„Komm mir nicht zu nah!“ – Wie schaffen wir ein gewaltfreies Arbeitsumfeld?
Wie können Unternehmen und Führungskräfte ihre Mitarbeitenden vor emotionaler und physischer Gewalt schützen? Eine Bedrohungsmanagerin gibt Antworten.
Ein Interview von Kristina Appel
Gewalt am Arbeitsplatz ist keine Seltenheit. Jede·r elfte Arbeitnehmer·in wurde in den drei Jahren vor der Coronapandemie Opfer von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Das belegen Zahlen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Auch andere Konflikte am Arbeitsplatz häufen sich: Fast 30 Prozent der Befragten einer Studie von Statista und YouGov berichten von Mobbingerfahrungen im Berufsumfeld. Als Bedrohungsmanagerin bei der Deutsche Telekom weiß Dr. Claudia Brandkamp gut, wie Unternehmen pro- und reaktiv mit emotionaler und physischer Gewalt umgehen können.
XING News: Was macht eine Bedrohungsmanagerin?
Claudia Brandkamp: Meine Aufgabe ist die Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz. Ich bin Ansprechpartnerin für alle Beschäftigten, egal welcher Hierarchieebene und Funktion. Mobbing, Stalking, sexuelle Belästigung – egal ob Mitarbeitende sie beobachten oder selbst erfahren – das sind alles Themen, um die ich mich kümmere.
Mit welchen Bedrohungen muss ein Konzern wie Ihrer umgehen?
Wir behandeln jedes Vorkommen, nicht nur unter Kolleg·innen. Auch im Kontakt mit Kund·innen kann es zu verwirrenden oder unangenehmen Situationen kommen. Wir untersuchen jeden Fall und helfen weiter.
Geht es dabei nur um Dinge, die das berufliche Umfeld angehen?
Nein. Diese Themen sind immer gesellschaftlicher Art, das heißt, ich bin auch ansprechbar, wenn es zu Problemen im häuslichen Bereich kommt. Unsere Aufgabe ist zunächst, einzuschätzen: Was passiert hier? Und besteht ein Risiko für eine·n unserer Mitarbeitenden?
Das Allerwichtigste ist eine Unternehmenskultur, in der wertschätzende Kommunikation ganz oben steht.Claudia Brandkamp
Wie schafft man einen gewaltfreien Arbeitsplatz?
Das Allerwichtigste ist eine Unternehmenskultur, in der wertschätzende Kommunikation ganz oben steht. Wir haben in Deutschland allerdings das konstruktivem Streiten und Diskutieren verlernt. Es gibt mehr Rücksichtslosigkeit. Aber auch zwanghaft herbeigeredete Harmonie kann zur Eskalation führen. Wir propagieren daher: „Es ist nicht schlimm, unterschiedlicher Meinung zu sein, solange man Themen angreift und nicht Personen.“
Wie setzt man so etwas bei 90.000 Mitarbeitenden in Deutschland durch?
Durch eine werteorientierte Unternehmenskultur und offene Kommunikation, in der Führungspersonen und andere Mitarbeitende als Vorbilder fungieren.
Aber die Realität zeigt: leicht ist das nicht.
Ja, darum sind Gespräche wie unseres und regelmäßige interne Veranstaltungen elementar, um ein Bewusstsein für Gewalt am Arbeitsplatz in die Gesellschaft zu tragen, sei sie physisch oder emotional.
Wie kommuniziert man ein gewaltfreies Miteinander?
Wir beginnen mit der Kommunikation schon bei Auszubildenden und Studierenden. Bereits im Onboarding gibt es einen internen Workshop, der sich damit befasst, wie wir miteinander umgehen. Wir klären Fragen wie: „Was brauche ich, wie kommuniziere ich es?“ „Was ist mein Gefühl zu Abstand?“ „Wann sage ich Stopp?“
Welche Fragen und Unsicherheiten begegnen Ihnen?
Mitarbeitende fragen sich etwa, ob sie sich zur Begrüßung umarmen müssen, nur weil sich andere Kolleg·innen zur Begrüßung umarmen. In einem Fall haben ein Teamleiter und seine Kollegin einander mit Wangenkuss begrüßt. So etwas kann andere verunsichern. Wir untersuchen diese Fälle. In dem speziellen Fall haben wir herausgefunden, dass die beiden eine Beziehung führen. Das ist in Deutschland kein Problem – es hätte nur klar kommuniziert werden müssen.
Was können Unternehmen noch tun?
Wir thematisieren und adressieren unsere Leitlinien für gegenseitigen Respekt in verschiedenen Formaten: in Town-Hall-Meetings, Videokonferenzen und Emails an die Belegschaft, in Kitchen-Talks und Team-Meetings und im Onboarding neuer Mitarbeitender. Unternehmenskultur entsteht nicht von alleine und sie überlebt nicht von alleine. Es ist ein kontinuierlicher Prozess und Dialog.
Prävention ist gut. Aber was tun Sie, wenn es zu Problemen oder Übergriffen kommt?
In diesen Situationen sind wir ebenso klar wie in der Prävention: Wir tolerieren keine Verstöße und sanktionieren.
