Achtung, Reichelt! Die Details aus 132 Seiten US-Klageschrift gegen Axel Springer

Die MeToo-Affäre rund um Julian Reichelt hat juristische Folgen. Eine seiner Ex-Geliebten hat Klage auf Schadenersatz eingereicht. Nicht gegen den ehemaligen Bild-Chef, sondern Axel Springer. Sie wirft dem Konzern Versagen auf ganzer Linie vor. In der 132-seitigen Klageschrift will sie Rechtsverstöße in elf Punkten geltend machen – und belastet neben Reichelt und der Konzernführung zahlreiche weitere Mitarbeiter. Damit geht erstmals eine der betroffenen Frauen namentlich in die Offensive. Ebenso besonders: Der Rechtsstreit wird vor einem US-Gericht ausgetragen.

Eineinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Compliance-Verfahrens gegen Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt und bald ein Jahr nach seinem Rauswurf hat sich die Lage innerhalb des Axel-Springer-Konzerns alles andere beruhigt. Auch wenn es zuletzt verhältnismäßig still geworden war, befand man sich hinter den Kulissen weiter in Alarmbereitschaft. Vor allem ein Artikel der Financial Times im Februar dieses Jahres ließ befürchten, dass eine der größten Krisen des einflussreichen Medienunternehmens noch lange nicht überstanden war. In dem Artikel, der sich ausführlich mit den Vorwürfen des Machtmissbrauchs durch Ex-Bild-Chef Reichelt befasste, hieß es:

„Trotz der Entlassung von Reichelt haben viele der betroffenen Frauen nicht das Gefühl, dass sie ihren Kampf gewonnen haben. Sie argumentieren, dass das Unternehmen sich noch immer nicht vollständig für die Geschehnisse und seine eigene Rolle entschuldigt hat.“

Eine dieser Frauen – im Artikel anonym – sagte:

„Es ist immer noch dasselbe Axel Springer“

„Sie ignorieren uns, schon wieder.“

Die Sätze klangen wie eine Ankündigung, dass da noch was kommen würde. Ob bewusst oder nicht: Sie sollten sich bewahrheiten.

Zumindest eine Frau will offenbar nicht weiter ignoriert werden. Sie will Axel Springer zur Rechenschaft ziehen. Seit etwa drei Wochen ist dort bekannt: Die Affäre Reichelt hat juristische Folgen. Und die könnten es in sich haben.

Mitte August hat Johanna Sophie Gerber, eine der ehemaligen Geliebten Reichelts, eine Zivilklage am Los Angeles County Superior Court eingereicht. Medieninsider nennt den Namen der ehemaligen Bild-Mitarbeiterin, weil sie darüber hinaus bereits einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist. 2012 nahm sie als Finalistin an einer Castingshow im deutschen Fernsehen teil.

Die als Beschäftigungsbeschwerde registrierte Klage wurde vom Gericht angenommen, ein erster Gerichtstermin bereits für Mitte Dezember angesetzt. Die Klage richtet sich gegen die in den USA ansässige Axel Springer Services Inc. sowie gegen die Bild GmbH und bis zu 25 weitere, aber bislang nicht näher genannte, juristische oder natürliche Personen.

Berechtigt zur Klage in den USA ist die ehemalige Geliebte Reichelts, da sie derzeit, aber auch während ihrer Arbeit für Bild in Kalifornien tätig war und sie gegen dortige, potenzielle Rechtsverstöße vorgeht. In der Klage heißt es, man wolle die weiteren Beklagten benennen, sobald sie sich identifizieren lassen. Damit behält sich die Klägerin vor, gegen weitere Verantwortliche vorzugehen oder bisherige abzuändern. Eine Besonderheit im US-Recht, wie P. Matthew Roy, vom Lehrstuhl für US-amerikanisches Recht an der Universität Köln erklärt.

Vertreten lässt sich Gerber von der Bononi Law Group aus Pasadena in Kalifornien. Die US-Kanzlei, die ihre Website mit einem Anzugträger in Boxhandschuhen illustriert, ist auf Diskriminierungsfälle am Arbeitsplatz spezialisiert und gibt an, die Interessen ihrer Mandanten „aggressiv“ zu vertreten. Ihr Anwalt William S. Waldo wirbt für sich als einer der „erfahrensten Prozessanwälte in Amerika“, der bereits Prozesse mit Streitwerten von mehr als 200 Millionen US-Dollar geführt habe.

