Chinas kritische Tech-Studie, die niemand lesen sollte
Chinesische Forscher legten im Internet die technologischen Schwächen der Volksrepublik offen. Kurz darauf wurde die Analyse gelöscht – doch nun kursiert sie wieder im Netz.
Eine aktuelle Studie aus China listet die Schwächen des Landes im technologischen Wettstreit mit den USA auf – und erregte offenbar den Unmut staatlicher Stellen. Die Untersuchung, die Ende Januar in der App Wechat veröffentlicht worden war, wurde vier Tage später wieder „vom Autor gelöscht“, wie in der App ohne weitere Begründung zu lesen war. Inzwischen kursieren allerdings Kopien der Studie online.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Beobachter gehen davon aus, dass die Veröffentlichung einer derart detaillierten, selbstkritischen Analyse im Umfeld der Olympischen Spiele den Machthabern in Peking ungelegen kam. Schließlich hat die Staatsführung die Spiele zu einer Leistungsschau in Wissenschaft und Technologie ausgerufen. „Jede Seite hat viel zu verlieren und wird deshalb die eigene Schwäche kaum offen zugeben“, kommentierte das China-Institut für die deutsche Wirtschaft.
In der Tat geht die Studie kritisch mit dem technologischen Fortschritt in China um. Tenor: China leidet unter der technologischen Entflechtung („Decoupling“) stärker als die Vereinigten Staaten. Sowohl auf technologischer als auch auf industrieller Ebene würden zwar beide Konkurrenten Verluste erleiden, doch „die Kosten für China dürften höher sein“.
Im Zuge des verschärften Wettbewerbs versuchen die Konkurrenten, mit eigenen technologischen und industriellen Standards die globale Marktführerschaft zu erlangen, was zu einer Entflechtung von internationaler Technologie führt.
In ihrer Studie warnen die Forscher etwa davor, dass die USA die Volksrepublik von der Versorgung mit Kerntechnologien und Komponenten abschneiden könnten, „die China dringend benötigt, aber nicht dazu in der Lage ist, sich selbst damit zu versorgen“.
Nur in Industrien, „die einen niedrigen Technologiestandard oder eine geringe Wertschöpfung haben“, werde weiterhin eine Kooperation stattfinden, so das Fazit von Wissenschaftlern des Instituts für Internationale und Strategische Studien (IISS) der Universität Peking.
Ihre Analyse vergleicht den Entwicklungsstand sowie Abhängigkeiten in den strategisch wichtigen Technologiebereichen Informationstechnologie, Künstliche Intelligenz (KI) sowie Luft- und Raumfahrt in den Vereinigten Staaten und in China. Eine Mitte Januar veröffentlichte Rede von Staatschef Xi Jinping zeigt, dass die Staatsführung ebenfalls Aufholbedarf sieht: Trotz der erreichten Erfolge sei Chinas Digitalwirtschaft „im Vergleich zu Ländern, die groß und stark in der digitalen Wirtschaft sind, zwar groß, aber nicht stark“. Sie wachse „schnell, aber nicht außergewöhnlich“, wird Xi in der wichtigen Parteizeitschrift „Qiushi“ zitiert.
Die Autoren um den renommierten Politikwissenschaftler und Leiter des IISS, Wang Jisi, attestieren China durchaus eine bemerkenswerte Aufholjagd in vielen Technologiebereichen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Land in weiteren Bereichen aufschließen und auch in einigen Kerntechnologien autark werden könne, „aber es ist noch ein weiter Weg, bis China die USA umfassend überholt hat“, heißt es in der Analyse. Es bestehe zudem die Gefahr, dass die Volksrepublik gerade in Schlüsselbereichen hinter dem großen Rivalen im Westen zurückbleibe.
Konkret haben die Forscher folgende strategische Technologiebereiche verglichen:
Hochleistungshalbleiter sind die Achillessehne der chinesischen Wirtschaft, denn sie sind die Grundlage für viele Hightech-Bereiche. Zwar hängen auch die USA bei der Versorgung mit Wafern von ausländischen Unternehmen ab. Doch ohne US-Technologie gibt es keine Hochleistungschips. Das hat der chinesische Telekommunikationskonzern Huawei nach den US-Sanktionen schmerzhaft zu spüren bekommen.
