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Marketing: Wie Sie mit psychografischem Targeting Kunden gewinnen

Personas waren gestern. Heute können Unternehmen dank Trackern und Daten präzise Psychogramme individueller Kundinnen und Kunden erstellen. Klingt unheimlich? Muss es nicht. Eine Anleitung.

Von Sandra Matz

Psychografisches Targeting, also die bewusste Beeinflussung menschlichen Verhaltens durch Maßnahmen, die auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale abgestimmt sind, erlangte spätestens im Jahr 2018 weltweit Bekanntheit, als herauskam, dass Cambridge Analytica die US-Wahl 2016 beeinflusst haben soll. Das britische Datenanalyseunternehmen hatte angeblich von Millionen Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern ohne deren Wissen Persönlichkeitsprofile erstellt und ihnen anschließend personalisierte politische Werbung zugespielt, die gezielt ihre individuellen Ängste und Vorurteile ansprach.

Seither wird viel über die Chancen und Risiken von psychografischem Targeting diskutiert. Skeptische Geister sehen darin die nächste Stufe psychologischer Kriegsführung, andere tun es als Marketing­unsinn ab.

Ich war eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die diese Praxis genauer untersucht hat und an der Veröffentlichung der Cambridge-Analytica-Story beteiligt war. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie sich auf Basis des persönlichen digitalen Fußabdrucks – also Social-Media-Profile, Suchanfragen, Ausgabe- und Browserverhalten, Blogbeiträge und Smartphonedaten einschließlich GPS-Daten – und mithilfe maschinellen Lernens Vorhersagen über die Persönlichkeit eines Menschen treffen lassen. Dabei habe ich untersucht, wie diese Insights genutzt werden können, um Meinungen und Verhalten zu beeinflussen. Und ich habe Vorschläge gemacht, wie sich psychografisches Targeting ethisch korrekt einsetzen lässt.

Cambridge Analytica hat die Diskussion über seine Datenerhebungs- und Manipulationspraktiken nicht überlebt, doch psychografisches Targeting ist nach wie vor eine gefragte Dienstleistung. Das weiß ich, weil ich regelmäßig Anfragen von Unternehmen erhalte, die die Methode implementieren möchten. Gleiches gilt für Start-ups, die ebenfalls versuchen, in diesen Bereich einzusteigen. Alle erzählen zwar eine etwas andere Geschichte, aber ihr Ziel ist immer dasselbe: Sie wollen einen Mehrwert für sich und ihre Stakeholder schaffen, indem Sie sich die psychologischen Bedürfnisse und Beweggründe der Menschen zunutze machen.

In diesem Artikel möchte ich zunächst aufzeigen, was psychografisches Targeting leisten kann, und im Anschluss konkrete Vorschläge machen, wie Unternehmen es verantwortungsbewusst einsetzen und Vorteile für sich und ihre Kunden schaffen können.

Lassen Sie mich zunächst mit einem Mythos aufräumen: Trotz des Skandals um Cambridge Analytica ist psychografisches Targeting keine Hirnwäschemaschine. Selbst wenn Sie ein präzises Persönlichkeitsprofil einer Person erstellt haben, werden Sie eine Hillary-Clinton-Wählerin nicht dazu bringen, für Donald Trump zu stimmen, oder einen Apple-Fan in einen Android-Liebhaber verwandeln. Das heißt jedoch nicht, dass psychografisches Targeting wirkungslos ist. Meine Forschungen (und die meiner Kolleginnen und Kollegen) zeigen, dass es sogar ein ausgesprochen effektives Marketinginstrument ist, mit dem Sie Meinungen und Einstellungen verändern, Nachfrage für neue Produkte und Services generieren und Zielgruppen auf persönlichere Weise ansprechen können.