Der Gang vor Gericht ist für alle Beteiligten brisant

Für Johanna Gerber, weil…

► sich mit ihr erstmals eine der Frauen, mit denen Reichelt eine der umstrittenen Beziehungen beziehungsweise Affären hatte, ihre Anonymität aufhebt. Sie erhebt schwere Vorwürfe und stellt sich zugleich dem Druck der Öffentlichkeit.

Für Julian Reichelt, weil…

► in der Klage Vorwürfe konkretisiert werden, die er in der Vergangenheit pauschal bestritten hatte. Reichelt baut gerade ein neues Medienunternehmen auf, versucht mit seiner YouTube-Sendung Achtung, Reichelt so etwas wie Fernsehen zu machen. Bei Erfolg könnte die Klage das Potenzial entwickeln, ihn weiter zu beschädigen. Unter Umständen auch geschäftlich.

► der Schaden wohl trotzdem da wäre, auch wenn die Klage scheitern sollte. Allein durch den Schritt vor das US-Gericht wird die Affäre noch einmal in die Öffentlichkeit getragen.

Besonders brisant ist die Klage aber für Axel Springer:

Die Klage enthält die Forderung nach einer noch nicht bezifferten Summe auf Schadenersatz. Setzt sich die Klägerin in allen elf Punkten durch, kann das sehr teuer werden. In den USA werden solche Verfahren in anderen Dimensionen verhandelt als beispielsweise in Deutschland. Ohnehin sind Verfahren in den USA um ein Vielfaches teurer.

► In der Klageschrift werfen Gerber und ihr Anwalt den Springer-Mitarbeitern und Springer selbst vor, sie in „verachtenswerter, unterdrückerischer und böswilliger Weise“ geschädigt zu haben. Man habe Gerber unter „bewusster Missachtung ihrer Rechte“ als Arbeitnehmerin „ärgern, verletzen und belästigen“ wollen. Dies entspräche den Tatbeständen der „Unterdrückung, des Betrugs oder der Arglist.“ Den Arbeitgeber treffe eine besondere Schuld, da dies in seinem Wissen geschehen sei. In der Klage wird gefordert, „ein Exempel zu statuieren“.

► Nachdem die Causa Reichelt bereits in internationalen Medien wie der New York Times oder der Financial Times berichtet worden war, dürfte das Verfahren auch dort wieder auf Aufmerksamkeit stoßen – besonders, weil Axel Springer mit KKR einen dominanten US-Investor an Bord hat und derzeit massiv in den USA expandiert.

► Auch dürfte das Verfahren in den USA medial anders begleitet werden, da es Vorwürfe der sexuellen Belästigung, Diskriminierung und Beihilfe beinhaltet – MeToo-Themen, bei denen in den USA eine größere Sensibilität herrscht als in Deutschland.

► Mit der Klage, die sich in erster Linie auf Vorkommnisse während Gerbers Arbeit für Bild in Kalifornien bezieht, werden Vorwürfe gegen Julian Reichelt und Axel Springer noch einmal vertieft. Die Klage enthält die Wiedergabe aus Sicht der Ex-Geliebten über eine mehrere Jahre anhaltende On-Off-Beziehung beziehungsweise -Affäre. Darüber hinaus werden Namen von vermeintlichen Mitwissern oder Mittätern genannt und diese damit belastet.

► Das dürfte erneut die Frage nach dem Fehlverhalten vieler verantwortlicher Mitarbeiter bei Springer aufwerfen, aber auch erneut Druck auf den Vorstand erhöhen, der nach dem Abschluss des Compliance-Verfahrens zunächst an Reichelt festgehalten hatte. In der Klageschrift wird an mehreren Stellen der Vorwurf formuliert, dass Springer-Verantwortliche bereits seit 2019 von Problemen mit Reichelt und Beschwerden gewusst haben sollen, allerdings nichts unternommen worden war. Der Vorgang wird die Frage aufwerfen, ob Springer nicht doch versucht hat, gewichtige Vorkommnisse herunterzuspielen beziehungsweise unter den Teppich gekehrt zu haben.

► Bislang legten die Frauen, die Vorwürfe erhoben hatten, größten Wert auf Anonymität. Aus Unternehmenskreisen war immer wieder zu hören, dass sich das Compliance-Verfahren auch deshalb so schwierig gestaltete. Man habe Reichelt nicht ordentlich mit den erhobenen Vorwürfen konfrontieren können.