Gerade bei sexueller Gewalt spielt das Machtgefälle eine tragende Rolle. Oft führt das dazu, dass Opfer schwerer von Sanktionen – etwa einer Versetzung – betroffen sind als Täter. Wie lässt sich das vermeiden?
Für uns ist der Schutz der Opfer Mittelpunkt unseres Handelns. Sanktioniert wird der Täter, die Täterin. Wir berücksichtigen dabei auch mögliche Wünsche der Opfer, etwa freiwillig das Umfeld der Tat zu verlassen.
In solchen Fällen ist immer auch ein Team betroffen. Wie spricht man mit Kolleg·innen darüber?
Für uns ist klar, dass wir jeden Schritt hier zuerst mit dem Opfer besprechen. Wieviel soll das Team wissen und wer soll es kommunizieren? Egal, ob es ein Fall von Stalking, Belästigung oder Diskriminierung ist – das Opfer fühlt in dieser Situation, dass es nicht mehr gestalten kann, sondern gestaltet wird. Wir müssen den Betroffenen die Chance geben, wieder in die Gestaltung des eigenen Lebens zu kommen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir haben.
Wir müssen den Betroffenen die Chance geben, wieder in die Gestaltung des eigenen Lebens zu kommen.Claudia Brandkamp
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes rät zu verpflichtenden Trainings für Menschen in Führungspositionen, um mit Gewalt am Arbeitsplatz umzugehen. Muten wir Managern da nicht zu viel zu?
Eine Führungskraft hat Verantwortung für alle im Team und muss auch erkennen, wenn es jemandem in diesem Team nicht gut geht. Wichtig ist: die Führungskraft muss nicht für alle Themen eine Lösung haben, aber wissen, wen man als Expert·in dazu holt.
Also Daumen hoch für Führungskräftetrainings?
Führungskräfte müssen sensibilisiert werden: Worauf sollten sie achten? An welchen Stellen müssen sie hinschauen, in welchen Situationen sollten sie nachfragen und wann externe Hilfe dazu holen? Und zwar in kontinuierlichen Workshops und Vorträgen, gerade nach Neustrukturierungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Zwei Beispiele: Während der Pandemie stieg die häusliche Gewalt an – Menschen halten sich häufiger und länger zu Hause auf als zuvor. Und seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine erfahren russisch-stämmige Menschen viel Ablehnung.
Nicht jedes Unternehmen hat diese Ressourcen zur Verfügung. Was können KMUs und Start-ups tun?
Erstens Bewusstsein und Offenheit schaffen. Wird alles unter einer Käseglocke gehalten, haben Opfer keine Chance zu entkommen. So ist keine Unterstützung von Kolleg·innen zu erwarten. Oder gibt es Themen, von denen alle wissen, aber keiner redet darüber? Das Offensichtliche, der sprichwörtliche Elefant im Raum muss angesprochen und besprochen werden. Zweitens müssen starke Abhängigkeitsverhältnisse aufgebrochen werden, vor allem starke bilaterale Abhängigkeiten zwischen Mitarbeitenden. Und schließlich braucht es eine Anlaufstelle. Das können Menschen innerhalb des Unternehmens oder ausgelagerte Dienste sein.
Braucht jedes Unternehmen ein·e Bedrohungsmanager·in?
Ja, in unterschiedlichen und angemessenen Dimensionen. Manchmal sind es professionelle Bedrohungsmanager·innen und manchmal Personen, die für das Thema verantwortlich sind und im Ernstfall wissen, an wen man sich wenden kann.
Dr. Claudia Brandkamp ist seit 2013 Senior Expertin Personelle Sicherheit bei der Deutschen Telekom AG in Bonn. Seit dieser Zeit verantwortet sie das Thema Prävention gegen Gewalt am Arbeitsplatz sowie den Aufbau und die Implementierung des Bedrohungsmanagements innerhalb des Konzerns. Inzwischen hat sie bereits über 1.000 Sachverhalte gemanagt und gilt als Expertin auf diesem Gebiet. Sie ist Mitbegründerin des bundesweiten Forums Bedrohungsmanagement und studiert seit 2021 berufsbegleitend forensische Psychologie an der Universität Konstanz.
Weitere Beiträge zum Thema findest Du hier:
📖 Gemeinsam gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – Ein Gespräch mit Anita Eckhardt
📖 Bossing: Was tun, wenn eine Führungskraft dich mobbt?
📖 Gerüchteküche – So machst Du Schluss mit Bürotratsch
Hier bekommst du Unterstützung wenn Du sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeits- oder Ausbildungsplatz erlebst:
Fachberatungsstellen des Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) in deiner Nähe: **www.frauen-gegen-gewalt.de/de/hilfe-vor-ort.html**Die Beratung gibt es bundesweit und in mehreren Sprachen.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Unter der Nummer (030) 18555 – 1855 können sich betroffene Beschäftigte und Arbeitgeber·innen bezüglich rechtlicher Fragen zum Thema Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz melden.
Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen”: Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung können sich gewaltbetroffene Frauen und ihre Unterstützer·innen rund um die Uhr melden. Mehr Informationen unter: www.hilfetelefon.de