Psychografisches Targeting unterscheidet sich deutlich von der psychografischen Segmentierung, die Ende der 70er Jahre in aller Munde war, ihr Versprechen jedoch nicht einlösen konnte. Damals erstellten Marketingprofis ihrem Bauchgefühl folgend Personas für verschiedene Zielgruppensegmente, die auf den Meinungen, Einstellungen und Lebensstilen der Verbraucher basierten. Das moderne psychografische Targeting fußt dagegen auf validierten psychologischen Konstrukten, die fundamentale Unterschiede im menschlichen Denken, Fühlen und Handeln erfassen. Das bekannteste ist das Persönlichkeitsmodell der Big Five, auch bekannt als Fünf-Faktoren- oder OCEAN-Modell. Es beschreibt den Charakter eines Menschen anhand von fünf Dimensionen und deren Ausprägung: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Obwohl es noch viele weitere Dimensionen gibt, die für psychografisches Targeting nützlich sein könnten – beispielsweise persönliche Werte, intrin­sische oder extrinsische Motivation sowie moralische Prinzipien –, haben sich die Big Five in Wissenschaft und Praxis etabliert.

Das Modell ist ein guter Ausgangspunkt für Marketer, da sich mit seiner Hilfe vorhersagen lässt, welche Produkte und Marken die Verbraucherinnen und Verbraucher bevorzugen. Ein Projekt, an dem ich gemeinsam mit einem Kollegenteam gearbeitet habe, veranschaulicht das: 2016 kam eine große internationale Bank aus Großbritannien auf uns zu, weil sie das Ausgabeverhalten einiger ihrer Kunden untersuchen wollte. Wir erhielten Zugriff auf die von den Kunden selbst erstellten Persönlichkeitsprofile sowie auf Informationen zu allen Transaktionen, die sie in den vorangegangenen sechs Monaten getätigt hatten. Wie erwartet stellten wir fest, dass das Ausgabeverhalten von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen abhängig war: Extrovertierte gaben ihr Geld zum Beispiel eher für Restaurant- und Kneipenbesuche aus, während Introvertierte eher Haushaltsgeräte und Bücher kauften. Gewissenhafte Personen sparten ihr Geld oder kauften Kleidung für ihre Kinder, während leichtfertigere Personen es eher für Fast Food und Handys ausgaben. Doch nicht nur das: Kundinnen und Kunden, deren Ausgabeverhalten stärker mit ihrem Persönlichkeitsprofil übereinstimmte, waren außerdem zufriedener.

Extrovertierte geben ihr Geld eher fürs Ausgehen aus, Introvertierte kaufen lieber Bücher.

Mithilfe von Persönlichkeitstypen lässt sich auch prognostizieren, welche Marketingbotschaften und Kommunikationsstile Menschen favorisieren. Gewissenhafte Personen lieben beispielsweise Zahlen und Details, während weniger gewissenhafte Menschen sich eher von spannenden Geschichten überzeugen lassen. Und während Sie offene Menschen vielleicht durch auffällige Bilder und blumige Sprache beeindrucken können, erreichen Sie weniger aufgeschlossene Personen leichter mit konventionellen Grafiken und sachlichen Botschaften.

Seine mittlerweile breite Anwendung verdankt das psychografische Targeting der Tatsache, dass Unternehmen inzwischen günstig und leicht auf massenhaft vorhandene Verbraucherdaten zugreifen können. Das überrascht nicht, bedenken Sie nur, dass Nutzerinnen und Nutzer laut Domo.com heute in einer einzigen Minute 283.000 Dollar auf Amazon ausgeben, 44 Millionen Mal auf Facebook zugreifen, sich 694.000 Stunden Youtube-Videos ansehen, auf Instagram 65.000 Fotos teilen und mit Venmo Transaktionen im Wert von 304.000 Dollar tätigen. Vielen Unternehmen gelang es zwar schnell, mithilfe dieser Daten das Verhalten und die Vorlieben ihrer Kunden vorherzusagen („Personen, die Produkt X gekauft haben, kaufen auch Produkt Y“). Doch damit verstanden sie noch nicht deren Bedürfnisse und Beweggründe. Sie wussten also nicht, warum Personen, die Produkt X gekauft haben, auch Produkt Y kauften und was sie dazu animieren könnte, Produkt Z zu erwerben.

