Navigation überspringen
article cover
Foto: Getty, Mauritius, Privat (3)
Premium

Wie Bulgarien vom Lieferketten-Chaos in Europa profitiert

Mit den niedrigsten Löhnen und Steuern in Europa lockt das ärmste EU-Land prominente Konzerne – und wird zur neuen Drehscheibe in der europäischen Warenversorgung.

Sofia. Wie ein Feldherr steht der weißhaarige Plamen Panchev in der dritten Etage am Fenster seines Konferenzraums und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf zahlreiche neue Gebäude. „Dort haben wir den Kühlschrank- und Baumaschinenhersteller Liebherr angesiedelt“, verkündet der Bulgare in gebrochenem Englisch, „dahinter steht das Werk des französischen Konzerns Schneider Electric, und auf der anderen Seite verarbeitet Ferrero seine Piemontkirschen, die in Wahrheit natürlich aus Bulgarien kommen.“

Mehr als 200 Unternehmen haben Panchev und sein Kompagnon Valentin Kanchev in den vergangenen Jahren am Rand von Plovdiv, der zweitgrößten Stadt des Balkanlandes, auf eigene Rechnung angesiedelt. Kaufland, Osram, DB Schenker, der württembergische Schraubenanbieter Würth und Großkonzerne wie ABB folgten zuletzt dem Ruf der „Trakia Economic Zone“ in die Mitte Bulgariens.

Der größte Coup aber, kündigt der 63-Jährige im Gespräch mit dem Handelsblatt an, der steht noch bevor: Auf 300 Hektar werde es bald die erste Megafactory des Landes geben. „Das größte Interesse kommt von VW.“ In Wolfsburg will man mögliche Baupläne auf Anfrage nicht kommentieren. Doch auch so überrascht die Zahl der Ansiedlungen europäischer Großunternehmen im ärmsten Land der EU.

Getrieben durch das Outsourcing an bulgarische Tochterfirmen und Zulieferer, so ermittelte die Auslandshandelskammer (AHK) in Sofia, stieg 2022 das Exportvolumen des Balkanlandes nach Deutschland um 26,8 Prozent auf 16 Milliarden Euro. Gleichzeitig nahmen die Importe aus der Bundesrepublik um 19,1 Prozent auf 12,1 Milliarden Euro zu.

„Nearshoring“ heißt das: Der Schock, den die Lieferengpässe in vielen Industrien während der Coronapandemie auslösten, sitzt bei vielen Unternehmen noch immer tief.

Hilflos mussten sie zuschauen, wie wichtige Lieferketten zu Produzenten in Fernost rissen und Kunden monatelang auf Bestellungen warteten. Und so bauen sie verstärkt wieder auf Produktionsorte im näher gelegenen Ausland.

Davon, glaubt Dominik Vorhölter, Direktor bei Germany Trade & Invest (GTAI) in Sofia, profitiert Bulgarien möglicherweise am meisten. Das Land punkte mit den niedrigsten Arbeitskosten in der Europäischen Union. Das Statistikamt Eurostat beziffere sie mit nur 8,20 Euro pro Stunde. Zum Vergleich: In Deutschland kostet die Arbeitsstunde im Schnitt 39,50 Euro. „Niedrige Löhne machen dort Nearshoring attraktiv“, urteilt Vorhölter mit Blick auf Bulgarien.

Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot

Das Land profitiert vom Ukrainekrieg

Marieta Grigorova schreitet durch ihre 10.000 Quadratmeter große Warendrehscheibe nahe dem bulgarischen Hauptstadt-Flughafen. Immer wieder muss die Landesgeschäftsführerin des österreichischen Spediteurs Gebrüder Weiss (GW) Gabelstaplern ausweichen, die zwischen den mit Waschpulverkartons, Klebstoffeimern und Werkzeugmaschinen überbordenden Regalen ihre Runden drehen. Auf den Transportpaletten: Markenartikel von Henkel, Liebherr-Kühlschränke, Autozubehörteile, aber auch Säcke mit Saatgut eines französischen Agraranbieters.

