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Durch den Technologie-Vorstand Stefan Palzer werden Produkte bei Nestlé nun schneller entwickelt. - Foto: REUTERS
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Nestlé-Technologiechef: „Scheitern heißt heute für uns, dass wir es nicht probiert haben“

Lausanne. Einmal im Monat nimmt sich Stefan Palzer Zeit für ein ausgedehntes Mittagsessen. Dann trifft sich der Technologiechef von Nestlé mit seinem CEO, Mark Schneider. Am Firmensitz im schweizerischen Vevey mit Blick über den Genfer See lassen sich die beiden deutschen Topmanager von Sheldon Fernandes, dem Chefkoch von Nestlé, ein mehrgängiges Menü mit den neuesten Produktentwicklungen des Nahrungsmittelriesen auftischen.

Vieles von dem, was Spitzenkoch Fernandes dem deutschen Manager-Duo auftischt, landet später in den Supermarktregalen auf der ganzen Welt. Seinem Chef sei es ebenso wichtig wie ihm selbst, eng in die Produktentwicklung eingebunden zu sein, sagt Technologievorstand Palzer im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Mark Schneider begeistert sich für Innovationen.“

Bei den Verkostungen bilde sich jeder zu den Neuheiten, die auf den Tisch kommen, eine eigene Meinung, meistens stimmten sie überein. „Nicht alles setzt sich im Markt durch“, räumt Palzer ein. Doch zu befürchten haben die Nestlé-Entwickler nichts. „Wir haben die Definition von Scheitern intern geändert“, sagt der 54-Jährige. Er betont: „Jedes Ergebnis ist wertvoll. Scheitern heißt heute für uns, dass wir es nicht probiert haben.“

Die monatlichen Testessen zeigen: Die Entwicklung neuer Lebensmittel ist bei Nestlé Chefsache. Sie unterstreichen aber auch das besondere Vertrauensverhältnis zwischen CEO Schneider und seinem Technologievorstand. Palzer hat unter dem seit 2016 amtierenden Schneider eine Blitzkarriere hingelegt: Er stieg 2016 zunächst zum Chef des Nestlé Research Center in Lausanne auf und rückte 2018 als Technologiechef in den Konzernvorstand auf.

Schneider vertraute Palzer ein zentrales strategisches Projekt an: das Tempo in der Forschung zu steigern. Im Jahr vor Schneiders Amtsantritt brauchte Nestlé im Schnitt drei Jahre, um ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, von der ersten Konzeption bis zum Start im Handel. Heute sind es sechs Monate.

Nestlé-CEO Mark Schneider: In hohem Tempo hat er den weltgrößten Nahrungsmittelkonzern umgebaut. - Foto: REUTERS
Nestlé-CEO Mark Schneider: In hohem Tempo hat er den weltgrößten Nahrungsmittelkonzern umgebaut. - Foto: REUTERS

Erstmals spricht Palzer ausführlich mit dem Handelsblatt über den Umbau der Produktentwicklung, die CEO Schneider als „eine der größten internen Transformationen, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben“, bezeichnet. Am Anfang stand eine Reise ins Silicon Valley.

Zusammen mit seinem Vorgänger auf dem Posten des Chief Technology Officer, Stefan Catsicas, besichtigte Palzer in Kalifornien Biotech-Firmen. Das Konzept sogenannter Acceleratoren hinterließ Eindruck bei ihm. Acceleratoren helfen Start-ups in der Frühphase mit Kapital, mit Zugang zu Know-how und – in der Biotech-Branche – mit Laboren für die Forschung. Ziel ist es, in einem festgelegten Zeitraum, zum Beispiel in sechs Monaten, Fortschritte in der Produktentwicklung zu erzielen, die sonst Jahre brauchen würden.

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Biotech-Branche als Vorbild für den Nahrungsmittelkonzern Nestlé

Deswegen richtete Palzer von Anfang an Acceleratoren nach dem Vorbild der Biotech-Branche in Nestlés Forschungszentren ein. So kooperiert der Großkonzern mit Start-ups im Lebensmittelbereich. Die Food-Techs können Labore und Testküchen nutzen, Experten aus Forschung und Marketing bei Nestlé ansprechen und auf Studien und Daten aus der Grundlagenforschung zugreifen. Ziel ist es, ein neues Produkt so weit zu entwickeln, dass es im Handel getestet werden kann.

Dabei gibt es zwei Regeln: Die Start-ups haben sechs Monate Zeit – und: „Es gibt keine Limits“, sagt Palzer. „Die Teams haben Zugriff auf unsere gesamte Infrastruktur und Expertise."

Schokoriegel von Nestlé: Alle Neuheiten werden vom Technologiechef und vom CEO persönlich getestet. - Foto: Bloomberg/Getty Images
Schokoriegel von Nestlé: Alle Neuheiten werden vom Technologiechef und vom CEO persönlich getestet. - Foto: Bloomberg/Getty Images

Der erste Accelerator ging 2019 an den Start, inzwischen betreibt Nestlé ein globales Netz von 14 Zentren, allein drei in der Schweiz. Derzeit laufen 50 aktive Kooperationen mit Food-Techs.