Psychografisches Targeting verspricht genau hier Abhilfe, da es Unternehmen in die Lage versetzt, auf Basis verhaltensbezogener Daten die Persönlichkeitsprofile einzelner Kunden zu erstellen. Wie das in der Praxis aussieht? Einer meiner ersten Unternehmenspartner war Hilton Hotels & Resorts. Die Hotelkette wollte mithilfe von psychografischem Targeting ansprechendere und stärker personalisierte Customer Journeys entwickeln. Hilton engagierte mein Forschungsteam, und wir programmierten eine App, mit der Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer ihr Profil mit einem unserer prädiktiven Algorithmen verknüpfen konnten – mit dem Ziel, ein psychologisches Reisendenprofil zu erstellen und individuelle Urlaubsempfehlungen zu ermöglichen.

Stufte unser Algorithmus eine Kundin beispielsweise als introvertiert ein, wurde ein „Solistin“-Profil für sie erstellt, und sie erhielt Vorschläge für ruhige und erholsame Urlaubsziele. Einer als neurotisch klassifizierten Person empfahlen wir dagegen ein All-inclusive-Paket, bei dem sie sich wirklich um nichts kümmern musste und alles bis ins kleinste Detail durchgeplant war. Die Kampagne erreichte innerhalb von drei Monaten 60.000 Userinnen und User und war ein voller Erfolg. Sie wurde sogar vom Chartered Institute of Marketing als innovativste Marketingkampagne im Tourismusbereich ausgezeichnet. Und die höheren Click-through- und Engagement-Raten in den sozialen Medien bescherten Hilton einen höheren Return on Investment sowie mehr Markensichtbarkeit.

Hielt der­ Algorithmus ­jemanden für introvertiert, empfahl er eher ruhige und erholsame Urlaubsziele.

Im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts taten wir uns mit einem Kosmetikanbieter zusammen, der seine Werbeanzeigen auf Facebook optimieren und den Absatz im Onlineshop steigern wollte. Auf Facebook können Marketingteams zwar nicht direkt Personen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen ansprechen, doch durch das interessenbasierte Targetingmodell der Plattform ist dies indirekt möglich. Wenn etwa eine Vorliebe für Manga-Comics mit Introvertiertheit in Zusammenhang steht, erreichen Marketer, die Facebook-Nutzer mit Interesse für Mangas ansprechen, zugleich auch introvertierte Menschen (und vielleicht einige missverstandene Extrovertierte).

Wir beschlossen, in einem Experiment explizit Marketingbotschaften zu entwickeln, die die psychologischen Bedürfnisse und Beweggründe von Frauen adressierten. Eine Gruppe von Anzeigen richtete sich an Extrovertierte, die nach Stimulation, Spannung und Aufmerksamkeit strebten, eine andere adressierte den Wunsch introvertierter Personen nach viel Ruhe und Zeit für sich.

Die Anzeigen für Extrovertierte waren farbenfroh und zeigten Frauen inmitten vieler Leute (zum Beispiel auf einer Tanzfläche). Damit spielten sie auf deren Bedürfnis an, gesehen zu werden („Dance like no one’s watching, but they totally are“). Die Anzeigen für introvertierte Kundinnen waren dagegen in dezenten Farben gehalten und zeigten eine einzelne Frau mit Beautymaske, die sich in einer ruhigen Umgebung entspannte („Beauty doesn’t have to shout“). Die Anzeigen, die auf die jeweilige Persönlichkeit abgestimmt waren, führten mit einer 50 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit zum Kauf und damit zu mehr Umsatz.

Im Laufe der Zeit haben mein Team und ich mit verschiedenen Arten psychografischen Targetings experimentiert und dabei sowohl Erfolge als auch Misserfolge erzielt, die aber alles in allem sehr lehrreich waren. Im Folgenden gebe ich Ihnen einige Empfehlungen, wie Sie psychografisches Targeting im Marketing nachhaltig implementieren können:

Fragen Sie sich zunächst, was Sie sich von psychografischem Targeting versprechen. Denn vielleicht sind in Ihrem Fall andere Ansätze besser geeignet. Wenn Sie etwa lediglich herausfinden möchten, welches Produkt ein Kunde kauft, müssen Sie nicht gleich ein vollständiges Persönlichkeitsprofil erstellen. Im Gegenteil: Wenn Sie dieses in Ihre Vorhersage einbeziehen, könnte deren Genauigkeit sogar darunter leiden, weil die Methode störanfällig ist: Es kann sowohl bei der Übertragung des digitalen Fußabdrucks in psychologische Erkenntnisse (kein Modell ist zu 100 Prozent perfekt) als auch bei der Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse in Kaufabsichten zu Ungenauigkeiten kommen. Wenn Sie sich dagegen für die einfachere Methode entscheiden, bei der Sie auf Grundlage früheren Verhaltens auf zukünftige Vorlieben schließen (Personen, die Produkt X gekauft haben, kaufen in der Regel auch Produkt Y), können Sie nur an einer Stelle Fehler machen.

