„Bei der lateralen Führung wird immer noch geführt“
Die Hierarchien in den Unternehmen werden immer flacher. Und damit wandelt sich auch der Umgangston: Manager befehlen nicht mehr von oben herab, sondern führen auf Augenhöhe. Das ist ziemlich anspruchsvoll, lässt sich aber lernen.
Natürlich habe sie auch eine Visitenkarte. „Sonst wissen Geschäftspartner nicht, wofür ich zuständig bin“, sagt Nouchine Humbert, die seit fünf Jahren als Managerin beim Materialhersteller Gore arbeitet. Doch den Titel Global Marketing Director, der auf der Karte unter ihrem Namen steht, kennt kaum jemand im eigenen Unternehmen. Die 48-Jährige hat ihn sich selbst gegeben. „Für meine Kollegen hat mein Titel keine Bedeutung.“
Gore arbeitet schon seit der Unternehmensgründung 1958 mit flachen Hierarchien: Statussymbole wie den prestigeträchtigen Posten oder das Eckbüro gibt es bei dem Spezialisten für Hightechmaterialien nicht. Und erst recht treffen Führungskräfte Entscheidungen nicht im Alleingang und reichen Befehle durch.
Stattdessen zählt das Team: Projektverantwortliche wie Humbert, Champion genannt, müssen andere für ein Projekt und für die Zusammenarbeit in einem Team erst gewinnen und sind dann dafür zuständig, dass die Kommunikation klappt und alle an einem Strang ziehen. So erarbeiten sie sich Fellowership, wie es firmenintern heißt. Nur wer sein Team überzeugt, wird auch künftig Projekte leiten.
Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
Autorität auch ohne Status
Gore mag ein Extremfall sein. Doch weltweit entdecken immer mehr Unternehmen die Vorteile flacher Hierarchien: Anfang des Jahres strich die Schweizer Großbank UBS drei Ränge im Top-Management, und im Mai gab Siemens Energy bekannt, jeden dritten Managementposten zu streichen: Statt bislang bis zu elf Hierarchieebenen sollen es künftig maximal sechs sein. Entscheidungen fallen schneller, wenn sie nicht erst alle Instanzen durchlaufen müssen; Mitarbeiter werden ohne Druck von oben kreativer.
Doch diese neuen Strukturen stellen Führungskräfte vor enorme Herausforderungen: Wie lassen sich Teams leiten, wenn Befehlsketten wegbrechen und der Status allein noch keine Autorität verleiht? Eine Lösung liegt in der lateralen Führung, also in der Führung auf Augenhöhe: Vorgesetzte gelten dabei nicht länger als Alleinherrscher, denen alle zu folgen haben. Stattdessen fördern sie die verschiedenen Kompetenzen im Team, leiten es von der Seite aus – lateinisch: lateral. Auch weil die meisten Mitarbeiter heute sehr gut ausgebildet und selbstbewusst sind, wie Bennet van Well, Partner bei der Managementberatung Metaplan, sagt.
„Sie sind die eigentlichen Experten für ihren Job, deshalb wollen sie eigene Ideen einbringen und selbst entscheiden, wie sie ihre Aufgaben erledigen, anstatt nur Direktiven von oben abzuarbeiten.“ Das mache den Job der Führungskraft nicht überflüssig, so der Experte, aber anspruchsvoller. Sie müsse stärker für die eigenen Ideen werben, auf die Kompetenz ihrer Mitarbeiter vertrauen, für reibungslose Kommunikation im Team sorgen. So wird die Autorität von Führungskräften neu definiert: Nicht allein ihr Posten garantiert Einfluss, sondern andere Werte – etwa Erfahrung und Fachwissen, aber auch Charisma und Menschenkenntnis.
Matthias Vaagt sah sich am Anfang seiner Laufbahn als Karrierist alter Schule. „Nach dem Studium wollte ich erst einmal wichtige Posten ergattern“, erinnert sich der IT-Experte. Doch schon bald nach der Ernennung zum Teamleiter fühlt er sich eingeengt: Immer wieder muss er damals auf Entscheidungen von oben warten. Denn sein Spezialgebiet, Data Analytics, gilt als so komplex, dass manch ein Vorgesetzter seinen Ausführungen nur mühsam folgen kann. Entsprechend lange wartet Vaagt mitunter auf die Zustimmung, um endlich weiterarbeiten zu können.
Deshalb zögert der 31-Jährige nicht, als sich die Chance auf einen Wechsel zur Otto Group ergibt: Der Handelskonzern in Hamburg stellt derzeit seine IT-Abteilung immer stärker auf laterale Führung um. Vaagt leitet dort ein vierköpfiges Team – und erlebt, wie sich Entscheidungen beschleunigen.
Grundlage dafür sind enge Absprachen am Anfang jedes neuen Projektes: Darin legt der Manager gemeinsam mit seinem Team verbindliche Ziele und einen Zeitplan fest. Besprochen wird auch, wer welche Aufgabe übernimmt. Dann aber arbeiten alle so selbstständig wie möglich. Über den Fortgang des Projektes tauschen sie sich täglich bei kurzen Meetings aus. „Dieser regelmäßige Abgleich ist extrem wichtig, um mögliche Probleme rechtzeitig zu erkennen – schließlich laufen bei mir als Führungskraft nicht mehr automatisch alle Fäden zusammen“, erläutert Vaagt. Er verlasse sich darauf, dass Mitarbeiter offen miteinander reden und ihre Entscheidungen stets im Sinne des Unternehmens fällen.
In wichtigen strategischen Fragen dagegen setzt Vaagt selbst Akzente: „Nicht alle Entscheidungen in meinem Team fallen demokratisch“, betont er. Seit knapp einem Jahr arbeitet der Datenspezialist nun bereits als laterale Führungskraft. Und anders als zu Beginn seiner Karriere definiere er seinen Erfolg heute nicht mehr über die Zahl der Menschen, die unter ihm arbeiten, sagt er. Sondern an der Qualität der Projekte, die er mit seinem Team vorantreibe.
Diese Umstellung falle jedoch nicht jeder Führungskraft so leicht, betont Martina Nieswandt von der Mannheimer Unternehmensberatung Denkwerkstatt für Manager. Bereits seit Jahren begleitet sie Firmen, die ihre Hierarchien verschlanken. Dieser Prozess sei immer ein Kraftakt, schließlich bringt er Managern einen gewaltigen Kontrollverlust. Bis zu 20 Prozent verlassen ihr Unternehmen daraufhin sogar, hat Nieswandt beobachtet. Sie kenne aber auch manchen Top-Manager, der erstaunt ist, wie gut die Führung auf Augenhöhe nach einiger Zeit funktioniere. Ein Geschäftsführer aus dem Mittelstand habe ihr gesagt, er wolle zwar kein Partyboot leiten, aber eben auch keine Galeere.
Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen
