Warum Unternehmen Karriere-Titel abschaffen
Dienen Titel im Berufsleben der Motivation, oder setzen sie falsche Anreize? Firmen wie Elevenlabs oder der Versicherer Axa schaffen hierarchische Titel ab. Ist das ein Trend?
Das Start-up Elevenlabs hat Titel für alle Beschäftigten abgeschafft. So gibt es seit ein paar Monaten keinen „Chief of Staff“, „Head of Sales“ oder „Events Manager“, also keinen Personal-, Vertriebs- oder Veranstaltungschef mehr, sondern nur noch Teams. Zum Beispiel „Operations“ (Verwaltung), „Research“ (Forschung) oder „Safety“ (Sicherheit).
Auf diese Weise soll sich die Arbeit nicht um die nächste Beförderung, sondern um die besten Ideen drehen, sagt Carles Reina, eigentlich Marketingchef, nun Teil des entsprechenden Bereichs „Go to market“. Elevenlabs entwickelt und forscht an Audiomodellen mit Künstlicher Intelligenz (KI), die Produkte wie Filme, Hörspiele oder Artikel in verschiedenen Sprachen vertonen.
„Wir haben ursprünglich mit Jobtiteln gearbeitet, aber das setzte die falschen Anreize“, erzählt Reina, der auch keinen Führungstitel mehr hat. „Die Leute waren im Grunde nur daran interessiert, den gleichen Titel zu haben wie jemand anderes im Unternehmen“. Wer bei Elevenlabs nun einen Karrieresprung macht, erhält deswegen keine andere Bezeichnung mehr, dafür aber mehr Verantwortung oder ein höheres Gehalt.
Was bringt der Verzicht auf Titel?
Bisher hat das Start-up damit überwiegend positive Erfahrungen gemacht – auch wenn es hin und wieder zu Missverständnissen kommt. Ein Investor sei beispielsweise verwirrt über Reinas fehlenden Titel gewesen, sagt Reina: „Es war ihm total unklar: ‚Rede ich gerade mit der richtigen Person? Wer ist dieser Typ überhaupt?‘“, erzählt er und lacht. Das passiere auch bei Kunden, kläre sich aber schnell auf.
Um trotz fehlender Berufsbezeichnungen die richtigen Bewerber zu finden, achtet die Firma auf genaue Jobbeschreibungen und Transparenz. „Wir ziehen jetzt tatsächlich sogar noch bessere Kandidaten an als vorher“, sagt Reina. Ein positiver Nebeneffekt sei, dass sich Anwärter, die nur an einem bestimmten Titel interessiert seien, selbst herausfiltern würden.
Ob der Ansatz dauerhaft funktioniert, bleibt offen. „Die große Frage ist, wie sich dieses Modell weiterentwickelt, wenn wir 500 oder sogar 1000 Beschäftigte haben“, sagt Reina. Derzeit hat Elevenlabs rund 150 Teammitglieder – Tendenz steigend. „In den kommenden Monaten werden wir das Konzept weiterentwickeln müssen, während wir als Unternehmen wachsen.“
AXA STREICHT GÄNGIGE TITEL
Die Axa Schweiz hat jetzt bereits seit rund einem Jahr kaum noch Titel für leitende Angestellte. Die 7500 Angestellten des Versicherers kämen seither ohne Bezeichnungen aus, die „in erster Linie symbolischen Charakter hatten“, sagt eine Sprecherin. Dazu zählen auch gängige Titel wie „Vice President“ oder „Director“.
Wir sind davon überzeugt, dass ein Unternehmen unserer Größe eine Art Hierarchie benötigt.AXA Schweiz
Die Versicherungsgesellschaft begründet das so: Wer ein progressives Klima vorantreiben und Machtstrukturen abbauen wolle, sei auf solche Titel nicht angewiesen. „Alle Beschäftigten, unabhängig von der Funktion oder Position im Unternehmen, sollen sich bei der Axa einbringen und mitgestalten können.“
Anstelle von Titeln gibt es bei Axa deswegen nun 13 „Joblevel“, die sich nach der Verantwortungsebene eines Mitarbeiters richten und entsprechend der Funktion vergeben werden. Ausnahmslos wurden die Titel aber nicht abgeschafft: Bestimmte Rollen wie „Abteilungsleiter“ existieren weiter.
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„Wir sind davon überzeugt, dass ein Unternehmen unserer Größe eine Art Hierarchie benötigt“, sagt eine Sprecherin. Die wolle man aber auf Verantwortung gründen – nicht auf Status. Und offenbar auch nicht auf Jobbezeichnungen, unter denen beim ersten Hören niemand etwas Konkretes versteht.
TITEL ERFÜLLEN HÄUFIG IHRE FUNKTION NICHT
Denn oft genug erfüllen Titel ihre Funktion nicht. Eine Bezeichnung wie zum Beispiel „Director of First Impressions“ für einen Empfangsmitarbeiter, die laut einer Harvard-Studie häufig von US-Unternehmen genutzt wird, lasse keinerlei Rückschlüsse darauf zu, was die betreffende Person im Berufsalltag mache, erklärt Hannes Zacher, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Leipzig.
„Für Unternehmen hätte eine Abschaffung den Vorteil, dass Beschäftigten viele unterschiedliche Aufgaben übertragen werden können“, sagt Zacher. Mitarbeitende könnten so eher neue und herausfordernde Aufgaben übernehmen und müssten sich nicht mehr im „Käfig eines Jobtitels“ bewegen.