Es gibt jedoch zwei Situationen, in denen ein psychologisches Verständnis der eigenen Zielgruppe unverzichtbar ist. Die erste Situation betrifft Unternehmen, die neue Kunden ansprechen möchten. In diesem Fall haben sie keinerlei Informationen über ihre Zielgruppe und können deshalb auch nicht von früherem auf zukünftiges Verhalten schließen. Wir nennen dies das „Kaltstartproblem“. Hier spielen Persönlichkeitsmerkmale ihren großen Vorteil aus: Sie sind unabhängig von dem Kontext, in dem sie ermittelt wurden. Deshalb ist es egal, ob ein Unternehmen die Ausprägung der Extraversion eines Kunden anhand seiner Facebook- oder Twitter-Posts identifiziert oder mittels seines Kreditkarteneinsatzes, seiner Kaufhistorie oder seiner GPS-Daten.

Sieht man einmal von möglichen Messfehlern ab, sollte das Persönlichkeits­profil eines Menschen, das aus dessen Kaufpräferenzen abgeleitet wurde, daher immer annähernd gleich sein. Ein Onlinehändler könnte Kunden zum Beispiel dazu animieren, sich über Facebook anzumelden, und dann anhand ihrer Likes und ihres Status ableiten, ob sie extrovertiert sind oder nicht – und ihnen entsprechende Produkte empfehlen. Je mehr eigene Kaufdaten das Unternehmen generiert, desto eher kann es auch auf die psychologischen Insights verzichten und sich ganz auf verhaltensbasierte Vorhersagen konzentrieren.

Die zweite Situation betrifft das Entwickeln personalisierter Marketingmaterialien. Im Marketing geht es sowohl darum, wie wir den Mehrwert eines Produkts kommunizieren, als auch um das Produkt selbst. Je besser Sie verstehen, warum jemand sich für ein bestimmtes Produkt interessieren könnte, desto schneller können Sie Ihren Content auf ihre oder seine Interessen abstimmen. Nehmen wir einmal an, Sie verkauften Blumen. Wenn Sie wissen, ob jemand einen Blumenstrauß kauft, weil er einen anderen Menschen damit überraschen möchte (ein Anzeichen für Verträglichkeit) oder sich zu Hause ruhig und entspannt fühlen will (Introversion und Neurotizismus), oder ob er ihn kauft, um ein bisschen Farbe ins Büro zu bringen (Offenheit für Erfahrungen), hat Einfluss darauf, wie Sie Marketingbotschaften für sie oder ihn gestalten sollten.

Der Grund, ­warum jemand Blumen kauft, sollte Ihre Marketing­botschaften ­beeinflussen.

Schaffen Sie ein ganzheitliches Kundenerlebnis! Dank digitaler Technologien lassen sich so viele Verbraucherdaten generieren wie nie zuvor. Gleichzeitig ist es aber wesentlich einfacher, das Kundenerlebnis im persönlichen Kontakt zu verbessern. Geschickten Verkaufsmitarbeitern können Sie viel mehr Ermessensspielraum im Umgang mit den Kunden geben. Nehmen wir etwa eine Empfangsmitarbeiterin in einem Hotel, die mitbekommt, wie ein Gast von der Bäckerei um die Ecke schwärmt, und ihm daraufhin eine Schachtel Gebäck aufs Zimmer bringen lässt. Den meisten fällt es leicht, auf die Persönlichkeitsmerkmale von Menschen zu schließen, die sie kaum kennen, und ihr Verhalten darauf auszurichten.