Neben Halbleitern seien Kommunikationsgeräte sowie Betriebssysteme und industrielle Software die wichtigsten Grundlagen für neue Informationstechnologien und stünden damit im Zentrum des Wettbewerbs zwischen China und den USA, so die Studie. Bei allen Arten von Betriebssystemen seien die USA klar im Vorteil und verfügten über zentrale Technologien wie den Betriebssystemkern Kernel.
Auch in den meisten Kategorien industrieller Software nehmen US-Unternehmen den Forschern zufolge eine führende Position ein. Gleiches gelte in den Bereichen Biotechnologie, Landwirtschaftstechnik, Feinchemikalien, medizinische Ausrüstung sowie Triebwerke für die Zivilluftfahrt.
In der Mobilfunktechnologie der fünften Generation (5G) sowie der Forschung an dem Nachfolger 6G sehen die Studienautoren dagegen China technologisch in Führung. Allerdings seien auch diese auf Schlüsselkomponenten wie Hochleistungschips angewiesen.
Auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz seien China und die USA anderen Staaten weit voraus, heißt es in der Studie. Amerika sei eindeutig die Nummer eins bei KI-Chips und Algorithmen und habe bedeutende Durchbrüche bei maschinellem Lernen, in der Biosynthese und Arzneimittelentwicklung erzielt.
Auf der anderen Seite habe China einen Vorteil in den Bereichen Gesichts- und Spracherkennung, Computer Vision und diagnostische Bildgebung. Der Grund: die im Land verfügbaren riesigen Datenmengen (Big Data).
In den Bereichen Raumfahrt, Satellitennavigation und -kommunikation sowie Erforschung des Weltraums seien die Vereinigten Staaten nach wie vor absolut führend, attestieren die chinesischen Forscher. Allerdings verfüge China inzwischen über ein unabhängiges Technologie- und Ausrüstungssystem.
Auch in den Schlüsseltechnologien der Luftfahrt – Triebwerke, Technik und Werkstoffe – lägen die USA vorne. China entwickle sich hier aber rasch und liege gemeinsam mit Russland, Großbritannien und Frankreich an zweiter Stelle.
Die USA hätten einen klaren militärischen Vorteil im Weltraum und verfolgten seit Langem eine Doktrin der „Weltraumkontrolle“, wodurch sich China bedroht fühle. Die Abhängigkeiten zwischen China und den USA im Luft- und Raumfahrtsektor seien allerdings relativ gering.
Nachholbedarf bei der Qualität
Über die Technologiebereiche hinweg stellten die Wissenschaftler fest, dass China die USA bei wissenschaftlichen Beiträgen und Patenten zwar quantitativ eingeholt oder sogar überholt habe. Was die Qualität und Originalität betreffe, seien die USA jedoch weiterhin führend. Hinzu komme, dass es den USA nach wie vor gelinge, internationale Spitzenkräfte aus Forschung und Entwicklung anzulocken.
Das gelte auch für Nachwuchsforscher aus der Volksrepublik: Von den Chinesen, die zum KI-Studium in die USA gingen, kehrten nur zehn Prozent in die Heimat zurück. Daran hätten auch die Corona-Pandemie und die in diesem Zusammenhang zunehmenden anti-asiatischen Übergriffe in den USA bislang nichts geändert.
Unabhängig von der inzwischen gelöschten Analyse der Peking-Universität hatte ein staatlicher chinesischer Thinktank im vergangenen Monat die „gezielte Entkoppelung von Lieferketten“ als eines der zehn größten Risiken für China im Jahr 2020 identifiziert. Das zeigt, dass chinesische Wissenschaftler eine teilweise Entflechtung zwischen China und der westlichen Welt als realistische Bedrohung ansehen.
Derweil schränkt Washington Chinas Zugang zu strategischen Technologien wie Halbleitern weiter ein. Erst in der vergangenen Woche hatten die USA für 33 weitere chinesische Unternehmen die Exportkontrollen verschärft, darunter für Chinas Chipausrüster Shanghai Microelectronics (SMEE).