Was Studien auch zeigen: Für die Zusammenarbeit in Teams ist eine stark ausdifferenzierte Hierarchie nicht förderlich – im Gegenteil. Der Arbeitspsychologe empfiehlt daher den Weg, den auch Axa gegangen ist: Unternehmen sollten Hierarchieebenen und die damit verbundenen Jobbezeichnungen auf das Mindestmaß reduzieren, das sie für erforderlich halten.
Bei Axa hat sich seit dem Schritt viel getan. Angestellte arbeiten aus Sicht des Unternehmens zum Beispiel nicht mehr auf eine Beförderung hin, um einen neuen Titel zu erhalten, sondern weil sie mehr Verantwortung übernehmen möchten. Dieser Teamgeist sei nun noch stärker im Unternehmen spürbar, sagt die Sprecherin.
Bei der Belegschaft komme das System gut an. Trotzdem gebe es teilweise noch Verständnisfragen und kritische Hinweise, etwa wenn Funktionen nicht verständlich genug beschrieben seien. Deshalb gibt es einen „Job-Katalog“, indem alle 450 Funktionen des Unternehmens erklärt werden. An diesem werde kontinuierlich gearbeitet, indem neue Rollen ergänzt und bestehende angepasst oder entfernt würden.
Funktionen eines Job-Levels sind in Bezug auf den Schwierigkeits- und Verantwortungsgrad, das Ausbildungs- und Erfahrungsniveau sowie die Bezahlung miteinander vergleichbar. Auf „Level 6“ sind das zum Beispiel der „Underwriter“, der Risiken bewertet und über Versicherungsanträge entscheidet, der „Specialist Compliance“, der für das Einhalten gesetzlicher Regelungen verantwortlich ist oder der „Senior Specialist Treasury“, der die Konten der Axa überwacht.
ARBEITSPSYCHOLOGE SIEHT KOMPLETTE ABSCHAFFUNG VON TITELN SKEPTISCH
Sollten also Jobbezeichnungen ganz abgeschafft werden? Arbeits- und Organisationspsychologe Zacher sieht das kritisch. „Jobtitel haben eine wichtige Funktion, weil sie signalisieren, welche Kompetenzen jemand hat.“
Hat jemand keinen solchen Titel, könne das sogar dazu führen, dass er schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe – weil Arbeitgeber nicht auf den ersten Blick wüssten, wo sein Aufgabenbereich liege. Bewerber könnten wiederum vor Stellen ohne Bezeichnung zurückschrecken, weil der Anreiz für eine Beförderung fehlt, so Zacher.
Jobtitel sollen aber nicht nur darüber informieren, wo die Kompetenzen eines Menschen liegen – sie dienen dem Managementexperten und Buchautor Adam Grant zufolge auch als „Identitätsabzeichen“.
In einer Studie, die Grant 2014 gemeinsam mit anderen Forschern gemacht hat, konnten die Wissenschaftler zeigen: Stellenbezeichnungen fördern die Motivation von Beschäftigten – allerdings nur dann, wenn sie selbst mitbestimmen können, welchen Titel sie tragen.
„Dieser Wunsch nach Selbstausdruck hat auch dazu geführt, dass Jobtitel immer weiter ausdifferenziert werden“, sagt Zacher. Berufsbezeichnungen sollten sich aber laut dem Berufsexperten weniger auf den Platz einer Person in der Unternehmenshackordnung beziehen – so wie etwa bei einer „Juniorprofessorin“ – sondern stärker darauf, was diese Person tagtäglich tut.
WARUM DIE DWS-GROUP TITEL WIEDER EINGEFÜHRT HAT
Nicht immer machen Unternehmen mit weniger Titeln gute Erfahrungen wie das KI-Start-up Elevenlabs oder der Versicherer Axa. So strich auch die Deutsche-Bank-Tochter DWS 2019 viele Titel wie „Managing Director“ oder „Associate“, die vor allem für die Position eines Mitarbeiters im internen Machtgefüge stehen. Stattdessen arbeitete die Fondsgesellschaft nur noch mit Rollenbeschreibungen wie zum Beispiel „Team Lead“.
Vier Jahre später drehte DWS die Entscheidung zurück – und führte die Titel für ihre knapp 4700 Beschäftigten wieder ein. Das Problem: Es habe ein „global vergleichbares Einstufungssystem“ gefehlt, „das die Seniorität und Verantwortungsebenen im Unternehmen angemessen widerspiegelt“, sagt eine Sprecherin. Denn mit ihrem Modell blieb die DWS in der stark hierarchiegeprägten Finanzbranche eine Ausnahme.
Mit der Rückkehr zu Titeln will sich der Fondsanbieter nun wieder stärker an internationalen Praktiken orientieren und dadurch wettbewerbsfähig bleiben. Zum Teil sind mit den Titeln im Ausland auch Kündigungsfristen oder Mitarbeiter-Benefits wie Firmenwagen oder Sportmitgliedschaften verbunden.
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2019 sei es das Ziel gewesen, „mehr Transparenz und Verständnis für die verschiedenen Karrierewege und -möglichkeiten zu schaffen – nicht nur innerhalb der Teams, sondern im gesamten Unternehmen“, erklärt die DWS. Wenn es heute um Themen wie Bezahlung oder Aufstiegsmöglichkeiten geht, nutzt DWS weiter die 2019 definierten Rollen zur Orientierung.
Damit ein Arbeiten ohne Berufsbezeichnungen gelingt, braucht es nach Ansicht des Arbeitspsychologen Zacher Klarheit über die Aufgaben und Strukturen. Gibt es die nicht, laufen Unternehmen Gefahr, ihre Angestellten zu vergraulen – weil sie sich zu wenig wertgeschätzt fühlen.