Personalisierung ist online wie offline wichtig, häufig sind beide Formen aber nicht miteinander verbunden. Zum Beispiel im Kaufhaus: Der Einzelhändler sammelt online verhaltensbezogene Daten, um seinen Kundinnen und Kunden individuelle Angebote machen zu können. Sobald eine Kundin das Kaufhaus betritt, versucht ein Verkaufsmitarbeiter, ihre Persönlichkeit und Stimmung zu erfassen, und bedient sie entsprechend. Diese beiden Touchpoints sind jedoch nicht verknüpft: Der Verkaufsmitarbeiter und das E-Mail-Marketingteam hatten nie Kontakt.

Kunden wollen gleich behandelt ­werden – egal ob sie online oder offline einkaufen.

Psychografisches Targeting kann diese zwei Welten miteinander verbinden. Indem es Kunden-Insights zur Verfügung stellt, die sowohl von Algorithmen als auch Menschen verstanden werden, ermöglicht es Unternehmen, einen einheitlichen Concierge-Service über alle Kanäle hinweg anzubieten. So können diese einen Kunden immer gleich behandeln, unabhängig davon, ob er im Onlineshop einkauft oder ins Geschäft kommt. Der Algorithmus einer Kaufhauskette könnte problemlos ermitteln, ob eine Kundin extrovertiert oder neurotisch ist und ihr daraufhin auf sie abgestimmte Empfehlungen anzeigen und personalisierte Werbemails schicken. Die Informationen könnten dann an die Filiale weitergeleitet werden, damit die Verkäuferinnen und Verkäufer der Kundin auch dort ein ansprechendes Erlebnis bieten (sie würden dann den Ratschlag erhalten: „Führen Sie keinen Small Talk mit dieser Kundin; sie ist introvertiert“ oder „Überfordern Sie die Kundin nicht mit Optionen, und erinnern Sie sie an die Rückgabemöglichkeit; sie ist neurotisch“).

Vielleicht wird die Technologie irgendwann in der Lage sein, Kundenbedürfnisse zu entschlüsseln und automatisch passende Kundenerlebnisse zu entwickeln. Mit der Zeit könnte eine KI, die mit Tausenden von Anzeigenvarianten oder Kauferlebnissen in der Filiale experimentiert, eine höhere Ebene der „mensch­lichen Intuition“ erreichen als wir Menschen selbst. KI-Technologien sind bereits überraschend fortgeschritten. Denken Sie nur an Anzeigentexte, die von GPT-3, einem Algorithmus von OpenAI, erstellt werden. Als ich das Tool kürzlich gebeten habe, einen Werbetext für ein iPhone zu formulieren, der sich an Extrovertierte richtet, kam Folgendes dabei heraus: „Sie suchen ein Telefon, mit dem Sie immer mit Ihren Freunden in Kontakt bleiben und gleichzeitig Entertainment genießen können? Dann ist das iPhone genau das Richtige für Sie. Mit seinen integrierten Social-Media-Apps und seinem umfangreichen Angebot an Spielen und Streamingoptionen kommt nie wieder Langeweile auf.“

Machen Sie Kunden auf neue Angebote aufmerksam. Wir alle haben beim Kauf häufig die Wahl zwischen Altbewährtem und Neuem. Fachleute sprechen hier von „Exploitation“ versus „Exploration“. Bleiben Kunden bei dem, was sie kennen und schätzen, oder probieren sie etwas Neues aus, das noch vielversprechender klingt? Gleicher Haarschnitt oder neuer Look? Die beliebte Rooftop-Bar oder die neue Kneipe um die Ecke? Der bewährte Strandurlaub oder ein neues Abenteuer?

Personalisiertes Marketing ist klassischerweise auf Exploitation ausgerichtet, also darauf, der Zielgruppe mehr von dem anzubieten, was sie bereits kennt und schätzt. Wenn Sie online nach einer Kamera vom Typ „Sony Alpha DSLR“ suchen, versuchen prädiktive Algorithmen nicht nur, Ihnen genau diese Kamera zu verkaufen, sondern auch das dazugehörige Equipment und Zubehör. Dieser Ansatz hilft Kundinnen und Kunden, in den Weiten des Internets das zu finden, was sie brauchen – und das auf bequeme Art und Weise.