Foto: F. Zimmermann
Foto: F. Zimmermann

Als die heute 60-Jährige 1993 für ihren Arbeitgeber, einen drei Milliarden Euro Umsatz schweren Familienkonzern, in Sofia begann, erwies sich das Geschäft als bescheiden. Mit hohem Aufwand ließ die gebürtige Bulgarin damals in ihrem Heimatland importiertes Sammelgut verteilen, das Lkw von westeuropäischen Herstellern anlieferten.

Schon der EU-Beitritt Bulgariens verbesserte die Logistikvoraussetzungen im Land Anfang 2007 gründlich. Seit anderthalb Jahren nun macht der Ukrainekrieg, der Transporte über Russland und die Ukraine erschwert, das Balkanland endgültig zum Logistikzentrum Westeuropas. „Sofia wird für viele Unternehmen zur wichtigsten Drehscheibe auf dem Balkan“, sagt Grigorova.

Norbert Beckmann-Dierkes empfängt auf der dritten Etage in Sofias World Trade Center, einem im sozialistischen Chic konstruierten Glaspalast, dessen Eingangsforum als Kopie der Pariser Louvre-Pyramide durchgehen könnte. Den Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat es vor einem Jahr nach langem Aufenthalt in Serbien in das Nachbarland verschlagen. „Die Regierung hier hat erkannt, dass Logistik wichtig ist“, berichtet der gebürtige Münsterländer.

Nach fünf Parlamentswahlen innerhalb von nur zwei Jahren und einem entsprechend langen Übergangskabinett gebe es im Land zwar einen Investitionsstau bei Brücken, Schienenwegen und Autobahnen, sagt er. Seit der Regierungsbildung im Juni 2023 aber fließe nun wieder Geld, etwa in den dringend benötigten Ausbau des Bahnnetzes.

Foto: mauritius images / Johann Brandstatter
Foto: mauritius images / Johann Brandstatter

Tatsächlich kann Bulgarien in der europäischen Logistik mit seiner günstigen Verkehrslage punkten. Nach Istanbul sind es von Plovdiv aus mit dem Lkw gerade einmal 400 Kilometer Autobahn, zum griechischen Hafen Thessaloniki kaum mehr als 300, ebenso wie zum bulgarischen Donauhafen Russe. Nach Burgas, von wo aus es per Schiff über das Schwarze Meer etwa nach Poti in Georgien geht, benötigen Trucks gerade einmal eine Fahrstrecke von 250 Kilometern.

Dem österreichischen Spediteur Gebrüder Weiss, seit mehr als 500 Jahren tätig im Transport- und Logistikgeschäft, kommt die neue Situation in Bulgarien zugute. Vor wenigen Monaten etwa entschied einer der größten osteuropäische Produzenten von E-Bikes, einen Teil der Jahresproduktion von 100.000 Fahrrädern über das Weiss-Lager europaweit zu vertreiben.

Für einen großen deutschen Automobilhersteller sollen die Österreicher künftig über Bulgarien Gummiteile und Elektronikelemente von 13 Zulieferbetrieben einsammeln, um sie mit 70 Lkw in dessen Hauptwerke zu befördern. Und ein litauischer Transporteur erkundigte sich vor wenigen Tagen bei GW in Sofia, um den Hub der Spedition für die Warenverteilung nutzen zu können. Im Fachjargon bezeichnen Fachleute dies als „Cross-Docking“.

Man wolle die aus Europa herbeigeschafften Sendungen von dort aus in die Schwarzmeer-Region, den Kaukasus sowie nach Kasachstan und Usbekistan verteilen, erfuhr Grigorova. „Aus politischen Gründen“ sei die bisherige Auslieferung über Russland und die Ukraine nicht mehr möglich.

Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot

Bulgariens langer Marsch nach Westen

Der coronabedingte Trend zum Nearshoring und die Verwerfungen des Ukrainekriegs sind aber nur der Höhepunkt einer längeren Entwicklung, die das Land am Rande Europas Stück für Stück wirtschaftlich näher ans Zentrum des Kontinents rückte.

