumindest unter fünf Milliarden Euro zu drücken. Preistreiber sind die fast 3000 Softwareentwickler, die neu eingestellt wurden. Die rare Spezies an Spitzenprogrammierern lässt sich ihre Dienste gut bezahlen.
Sechsstellige Einstiegsgehälter sind keine Seltenheit, sagen Szenekenner. Für Coder mit außergewöhnlichen Fähigkeiten könne das Salär sogar schnell auf 300.000 Euro oder über eine halbe Million Euro im Jahr anwachsen.
3. Fehlende Skalierung
Die Entwicklung von Software ist ein Skalenspiel. Das Problem: Gerade den heimischen Premiummarken fehlt mit einem Absatz von jeweils unter 2,5 Millionen Einheiten pro Jahr das nötige Volumen. „Im Zuge des Luxusfokus braucht es eine Lösung, wie man die fehlenden Skaleneffekte kompensiert“, sagt Markus Baum, Autoexperte bei der Unternehmensberatung Roland Berger. Baum rät den Konzernen, in größeren Ökosystemen zu denken. „Die Skaleneffekte liegen dann in Partnerschaften statt im eigenen Haus. Das ist der richtige Weg.“
So spart sich etwa Mercedes viel Entwicklungsbudget, weil die Schwaben den Softwarestack für hochautomatisierte Fahrsysteme (Level 3), ein Stack bezeichnet eine Reihe von aufeinander aufbauenden Softwarekomponenten, künftig vom US-Chipkonzern Nvidia konzipieren lassen. Im Gegenzug teilen Mercedes und Nvidia die neu entstehenden Einnahmen zur Hälfte untereinander auf.
Auto-Software: Hersteller sind mittlerweile zu Zugeständnissen bereit
Der Deal zeigt exemplarisch, dass Autokonzerne bei der Software viel größere Zugeständnisse gegenüber neuen Partnern aus der Tech-Welt machen müssen. Zugleich dämmert langsam auch den Techunternehmen, dass sie nicht so einfach wie gedacht die Kontrolle über Millionen von Fahrzeugen erlangen können.
Polestar-Chef Thomas Ingenlath beobachtet einen Sinneswandel in der Branche. Die chinesisch-schwedische E-Auto-Marke hat als erster Fahrzeughersteller das Betriebssystem Google Automotive Services übernommen. Ingenlath sagt: „Die Sorge vor Google lässt in der Autoindustrie langsam nach.“
Der damit einhergehende Verlust der Datenhoheit ist für den Automanager kein Problem: „Ich bezweifle, dass die Kontrolle über die Daten ein nachvollziehbarer Grund dafür ist, eine enge Kooperation mit Google auszuschließen.“ Google sei führend in der Datenanalyse. Aus den gewonnenen Daten könnten neue Apps entwickelt werden. Das helfe allen.
