Folge 62 mit Georgine Kellermann: „Ich habe euch 40 Jahre lang etwas vorgemacht“

In kaum einem Industrieland trauen sich so wenig trans Menschen unter ihrer wahren Identität ins Büro wie in Deutschland. Journalistin und trans Aktivistin Kellermann sagt, das habe auch etwas mit den Führungskräften zu tun.

Georgine Kellermann hatte sich schon ein schwarzes Kostüm gekauft, das sie bei ihrer Abschiedsrede zur Pensionierung tragen wollte. Die letzte Ansprache vor den Kolleginnen und Kollegen beim WDR sollte nicht nur ein Abschied werden, sondern ein Neuanfang: „Ich wollte sagen, ‚Leute, ich habe euch 40 Jahre etwas vorgemacht. Hier steht eure richtige Kollegin‘“, sagt Kellermann in der neuen Folge von Team A.

Das ganze Gespräch hört ihr hier:

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Die meisten Mitarbeiter•innen beim WDR kannten Georgine Kellermann schließlich als Mann. Als männlich gelesener Journalist hatte sie die vergangenen vier Jahrzehnte Karriere im Öffentlich-Rechtlichen gemacht, war als Reporter in Paris und Washington tätig und leitete schließlich das WDR-Studio in Essen. Zu der Rede kam es nicht.

Kellermann offenbarte ihre Identität, trans Frau zu sein, eher zufällig kurz nach ihrer Beförderung zur Studio-Leiterin, als sie 2019 auf dem Weg in den Urlaub einer Kollegin begegnete. „Ab dieser Sekunde war Georg begraben. Er war weg, vorbei, es ging nicht mehr“, so Kellermann im Podcast-Gespräch weiter. Nach dem Urlaub kehrte Georgine zurück ins Büro.

Nur 23 Prozent trauen sich als Trans auf die Arbeit

Angelehnt an repräsentative Befragungen in den USA geht die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. davon aus, dass mindestens 0,6 Prozent der Menschen in Deutschland trans sind. Das käme einer Kleinstadt gleich. In den Büros, Kantinen oder Werkshallen hierzulande sieht man sie allerdings kaum. Das liegt nicht zuletzt am Arbeitsklima in Deutschland. Laut einer Studie unter Transmenschen und geschlechtsuntypischen Mitarbeiter•innen der Beratung Boston Consulting Group, die im März in der amerikanischen Ausgabe der Harvard Business Review veröffentlicht wurde, trauen sich hierzulande nur 23 Prozent der Befragten, als trans auf der Arbeit zu erscheinen.

Georgine Kellermann blickt auf eine lange Karriere im Journalismus zurück und leitete zuletzt das WDR Studio in Essen - WDR
Georgine Kellermann blickt auf eine lange Karriere im Journalismus zurück und leitete zuletzt das WDR Studio in Essen - WDR

Deutschland schneidet dabei unter den untersuchten Ländern mit am schlechtesten ab. Zum Vergleich: In Brasilien liegt die Quote bei 43 Prozent. Nur in Frankreich ist die Angst vor Diskriminierung unter den untersuchten Ländern noch größer. „Die deutsche Industrienorm ist auch eine Gesellschaftsnorm“, sagt Kellermann im Gespräch weiter.

Für die Karriere vier Jahrzehnte Doppelleben

Um ihre Karriere nicht zu gefährden, führte Kellermann über Jahrzehnte ein Doppelleben. Auf der Arbeit, vor der Kamera und hinter dem Mikrofon gab sie sich als Georg. Zuhause zeigte sie sich gegenüber Freunden und Freundinnen so, wie sie sich selbst empfand - als Georgine: „Ich habe Sorge gehabt, dass wenn ich werde, wie ich bin, ich nicht mehr tun kann, was ich liebe.“ Heute ist die Journalistin eine der bekanntesten trans Aktivistinnen in Deutschland.

Ihr Arbeitgeber, der WDR, habe sie nach ihrer Offenbarung 2019 „wertschätzend unterstützt“. Hilfe sei damals „von allen, die Verantwortung für mich getragen haben“, gekommen. Kellermann habe etwa sofort neue Visitenkarten, eine neue Emailadresse und viel Unterstützung bei allen organisatorischen und bürokratischen Aufgaben bekommen.

Normen als Reling für Führungskräfte

Wie wir inklusive Arbeitsplätze frei von Stereotypen und Geschlechter-Normen aufbauen können, darüber spricht Kellermann in der neuen Folge Team A. Sie ist überzeugt, dass bei dem Thema Inklusion „viele Menschen in Deutschland schon sehr viel weiter sind, als manche Studie das belegt“. Das gelte allerdings nicht unbedingt fürs Top-Management: „Je höher die Menschen aufsteigen in der Hierarchie, desto mehr brauchen sie Normen wie eine Reling, um sich daran festzuhalten“.

Den ganzen Podcast hört ihr hier:

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TEAM A

Gute Führung in disruptiven Zeiten ist nicht immer einfach, aber sie lohnt sich. In Team A zeigen "Harvard Business Manager"-Chefredakteurin Antonia Götsch und Astrid Maier, Chefredakteurin XING News, auf, wie sie jedem gelingen kann. Hier erfahrt ihr, wie wir lernen können, uns ständig neuen Umständen anzupassen, wie wir unsere Teams in schweren Zeiten mitnehmen oder etwa unseren Kalender im Griff behalten. In Interviews mit Persönlichkeiten aus Management, Sport, Wissenschaft oder Entertainment arbeiten Antonia und Astrid heraus, was wirklich funktioniert und sprechen offen über Fehler - und was wir alle daraus lernen können. Ein Podcast für alle, denen Führung nicht nur Macht-, sondern Verwirklichungs- und Exzellenz-Anspruch ist.

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