Wer nach der Wende früh die neuen Chancen des Kapitalismus nutzte, profitiert davon heute. So wie Plamen Panchev, der Mann aus der Trakia Economic Zone. Schon 1996 zog er in seiner Heimatstadt Plovdiv den ersten Kunden an Land: den einheimischen Mon-Cherie-Lieferanten Agri Bulgaria, der einen Standort für seine Kirschproduktion suchte.

Foto: F. Zimmermann
Foto: F. Zimmermann

Unterstützt von der Vorstadtgemeinde Mariza kaufte Panchev mithilfe von Bankkrediten private Grundstücke zusammen, veranlasste die Kommune, Kanalisation und Stromkabel zu verlegen, und präsentierte schon nach neun Monaten ein schlüsselfertiges Investitionsgelände.

Die Hochgeschwindigkeit sprach sich in der Deutschlandzentrale von Ferrero herum – eine Flüsterpropaganda, die kurz danach auch den Kühlschrankhersteller Liebherr erreichte, den französischen Elektrokonzern Schneider oder den österreichischen Automobilzulieferer Magna.

„Spätestens ab dem fünften Investor waren wir europaweit bekannt“, berichtet Panchev. Inzwischen sind durch sein Public-private-Partnership-Modell rund um Plovdiv sechs Industriegebiete entstanden, in denen Panchevs Kunden zusammen über fünf Milliarden Euro investiert haben.

Seine Entwicklungsfirma Sienit Holding ist bis heute ein Familienbetrieb geblieben. Kompagnon Kanchev ist gleichzeitig Panchevs Nachbar, geschäftliche Besprechungen nach Feierabend finden nicht selten über den Gartenzaun statt. Statt Maßanzug und Nadelstreifen trägt der 63-Jährige lieber ein verwaschenes No-Name-Polohemd, wo sein Englisch nicht reicht, muss der Sohn übersetzen. „Der Mann ist ein Arbeitstier“, sagt Honorarkonsulin Mariana Tcholakova.

Was Hilti sich in Bulgarien verspricht

Auch eine prominente Firma aus Liechtenstein erkannte den Standortvorteil schon vor sieben Jahren: der Werkzeugmaschinen-Hersteller Hilti. Wer dessen Landesgeschäftsführer, den gebürtigen Tschechen Marek Gazar, aufsuchen will, durchlebt einen gefühlten Zeitsprung.

Nach einer Fahrt durch vernachlässigte Viertel, deren Namen wie „Druschba“ („Freundschaft“) oder „Mladost“ („Jugend“) an die Ostblockvergangenheit erinnern, öffnet sich eine Schranke in den „Business Park Sofia“.

Die postmodernen Gebäudekomplexe für 16.000 Angestellte, durchzogen von einer künstlichen Seenlandschaft und gepflegten Grünanlagen, gleichen dem Google-Campus im Silicon Valley. Cafés und Restaurant sorgen für die nötige Atmosphäre, Stände mit frischem Obst und Gemüse ebenso. Unilever, KPMG, Sony, HP und zahlreiche andere Weltkonzerne haben sich angesiedelt. Und eben Hilti.

Foto: F. Zimmermann
Foto: F. Zimmermann

„Nach dem Einbruch durch die Finanzkrise wurden in der Firmenzentrale Pläne entwickelt, wie wir unsere Kunden möglichst zeitnah mit dringend benötigten Werkzeugen versorgen können“, berichtet Gazar, der in einer offenen Bürolandschaft auf der achten Etage residiert. Die Entscheidung fiel auf ein komplettes Warenlager in Sofia, von wo aus man gemeinsam mit GW nahezu den gesamten Balkan beliefert – von Serbien, Montenegro und Rumänien bis hinunter nach Griechenland.

