Viele energieintensive Unternehmen sind durch die Preisrally in Existenznot geraten.
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Das große Feilschen: Wie Unternehmen mit dem Energiepreis-Schock umgehen

Für viele energieintensive Unternehmen ist das teure Gas eine Überlebensfrage. Sie müssen die Kosten an die Kunden weiterleiten. Das ist schwer, aber nicht aussichtlos.

Unternehmer Michael R. wünscht sich, er könne die Zeit zurückdrehen. Seine Firma im Norden Bayerns gehört zur energieintensiven Industrie, braucht große Mengen Gas für die Schmelzanlagen, die rund um die Uhr laufen müssen. Noch im Herbst vorigen Jahres hatte er darauf gesetzt, dass Energie 2022 wieder dauerhaft billiger wird – und mit dem Abschluss eines neuen Liefervertrags gewartet.

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Jetzt muss der mittelständische Unternehmer, der seinen Namen nicht öffentlich machen will, Gas zu noch höheren Marktpreisen einkaufen. Sie sind aktuell mehr als dreimal so hoch wie vor einem Jahr. Die Lage ist existenzbedrohend, nicht nur für dieses Unternehmen.

Viele Energiekunden hätten sich 2021 zu spät eingedeckt und spekuliert, dass sie bei sinkenden Preisen kurzfristig Gas einkaufen können, sagt Michael Biermann, Geschäftsführer von Deesa, einem Dienstleister für Energiehändler: „Jetzt müssen sie mit den hohen Energiepreisen leben.“

Das trifft Tausende energieintensive Unternehmen in Deutschland. Am Gasmarkt herrscht schon seit Monaten eine nie da gewesene Ausnahmesituation, was den weiteren Einkauf und den Rahmen für neue Lieferkontrakte für sie schwierig macht. Eine unerwartet hohe Nachfrage war auf ein enges Angebot gestoßen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat dann für zusätzliche Verunsicherung und heftige Preisausschläge gesorgt. Am Spotmarkt kostete eine Megawattstunde Gas zwischenzeitlich mehr als 300 Euro – und damit zehnmal mehr als noch vor einem Jahr. Das spüren Großkonzerne – aber in der Regel nicht so hart, weil sie eine strategische Beschaffung betreiben –, vor allem aber Mittelständler, die sich häufig schlecht abgesichert haben. Für viele von ihnen geht es sogar ums Überleben.

Entspannt können nur Unternehmen sein, die vorgesorgt haben. Sie haben langfristige Lieferverträge mit Versorgern geschlossen oder betreiben Finanzhedging, um sich einen planbaren Preis für einen Teil ihres künftigen Energiebedarfs schon heute zu sichern.

Sie sind mit einer Bank oder einem Fonds eine Art Wette eingegangen, wie teuer der Gaspreis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ist. Mal gewinnt die Bank, mal zahlt sie drauf, eine Gebühr bekommt sie immer. Auf jeden Fall hat das Unternehmen aber Planungssicherheit über die Preise, mit denen es über viele Monate hinweg kalkulieren kann.

Finanzhedging ist aktuell kaum noch möglich

Solche Kontrakte haben viele Großkonzerne wie beispielsweise der indische Stahlkocher Tata Steel, der in Europa mit Standorten unter anderem in den Niederlanden und Großbritannien vertreten ist, abgeschlossen. Das soll vor plötzlichen Ausschlägen am Markt schützen. In der Einkaufsstrategie kämen aber zahlreiche Instrumente zum Einsatz, erläutert der für das Europageschäft zuständige Tata-Steel-Vorstand Henrik Adam. „Um die genauen Auswirkungen des Ukrainekriegs auf unser Geschäft zu beurteilen, ist es noch zu früh, das analysieren wir gerade.“

Wer aktuell neue Verträge abschließen muss, ist aber in der Bredouille. In der aktuellen Ausnahmesituation am Energiemarkt sind auch Langfristkontrakte extrem teuer – und Finanzterminkontrakte werden kaum noch angeboten. „Finanzhedging fällt wegen der extrem hohen Preise an den Märkten für die Firmen aus. Keiner will die jetzigen Konditionen für die Zukunft absichern“, sagt Lars-Peter Häfele, Rohstoffexperte bei der Einkaufs- und Lieferkettenberatung Inverto.

Und so bleibt den Firmen nur das, was Häfele den „goldenen Weg“ nennt: der Versuch, die gestiegenen Kosten über höhere Verkaufspreise an die Kunden weiterzugeben. Das aber gelingt höchst unterschiedlich und hängt stark von Verträgen mit den Kunden und der Marktmacht ab.

Das zeigt sich etwa in der Chemieindustrie. Im Massengeschäft mit Kunststoffen profitieren große Konzerne wie Covestro und BASF von Klauseln, die im Wochen- und Monatsrhythmus die Weitergabe von gestiegenen Energiekosten ermöglichen. Sie können das aktuell problemlos durchsetzen, weil die Nachfrage weiterhin sehr hoch ist und der Wettbewerb übersichtlich.