Unternehmen, die nur auf Exploitation setzen, schränken sich jedoch selbst ein. Manchmal schätzen Verbraucherinnen und Verbraucher Empfehlungen für Produkte, die außerhalb ihrer Komfortzone liegen und mit denen sie neue Dinge ausprobieren können. Durch psychografisches Targeting können Unternehmen ihnen genau das bieten: Anstatt die Suche nach der „Sony Alpha DSLR“ als direkten Targeting-Input zu betrachten, könnte der Algorithmus sie auch als Anzeichen dafür interpretieren, dass die Person offen für neue Erfahrungen ist, und ihr eine Reihe anderer Produkte vorschlagen, die zur Suchanfrage passen. Wie wäre es zum Beispiel statt einer Packung Ersatzbatterien oder eines Stativs mit Acrylfarben oder einem Buch über Philosophie?

Handeln Sie ethisch verantwortungsvoll. Die Pleite von Cambridge Analytica, das die Profile von Millionen ahnungs­losen Facebook-Nutzern über die Konten ihrer Freunde ausgespäht und ohne ihr Wissen Persönlichkeitsprofile erstellt hat, ist ein warnendes Beispiel für Unternehmen, die mit dem Gedanken spielen, psychografisches Targeting ohne Kundenwissen einzusetzen. Den Ansatz ethisch vertretbar zu implementieren bedeutet nicht einfach nur, das Richtige zu tun und Gegenreaktionen zu vermeiden. Angesichts sich verschärfender Datenschutzbestimmungen und der Tatsache, dass wichtige Player wie Apple den Zugang zu Daten Dritter einschränken, könnte psychografisches Targeting sich bald auch als das vielversprechendste Geschäftsmodell erweisen – und die einzige Möglichkeit, an Kundendaten zu kommen.

Von mir als Wissenschaftlerin und meinen Forschungskollegen wird erwartet, dass wir uns in unserer Forschung an grundlegende ethische Prinzipien halten. Diese Prinzipien sollten auch Unternehmen als Kompass dienen.

  • Menschen respektieren: Schützen Sie die Autonomie der Verbraucherinnen und Verbraucher, und behandeln Sie sie mit Respekt.

  • Wohltätigkeit: Folgen Sie dem Grundsatz, niemandem Schaden zuzufügen, während Sie die Vorteile für Ihre Kunden und die Gesellschaft maximieren und die Risiken minimieren.

  • Gerechtigkeit: Nutzen Sie angemessene, gerechte und nicht ausbeuterische Verfahren (die zum Beispiel sicherstellen, dass alle Kundinnen und Kunden gleichermaßen von Ihrem Angebot profitieren).

Diese Grundsätze sind allgemein genug gehalten, dass Unternehmen sie an ihre individuellen Geschäftsprozesse anpassen können. Sehen wir uns nun am Beispiel unseres Projekts mit Hilton an, wie sie in konkrete Handlungsrichtlinien übersetzt werden können.

Beziehen Sie Ihre Kunden mit ein. Hilton hat seine Kundinnen und Kunden in jeder Phase der Entwicklung einbezogen. Ihnen wurde offen mitgeteilt, welche Informationen aus ihren Facebook-Profilen gesammelt würden (etwa ihre Likes) und – noch wichtiger – wie diese verwendet werden würden. Hilton hat sie auch darüber informiert, welche Vorhersagen das Unternehmen anhand dieser Daten treffen würde, und ihnen zugesichert, diese niemals an Dritte weiterzugeben. Diese Form der Transparenz sollte Standard sein.

Unternehmen können noch einen Schritt weitergehen und ihren Kunden die Möglichkeit geben, ihre Persönlichkeitsprofile zu überarbeiten. Das schafft Vertrauen und führt zu mehr Engagement und langfristiger Loyalität. Und: Vorhersagen sind nie perfekt. Wenn Sie Ihre Kunden an der Profilerstellung beteiligen, können diese mögliche Fehler korrigieren, wodurch die Qualität Ihrer Insights steigt. Weitergedacht könnte das sogar bedeuten, die automatische Datengenerierung durch motivierende Fragebögen zu ersetzen. Dann müssten Sie keine begründeten Vermutungen mehr anstellen, sondern könnten Ihre Kunden direkt fragen, wie sie sich gern sehen würden oder wer sie mithilfe Ihrer Produkte oder Dienstleistungen werden möchten. Mit potenziellen Kunden funktioniert das nicht, mit bestehenden schon.