„Baufirmen wie Strabag oder die Minen des deutschen Kupferproduzenten Aurubis erhalten ihre Bestellung dadurch meist schon am Folgetag“, sagt Hiltis Landeschef. Spätestens nach zwei Tagen sei die Ware beim Kunden.

Und auch in Bulgarien selbst finden die Liechtensteiner derzeit reichlich Kundschaft. Nicht nur die Eisenbahnstrecke nach Serbien und der Donauhafen Russe befinden sich im Ausbau, im Dezember 2022 wurde zudem ein Darlehen für die Erweiterung der U-Bahn in Sofia über knapp 200 Millionen Euro unterzeichnet. Gleichzeitig entstehen in Sofia gerade die ersten Wolkenkratzer.

Von dem Ausbau der Infrastruktur profitieren auch Betriebe im Land selbst. Nur ein verwittertes Schild an der Straße zum Flughafen verweist auf das riesige Warenlager des deutschen Discounters Lidl, der in Bulgarien inzwischen 120 Filialen betreibt. Die Neckarsulmer importieren keineswegs nur Waren aus der Heimat.

„Vergangenes Jahr haben wir bulgarische Produkte für mehr als 50 Millionen Euro in unseren Läden außerhalb des Landes verkauft“, berichtet Geschäftsführungsassistent Hristo Boyadzhiev. „Geliefert wurde nicht nur ins Nachbarland Rumänien“, sagt er, „sondern auch nach Deutschland.“

Insbesondere Müsliriegel, Nüsse und Teigblätter landen aktuell aus Bulgarien in den deutschen Lidl-Regalen – allerdings meist als Eigenmarken des Discounters. Als einen der wichtigsten Lieferanten des Landes nennt Boyadzhiev den Biosnackhersteller Smart Organic in Sofia.

Die Handelsbeziehungen könnten sich in nächster Zeit sogar noch ausweiten. Nicht nur der niedrige Unternehmenssteuersatz von zehn Prozent lockt vermehrt ausländische Firmen ins Land, schon in diesem Jahr rechnen Experten wie Boyadzhiev und KAS-Direktor Beckmann-Dierkes mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengenraum. Umständliche Lkw-Kontrollen würden damit entfallen, ist man sich einig, Transporte deutlich beschleunigt. Für 2025 peilt die Regierung in Sofia zudem die Einführung des Euros an.

Doch es bleiben Risiken. 84 Prozent der ausländischen Unternehmen zeigten sich bei einer Umfrage der Deutsch-Bulgarischen Industrie- und Handelskammer im Juni immer noch unzufrieden angesichts der Korruption im Land. Auf einer Skala von Transparency International erhielt Bulgarien 2022 nur 46 von 100 Punkten, Deutschland dagegen 79. Auch die hohe Inflation von über 13 Prozent drückt auf die Stimmung.

Am meisten aber sorgen sich die Bulgaren um ihren größten Kunden. „Bleibt die Automobilindustrie in Deutschland bestehen“, fragt GW-Landeschefin Grigorova stellvertretend für viele, „oder wandert sie ab nach China und in die USA?“

Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot

Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot

Wie Bulgarien vom Lieferketten-Chaos in Europa profitiert

Premium

Diese Inhalte sind für Premium-Mitglieder inklusive

Der Zugang zu diesem Artikel und zu vielen weiteren exklusiven Reportagen, ausführlichen Hintergrundberichten und E-Learning-Angeboten von ausgewählten Herausgebern ist Teil der Premium-Mitgliedschaft.

Premium freischalten

Handelsblatt schreibt über Substanz entscheidet

Das Handelsblatt ist das führende Wirtschaftsmedium in Deutschland. Rund 200 Redakteure und Korrespondenten sorgen rund um den Globus für eine aktuelle, umfassende und fundierte Berichterstattung. Über Print, Online und Digital kommunizieren wir täglich mit rund einer Million Leserinnen und Lesern. NEU: Diese Seite bietet Premium-Mitgliedern eine Auswahl der besten Artikel vom Handelsblatt direkt hier.

Artikelsammlung ansehen