Klage in elf Punkten: Diese Rechtsverletzungen wirft die Ex-Geliebte Axel Springer vor

Die Frage, weshalb Gerber ausgerechnet jetzt, eineinhalb Jahre nach dem Compliance-Verfahren, den Schutz der Anonymität aufgibt und gerichtlich gegen Axel Springer vorgeht, ließ Gerber unbeantwortet. Medieninsider hatte die Klägerin über ihren US-Anwalt angefragt und einen ausführlichen Fragenkatalog zu Motiven ihres Vorgehens und ihren Aussagen geschickt.

Axel Springer wird in der Klageschrift Rechtsverstöße in insgesamt elf Punkten vorgeworfen, darunter sexuelle Belästigung, Vergeltungsmaßnahmen, Beihilfe zur Belästigung, Diskriminierung und Vergeltung sowie der Vorwurf, nichts dagegen unternommen zu haben. Darüber hinaus enthält die Klage mehrere Vorwürfe, gegen Arbeitnehmerrechte verstoßen zu haben.

Springer will sich auf Nachfrage zu den Vorwürfen und Schilderungen Gerbers nicht äußern. Die Klage sei eingegangen und werde von Juristen geprüft, so ein Sprecher gegenüber Medieninsider. Auch direkt an CEO Mathias Döpfner gerichtete Fragen bleiben unbeantwortet. Man wolle sich zu gegebener Zeit zu den Vorwürfen äußern.

Medieninsider liegt die 132 Seiten umfassende Klageschrift (inkl. Anhänge) vor. Die Anschuldigungen werden auf 38 Seiten ausgeführt, es werden chronologisch und ausführlich sowohl die Beziehung zwischen Julian Reichelt und seiner Ex-Geliebten ausgebreitet als auch das Zustandekommen und der Ablauf des Compliance-Verfahrens. Mit dieser umfassenden Darstellung soll offenbar die Schwere der potenziellen Rechtsverstöße in den USA unterstrichen werden.

Es ist wichtig, an der Stelle noch einmal zu betonen, dass die Klageschrift lediglich die Ansichten Johanna Gerbers wiedergibt, viele Stellen lesen sich wie Erinnerungen. Für viele Behauptungen und Zitate fehlen zumindest bislang Belege. Aussagen oder Belege von anderen Seiten, beispielsweise von Axel Springer oder Julian Reichelt, stehen aus und würden erst im Laufe des so genannten Discovery-Verfahrens hinzukommen.

Die Besonderheit des amerikanischen Zivilrechts lässt es überhaupt zu, dass die Klage mit zahlreichen Tatsachenbehauptungen und vergleichsweise wenig Belegen eingereicht werden kann. Anders als im deutschen Recht findet die Beweiserhebung als Teil des gerichtlichen Verfahrens, im bereits angesprochenen Discovery-Verfahren, statt. Rechtsexerte Roy: „Das kalifornische Prozessrecht verlangt nicht, dass der Klägerin sämtliche klagerelevanten Tatsachen zum Zeitpunkt der Klageeinreichung bewusst sind. Es reicht, wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen genügend Tatsachen vorträgt, die auf die Annahme eines Anspruchs schließen lässt.“ So soll beispielsweise ermöglicht werden, dass die Klägerin an Belege kommt, die sie beispielsweise auf der Seite der Beklagten vermutet.

Medieninsider hat Julian Reichelt bereits am vergangenen Freitag einen ausführlichen Fragebogen zu den in der Klage formulierten Vorwürfen geschickt. Reichelt erklärte, die Fragen nicht vor Mittwochvormittag beantworten zu können. In der Mail mit Bitte um Fristaufschub bezeichnete er die Vorwürfe allerdings bereits pauschal als „erfundene Vorgänge, die Jahre zurückliegen“. Gegenüber der Zeit, die am Montagabend nach Bekanntwerden der Klage durch Medieninsider berichtete, führte er aus: Die Schilderungen Gerbers seien „kompletter Unsinn und frei erfunden“. Es gehe darum, ein „bestimmtes Narrativ“ durchzusetzen.

Gerbers Klage ist in insgesamt 20 Unterkapitel unterteilt.

Die detaillierte Zusammenfassung kannst du als Medieninsider hier lesen:

Achtung, Reichelt! Die Details aus 132 Seiten US-Klageschrift gegen Axel Springer

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