Machen Sie Personalisierung zu einem Teil Ihres Wertversprechens. Wenn Sie Ihre Kundinnen und Kunden um deren Daten bitten, sollten Sie ihnen so viel Mehrwert und Informationen wie möglich zurückgeben. Ziel der Reise-App von Hilton war, die Kundenbindung zu stärken und dadurch den Gewinn zu erhöhen. Die App schlug den Kunden passendere und ansprechendere Reiseziele vor und bot ihnen interessante Einblicke in ihre Reisepräferenzen. Machen Sie Ihre Kundinnen und Kunden also unbedingt auf Ihre Personalisierungsbemühungen aufmerksam, damit diese sie wertschätzen können. Dies erreichen Sie wesentlich einfacher, wenn Sie Opt-in-Verfahren einsetzen. Im Gegensatz zu Opt-out-Verfahren erheben Sie dabei den Schutz personenbezogener Daten zum Standard und müssen Ihren Kunden die Vorteile der Datenverarbeitung darlegen, woraufhin diese ihr gern zustimmen werden.

Erheben Sie nur essenzielle Daten. Betrachten Sie Daten als radioaktiv. Erheben Sie so wenig wie möglich, und halten Sie diese auch nur so lange wie nötig vor. Hilton hat von Anfang an zugestimmt, dass es nur die Persönlichkeitsprofile der Nutzerinnen und Nutzer behalten würde, nicht aber die Rohdaten, die mit deren Einwilligung aus ihren Facebook-Profilen extrahiert wurden. Diese Daten wurden von einem Programm verarbeitet, das mein Forschungslabor entwickelt hat, und sofort gelöscht, als sie nicht mehr benötigt wurden. Mittlerweile gibt es viele neue Technologien (etwa Föderales Lernen), mit denen Unternehmen die Insights, die sie brauchen, generieren können, ohne die tatsächlich zugrunde liegenden Daten sammeln zu müssen.

Betrachten Sie Daten als ­radioaktiv. ­Erheben Sie so wenig wie ­möglich, und löschen Sie sie bald wieder.

Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl. Bevor wir die Reise-App von Hilton auf den Markt brachten, führten wir mehrere Fokusgruppen mit Bestandskunden durch, um zu beobachten, wie sie die App aufnehmen würden. Wenn Sie solche Gruppen nicht durchführen können, sollten Sie sich trotzdem fragen, wie Sie es fänden, wenn Ihre Kinder, Partner oder guten Freunde das von Ihnen entwickelte Produkt oder den neuartigen Service nutzen und dafür ihre personenbezogenen Daten herausgeben würden. Fühlt sich das nicht gut an, stimmt etwas nicht, und Sie sollten Ihre Idee noch mal überdenken. Oder Sie machen den Titelseitentest von Warren Buffett: Wenn Ihre Lokalzeitung auf der Titelseite darüber berichten würde, wie Ihr Unternehmen psychografisches Targeting einsetzt, und Ihre Familie, Freunde und Nachbarn würden den Artikel lesen, wie würden Sie reagieren?

Denken Sie nicht nur ans Verkaufen. Unser Forschungsteam hat gezeigt, dass psychografisches Targeting nicht nur dazu dienen kann, Konsumgüter zu verkaufen. Es ist ein starkes Nudging-Tool, das Menschen zu einem besseren Leben verhelfen kann. Das zeigt ein Projekt, das wir gemeinsam mit SaverLife durchgeführt haben. Die Non-Profit-Organisation hat eine Plattform entwickelt, die einkommensschwache Menschen dabei unterstützt, ein Sparguthaben aufzubauen. Wir haben die auffälligsten Persönlichkeitsmerkmale der Nutzerinnen und Nutzer ermittelt und ihnen dann personalisierte Mitteilungen zukommen lassen – zum Beispiel: „Spare innerhalb von vier Wochen 100 Dollar“.

