Das sind die Trends der weltgrößten Spielemesse in Essen
Die Messe für Gesellschafts- und Brettspiele geht in ihr 40-jähriges Jubiläum. Nach Jahren des Wachstums muss die Branche den ersten Umsatzrückgang verkraften – worunter auch manch traditioneller Spielehersteller leidet.
Brettspielfans haben sich die aktuelle Woche längst rot im Kalender angestrichen: Denn von Donnerstag bis Sonntag werden wieder die Besuchermassen – manche sogar aufwändig als Orks, Elfen oder Star-Wars-Protagonisten verkleidet – in die Messehallen in Essen ins Herz des Ruhrgebiets strömen. Mit der diesjährigen „Spiel“ findet zum 40. Mal die deutsche Messe für Brett- und Gesellschaftsspiele statt. Sie bringt fast 1000 Aussteller mit gut 180.000 Besuchern aus 56 Nationen zusammen.
Die Branche hat ein starkes Wachstum hinter sich, weil die Menschen während der Coronapandemie viel Zeit zu Hause verbrachten und dabei in analoge Brettspielwelten eintauchten. Allerdings konnten sich zuletzt auch die im Deutschen Verband der Spielwarenindustrie organisierten Spieleverlage der Eintrübung des Konsumklimas nicht entziehen: Trotz dreier Entlastungspakete der Politik hinterließen der Ukraine-Krieg, die Energiekrise sowie die Inflation Spuren in den Auftragsbüchern der Verlage: Das Jahr 2022 schlug mit einem Minus von fünf Prozent zu Buche – der erste Rückgang nach einem acht Jahre währenden Aufwärtstrend.
Gleichwohl liegt das Umsatzniveau der Spielbranche immer noch um ein Fünftel über dem des Vor-Corona-Jahres 2019. „Brett- und Kartenspiele stehen weiterhin hoch im Kurs, auch international“, sagt Hermann Hutter, Vorsitzender des Branchenverbandes Spieleverlage. Denn diese böten Familien und Freundeskreisen, die einen entspannten Abend haben wollten, „eine gute Gelegenheit für Austausch, Spaß und soziale Interaktion.“ In vielen Ländern seien das Angebot und die Nachfrage nach Spielen in den vergangenen Jahren stark gestiegen.
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Im Jubiläumsjahr die größte Spielemesse aller Zeiten
Das zeigt sich auch auf der Veranstaltung in Essen: Mit rund 60.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche in sechs Hallen ist die diesjährige Messe in ihrem Jubiläumjahr die größte „Spiel“ aller Zeiten – und sie übertrifft auch das Vor-Corona-Spitzenjahr 2019. Auf der Rekordfläche wollen die Aussteller den Besuchern 1500 neue Titel präsentieren.
Eine Besonderheit der Veranstaltung in Essen ist nämlich, dass die Spielbegeisterten die Neuerungen an den Verlagsständen ausprobieren und bei Gefallen dort auch direkt kaufen können. Dafür stellt praktisch jeder Messestand spezielle Spieleerklärer – im Szenejargon „Erklärbären“ genannt – bereit. Sie sollen die Standbesucher in die Neuheiten einführen, Regeln erklären und beim Spielen begleiten. „Die ‚Spiel‘ ist ein absolutes Highlight im Kalender von Spielefans aus der ganzen Welt“, sagt Florian Hess, Vorstand der Spielwarenmesse und Geschäftsführer des Messeveranstalters Friedrich Merz Verlag aus Bonn. „Nur in Essen können sie alle Neuheiten nach Herzenslust ausprobieren.“
Umwelt- und Klimaschutz wird auch bei Spielen wichtiger
Nach Jahren des Booms bei den Escape-Spielen – hier werden Spieler mit Freunden teils in Räume eingeschlossen, aus dem sie nur durch das gemeinsame Lösen von Rätseln entkommen können – gewinnen aktuell Rätsel- und Krimispiele an Bedeutung. Großen Zuspruch finden sie bei den sogenannten Kidults – junge Erwachsene zwischen 14 und 35 Jahren, die bevorzugt Partyspiele kaufen. Unter den Neuheiten ist zudem ein Trend zu Spielen mit dem Thema Natur, Umwelt- und Klimaschutz zu verzeichnen. Auffällig sind überdies die zahlreichen neuen Spiele mit Fantasy- und Science-Fiction Bezug.