Bei mittelständischen Spezialchemiefirmen sieht das anders aus. Schnelle und deutliche Preiserhöhungen sind für sie in der Regel schwierig. Die meisten Firmen haben mit ihren Kunden langfriste Verträge mit festen Preisen abgeschlossen, die nur im Quartal oder Halbjahr Preisanpassungen vorsehen.

Auch in anderen Branchen sitzen viele Unternehmen in dieser Klemme. „Wir stehen im internationalen Wettbewerb mit Konkurrenten aus Ländern, in denen Energie auch jetzt noch billiger ist als in Deutschland“, sagt auch Unternehmer Michael R.

Textilunternehmer Wolfgang Grupp hat wegen der teuren Energie zunächst lieber die Produktion etwas gedrosselt und die Nachtschicht eingestellt. Zum befürchteten Fertigungsstopp ist es bei seiner Firma Trigema aber nicht gekommen, weil die Preise beim Gas zuletzt vom extrem hohen Niveau sanken und weil Grupp seine Textilien um bis zu fünf Prozent teurer machte. Laut dem Unternehmer hätte es zum Ausgleich der Energiekosten mehr sein müssen, doch Trigema wollte die Käufer nicht verschrecken.

Experten raten zu Verhandlungen mit Kunden und Lieferanten

Dennoch raten Experten betroffenen Industriefirmen, das intensive Gespräch zu suchen. „Jeder Kunde ist gesprächsbereit, bevor er Gefahr läuft, dass seine Lieferkette reißt“, weiß Berater Häfele aus der Praxis.

Mittelständlern rät er deswegen zu mehr Selbstbewusstsein: Sie seien kurzfristig als Zulieferer nicht zu ersetzen. Oder auch als Kunde: Der Vorstand eines großen Chemiekonzerns bestätigt dem Handelsblatt, dass man in vielen Fällen beim Preisaufschlag behutsam vorgehe, um Käufer der Produkte nicht in ihrer Existenz zu gefährden.

Experten wissen: Das Abwehren einer Preiserhöhung ist schwierig, aber Abmildern geht definitiv. „Die Verträge sollten genau geprüft werden“, rät Häfele. Der Lieferant müsse nachweisen, wie stark er selbst von teurer gewordener Energie getroffen ist. Oft stelle sich heraus, dass die geforderte Preiserhöhung überproportional hoch ist. Am Ende könne man die Erhöhung für einen befristeten Zeitraum akzeptieren oder die Belastung auch mit dem Lieferanten teilen.

Das große Feilschen um die Preise ist aktuell in der gesamten Industrie zu beobachten. Die schwierigen Verhandlungen sind ein Grund dafür, warum kaum ein Unternehmen öffentlich darüber reden will. Denn selbst diejenigen Unternehmen, die im vergangenen Jahr noch einen langjährigen Gasliefervertrag zu günstigen Konditionen abgeschlossen haben, sind keineswegs vor Energieverteuerungen geschützt.

Darauf verweist der Finanzvorstand eines Industriekonzerns aus Nordrhein-Westfalen, der noch bis 2024 einen niedrigen Gaspreis über Lieferabkommen und Finanzhedging sicher hat. Er merkt an, dass auch die Verträge mit den Versorgern Anpassungsklauseln auf längere Sicht enthalten.

Einkaufsexperte Häfele bestätigt dies. „Für zwölf Monate mögen die Kunden auf der sicheren Seite sein, darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass sie von Preisanstiegs-Forderungen des Energielieferanten nicht verschont bleiben.“ Auch mit ihrem Versorger sollten die Firmen dann schnell das Gespräch suchen. Jeder zeitliche Aufschub und jeder geringere Preisanstieg bringe Entlastung und Wettbewerbsvorteile.

Energie sollte in Tranchen eingekauft werden

Dass viele Unternehmen den aktuellen Gaspreiskapriolen derart ausgeliefert sind, liegt auch an strategischen Fehlern. Denn oft kümmert sich das Management zu unregelmäßig um den Einkauf, meist landet das Thema nur einmal im Jahr auf dem Tisch der Geschäftsführung.

„Industrieunternehmen sollten von der Punktbeschaffung weggehen und ihre Energie in Tranchen zu wenigstens vier verschiedenen Zeitpunkten im Jahr beschaffen“, rät Tobias Federico, Geschäftsführer des Beraters Energy Brainpool. Es geht also darum, benötigtes Gas oder Strom über das Jahr verteilt einzukaufen, um sich gegen kurzfristige Preisschwankungen abzusichern.

Die aktuell schwierige Phase dürfte für die energieintensiven Firmen schließlich noch eine ganze Weile lang anhalten. Federico geht davon aus, dass sich die Situation zwar im Sommer zwischenzeitlich wieder etwas beruhigen, im Winter aber wieder verschärfen könnte.

Erst wenn Europa mehr LNG-Terminals aufgebaut habe, über die Flüssiggas etwa aus den USA importiert werden kann, würde sich die Situation demnach grundlegend ändern. Dann könnte sich der Preis für Gas laut Federico zwischen 25 und 60 Euro pro Megawattstunde einpendeln. Langfristig – also etwa in der Mitte des kommenden Jahrzehnts, rechnet Federico mit Erdgaspreisen um die 25 Euro.

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