Rücksichtsvolle und empathische Personen erhielten Nachrichten wie „Spare, um deinen Liebsten eine bessere Zukunft zu ermöglichen“. Egozentrischen, wettbewerbsorientierten Personen schickten wir dagegen Botschaften wie „Jeder Cent, den du sparst, bringt dich schneller ans Ziel!“. In der Kontrollgruppe, die mit den bis dahin erfolgreichsten Werbebotschaften von SaverLife konfrontiert wurde, erreichten 7,4 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer ihr Ziel. In der Gruppe, die auf ihre Persönlichkeit abgestimmte Nachrichten erhielt, waren es 11,5 Prozent – eine Steigerung um 55 Prozent.

Unternehmen können auf diese Weise sogar Gewinnerzielung und Gemeinwohl miteinander verbinden. So könnte Hilton die Persönlichkeitsprofile der eigenen Kundinnen und Kunden auch nutzen, um sie zum Wassersparen aufzurufen oder dafür zu gewinnen, sich in lokalen Projekten zur Förderung von Ökotourismus zu engagieren. Und Konsumgüterhersteller könnten auf psychografischem Targeting basierende Kampagnen einsetzen, um Verbraucherinnen und Verbraucher zum Verpackungsrecycling zu animieren.

Solche Richtlinien haben gemein, dass sie nicht nur fragen, was legal, sondern auch, was ethisch und richtig ist. Wahrscheinlich wird es Ihnen nicht immer gelingen, diesen hohen Standards zu genügen. Wenn Sie die Messlatte jedoch gar nicht erst hochlegen, werden Sie den Ansprüchen auf keinen Fall gerecht.

Fazit

Als ich vor zehn Jahren begonnen habe, mich mit psychografischem Targeting zu beschäftigen, mussten Firmen die Daten noch selbst beschaffen und auswerten. Sie mussten eigenhändig einen Datensatz aufbauen, der digitale Fußabdrücke und die von den Kunden selbst übermittelten Persönlichkeitsmerkmale beinhaltete – und diesen dann regelmäßig pflegen und überprüfen. Häufig mussten sie auch noch selbst herausfinden, wie sie am besten mit Kunden kommunizieren, die ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil haben.

Heute funktioniert all das automatisch. Immer mehr Anwendungen erledigen diese Arbeit für Sie – zumindest einen Großteil. Unternehmen sollten sich deshalb mit einem externen Technologie­anbieter zusammentun. Es ist jedoch ratsam, sich im Vorfeld klarzumachen, was psychografisches Targeting von klassischen Marketingtools unterscheidet und wie man es ethisch verantwortungsvoll einsetzen kann, damit die eigene Kundschaft nicht ungewollt vergrault wird. © HBP 2023

Autorin

Sandra Matzist Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Columbia Business School. Sie arbeitet im Bereich der computergestützten Sozialwissenschaft und erforscht menschliche Verhaltensweisen und Vorlieben unter Anwendung von Big-Data-Analysen sowie herkömmlicher Versuchsmethoden.

Kompakt

Die Chance Psychografisches Targeting – das bewusste Beeinflussen mensch­lichen Verhaltens durch Maßnahmen, die auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale abgestimmt sind – hat sich als Marketingtool etabliert, dank breit verfügbarer Daten, die Einblicke in die Psyche der Verbraucherinnen und Verbraucher gewähren.

Die Gefahr Da psychografisches Targeting eine persönlichere Kundenansprache ermöglicht, eignet es sich gut zur Absatzsteigerung. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, Kunden zu verprellen, wenn diese das Gefühl haben, manipuliert zu werden, oder wenn ihre Daten ohne ihre ­Zustimmung erhoben werden.

Die Lösung Erfolgreiche Marketingteams setzen psychografisches Targeting ethisch verantwortungsvoll ein und nutzen es nur, wenn ­klassische Tools an ihre Grenzen stoßen. Dabei stellen sie sicher, dass die Kunden einen Mehrwert bekommen, und informieren sie darüber, was mit ihren Daten passiert.

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Juni-Ausgabe 2023 des Harvard Business managers.

Marketing: Wie Sie mit psychografischem Targeting Kunden gewinnen

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