Das Onlineportal Boardgamegeek.com gilt als weltweit wichtigster Treffpunkt für Gesellschaftsspiele im Internet und verfügt über eine Datenbank mit mehr als 100.000 analysierten Spielen. Glaubt man den Nerds und Spielefreaks in den Diskussionsforen von Boardgamegeek, so gehören in diesem Jahr „Among Cultists – A Social Deduction Thriller“ des deutschen Autors Stefan Godot, „The White Castle/Die weiße Burg“ des Spaniers Joan Ignasi Guardiet sowie „Evacuation“ vom angesagten tschechischen Spieledesigner Vladimír Suchý zu den derzeit am stärksten auf dem Portal diskutierten Neuerscheinungen auf der Messe.
In „Among Cultists“, einem Strategiespiel für vier bis acht Personen, agieren die Spieler als Ermittler des Geheimbundes M. Sie sollen dabei das Ritual einer finsteren Sekte verhindern, bevor ein schlummerndes Übel geweckt wird. Aber Vorsicht: Die Sektenmitglieder haben sich bereits unter die Mitspieler gemischt.
Im Japan des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist „The White Castle“ angesiedelt. Fürst Daimyo ist zu jener Zeit ein wichtiger Berater des mächtigen Shogunats. Wer kann die Gunst des Fürsten für sich gewinnen? Ein bis vier Spieler schlüpfen in die Rolle der auf Burg Himeji lebenden Familien. In neun verzahnten Spielzügen versuchen sie, eigene Familienmitglieder in einflussreiche Positionen zu bringen. Um ihren Sieg zu erringen, bewegen sie sich auf Übungsplätzen, in Gärten und in der Burg.
In „Evacuation“ wiederum wird das Leben auf unserem Planeten dank der immer intensiver werdenden Sonneneinstrahlung verbrannt, so dass jeder versucht, alle Menschen und Fabriken in seinen Gebieten von der Erde auf einen neuen Planeten umzusiedeln – und er hat nur vier Runden Zeit dafür. Spieler beginnen mit einer voll funktionsfähigen Wirtschaft, die sie im Laufe des Spiels abbauen und umziehen müssen. Dabei schrumpft das Einkommen auf dem alten Planeten mit der Zeit, und die Produktion verschlechtert sich. Im Gegenzug müssen die Spieler auf dem neuen Planeten erst eine funktionsfähige Wirtschaft aufbauen, um uns zu etablieren. Die Ressourcen können nicht zwischen den Planeten gemischt werden – umso wichtiger ist gute Planung.
Was macht der angeschlagene Spielehersteller Haba?
Manche Besucher dürften auch mit einiger Spannung auf den Messeauftritt von Haba blicken: Das Familienunternehmen aus dem oberfränkischen Bad Rodach bei Coburg hat turbulente Wochen und Monaten hinter sich, die erst Mitte September in einem Insolvenzantrag gipfelten. Zuvor durchlebte die auf Spiele und Kindermöbel spezialisierte Firmengruppe eine missglückte SAP-Einführung, die zudem überschattet war von internen Grabenkämpfen; später stellte das Unternehmen in einem ersten Sanierungsschritt seine traditionsreiche Klamottenmarke Jako-o ein – ein erstes Indiz dafür, dass dem Unternehmen das Wasser bis zum Hals steht.
Trotz alledem ist der angeschlagene Hersteller mit rund 50 Spielen auf der Spielemesse vertreten, die die Besucher am Haba-Stand auf Herz und Nieren testen können. Dazu zählen neben mehreren Neuheiten im Familien- und Kinderspielbereich auch firmeneigene Klassiker wie das Kinderspiel des Jahres 2019 „Tal der Wikinger“, „Obstgarten“ und „Pustekuchen“, das schon seit 20 Jahren Kinder beim Großwerden begleitet. „Wir konzentrieren uns auf das, was uns in den vergangenen Jahrzehnten stark gemacht hat“, sagt Stefanie Frieß, in der Haba-Geschäftsführung verantwortlich für Vertrieb und Marketing. Der Messeauftritt sei einerseits ein wichtiger Impuls für den Fachhandel, andererseits ein klares Bekenntnis zur Marke Haba.
Vielleicht lässt sich der Haba-Messeauftritt auf der „Spiel 2023“ ja dereinst als erster Schritt in Richtung Sanierung und erfolgreicher Zukunft von Haba ausmachen.
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