Nestlé betreibt zudem eigene Pilotfabriken, in denen die Herstellung innovativer Lebensmittel im größeren Maßstab getestet und für einen ersten Markteintritt produziert werden können. „Wir stoppen nicht bei den Prototypen, sondern wollen die Produkte ins Regal stellen“, erklärt Palzer.

Aus seiner Sicht hat sich das Konzept bewährt. Eine Reihe vielversprechender Neuheiten wurde in Acceleratoren entwickelt, zum Beispiel eine Milchalternative auf Erbsenbasis, die Nestlé unter der Marke „Wunda“ in den Handel gebracht hat.

Veganer Thunfisch von Nestlé: Per Zufall zum Verkaufserfolg

Doch Nestlé verlässt sich nicht allein auf Innovation von außen – im Gegenteil: Der Konzern leistet sich das größte Forschungsteam der Industrie. Mehr als 4000 Mitarbeiter weltweit zählt der Bereich. Budget: 1,7 Milliarden Franken pro Jahr. Sie betreiben Grundlagenforschung, optimieren bestehende Produkte oder arbeiten an Neuerungen wie der veganen Thunfisch-Altenrative „Vuna“.

Mittlerweile in Europa ein Verkaufserfolg, verlief die Entdeckung eher zufällig, wie Palzer berichtet. „Die Kollegen haben an einer Speck-Alternative geforscht.“ Bei der Entwicklung sei man auf ein Produkt gestoßen, dass eine ähnliche Textur wie Dosenthunfisch aufwies.

In solchen Fällen greift Palzers neue Struktur: Die Forscher werden ermuntert, zügig mit einem Team von Köchen um Chefkoch Fernandes einen Prototyp zu entwickeln. Wenn die Tests auch den Geschmack von Palzer und Schneider treffen, ist der Weg frei für die Produktion einiger Testchargen und die probeweise Einführung in ausgewählten Supermärkten. „Heute sind wir schneller als so manches Start-up“, sagt Palzer.

Stefan Palzer bei einer Produktpräsentation: Der Manager verkostet selbst einmal im Monat neue Nestlé-Entwicklungen. - Foto: REUTERS
Stefan Palzer bei einer Produktpräsentation: Der Manager verkostet selbst einmal im Monat neue Nestlé-Entwicklungen. - Foto: REUTERS

Auch Analysten loben die neue Geschwindigkeit des Nahrungsmittelriesen. Patrik Schwendimann, Analyst bei der Züricher Kantonalbank, sagt: „Geforscht hat man bei Nestlé schon immer viel. Aber wichtig ist auch, dass man nicht nur forscht, sondern die PS auch auf die Straße bringt.“

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KI entwickelt neue Rezepturen

Schwendimann habe den Eindruck, „dass man bei Nestlé in den vergangenen Jahren mutiger geworden ist. In der Ära vor Schneider hat man lieber zwei, drei Marktstudien mehr gemacht.“ Gegenüber den deutlich schnelleren Start-ups sei der Nahrungsmittelkonzern daher ins Hintertreffen geraten. „Daher ist die Beschleunigung bei der Lancierung neuer Produkte ein Schritt in die richtige Richtung.“

Die Kombination aus Kooperationen mit Start-ups und schnelleren Eigenentwicklungen habe die Effizienz der Forschungsabteilung messbar erhöht, sagt Palzer. Nestlé habe in drei Jahren die Zahl der Neuerscheinungen um 23 Prozent gesteigert, bei gleichbleibendem Forschungsbudget. In den von Schneider als strategisch angesehenen Bereichen sei die Zahl der Patente um 90 Prozent gestiegen.

Und das zahle sich für den Konzern auch wirtschaftlich aus, sagt Palzer. Das gilt für von Start-ups und für selbst entwickelte Produkte. „Eine Vielzahl der Produkte trägt positiv zum Ergebnis bei, die Marge liegt oft über dem Durchschnitt der Firma, und die Entwicklungskosten sind überschaubar.“

Einen weiteren Effizienzsprung für die Forschungsabteilung erhofft sich der Manager von Künstlicher Intelligenz (KI). Längst mischt KI bei der Entwicklung neuer Rezepturen mit. So trainiert Nestlé verschiedene KI-Modelle mit den umfangreichen firmeninternen Daten. Die KI könnte künftig schon bald bei der Verbesserung von bestehenden Rezepturen oder für wissenschaftliche Erkenntnisse eingesetzt werden.

Dabei gelten strenge Vorschriften: Der Geschmack darf sich nicht verändern, Nährwerte wie Zucker- und Fettgehalt sollten sich verbessern. Eine KI könnte Rezepturen vorschlagen, die einem menschlichen Forscher nicht in den Sinn kommen würden. Nur schmecken muss es dem Menschen – allen voran dem Nestlé-Führungsduo Schneider und Palzer.

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