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Führen in Zeiten der Angst

Viele Führungskräfte glauben, sie müssten jederzeit souverän und furchtlos auftreten. Diese Illusion aufrechtzuerhalten kostet viel Kraft, vor allem in der aktuellen Krise. So schaffen Sie es, andere aufzubauen, wenn Sie selbst zu kämpfen haben.

Von Morra Aarons-Mele

Die CEO eines Start-ups sitzt in dem Büro, das sie erst vor Kurzem für ihr rasch wachsendes Unternehmen angemietet hat. Es ist Hauptverkehrszeit, aber auf den Straßen draußen ist es ruhig, Gleiches gilt für die 600 unbesetzten Arbeitsplätze vor ihrer Bürotür. In einer halben Stunde muss sie eine Videokonferenz leiten, um die Beschäftigten zu beruhigen. Doch sie ist selbst niedergeschlagen, verunsichert und hat ganz einfach Angst.

Unterschiedliche Versionen dieses Szenarios haben sich in den vergangenen Monaten rund um den Globus abgespielt, seit die Corona-Pandemie uns im Griff hat und die Wirtschaft herunterfährt. Gründerinnen und Gründer, Führungskräfte und Angestellte mussten fast über Nacht erfahren, wie fragil all das ist, was sie aufgebaut haben.

An einem Abend im März sagte mein Mann zu mir: "Ich habe so eine Angst, aber das darf ich die Menschen, die von mir abhängig sind, nicht spüren lassen." Er hatte stundenlang in Zoom-Konferenzen gesessen, um Teammitglieder und Kollegen zu überzeugen, dass sie diese Krise überstehen würden. Eigentlich war es an ihm, Ruhe und Zuversicht auszustrahlen, dabei hatte er selbst Angst.

Wie können Sie kompetent und stark führen, wenn Ihnen selbst die Angst im Nacken sitzt? Wie inspirieren und motivieren Sie andere Menschen, wenn Ihnen der Kopf schwirrt und das Herz rast? Und wenn Sie versuchen, Ihre Angst zu verbergen, um vorgesetztengemäß souverän zu agieren – wo führt das eigentlich hin?

Angst an sich ist ein sehr sinnvolles Gefühl, sie bewahrt uns vor Schaden. Der US-Psychologe Rollo May schrieb 1977: "Wir müssen uns heute nicht mehr vor Säbelzahntigern und Mastodonten fürchten, sondern vor Selbstwertverlust, Ausgrenzung aus unserer Gruppe oder einer Niederlage im Konkurrenzkampf. Die Art der Angst hat sich verändert, aber das Gefühl ist in etwa das gleiche geblieben." Mit anderen Worten: Selbst wenn wir Menschen heutzutage nicht mehr von Raubtieren bedroht werden, verfolgt uns doch die Sorge um die Gesundheit unserer Lieben, die Frage, ob wir nächste Woche oder nächstes Jahr noch Arbeit haben oder ob unser Unternehmen in die Pleite rutscht – Ängste und Sorgen, die exakt dieselben neurologischen und physischen Reaktionen hervorrufen wie ein Raubtier vor uns.

Der Anxiety and Depression Association of America zufolge ist "Stress eine Reaktion auf eine bedrohliche Situation. Und Angst ist eine Reaktion auf den Stress." Angst ist die Furcht vor dem, was in Zukunft passieren könnte. Manchmal ist diese Furcht begründet und manchmal nicht. Manchmal betrifft sie etwas, was in drei Minuten stattfinden wird (zum Beispiel eine Bühne zu betreten und einen Vortrag zu halten) oder in 30 Jahren (ob wir genug Geld haben werden, um unbesorgt in den Ruhestand zu gehen).

In den USA ist Angst die am weitesten verbreitete psychische Erkrankung. Jedes Jahr sind mehr als 40 Millionen Erwachsene davon betroffen. Daten des National Institute of Mental Health weisen darauf hin, dass rund 30 Prozent der Amerikaner irgendwann im Leben klinische Angstzustände entwickeln. Weltweit, so eine Schätzung des Institute for Health Metrics and Evaluation, Stand 2017, litten 284 Millionen Menschen unter einer Angststörung, was diese zur häufigsten psychischen Krankheit überhaupt macht. (In Deutschland leiden etwa zwölf Millionen Menschen darunter; Anm. d. Red.) Aktuelle Arbeitsplatzdaten von Mind Share Partners, SAP und Qualtrics legen nahe, dass Angststörungen auch und gerade am Arbeitsplatz verbreitet sind: Fast 37 Prozent der befragten Berufstätigen berichteten von Angstsymptomen während des vergangenen Jahres. Diese Zahlen werden durch die Pandemie mit Sicherheit noch steigen.

Die gute Nachricht für diejenigen unter uns, die seit Längerem mit Ängsten zu tun haben: Wir sind auf diese Situation bestens vorbereitet. Studien zeigen, dass ängstliche Menschen anders mit Bedrohungen umgehen, da sie verstärkt Gehirnregionen nutzen, die für Handlung zuständig sind. Im Angesicht einer Gefahr reagieren wir schnell. Und wir kommen mit unangenehmen Gefühlen besser zurecht. Wird sie umsichtig gelenkt, kann Angst uns motivieren, unseren Teams zu mehr Engagement, Produktivität und Kreativität zu verhelfen. Sie kann Hindernisse aus dem Weg räumen und neue Verbindungen knüpfen.

Angst ist also keineswegs nutzlos. In einer Wirtschaftskrise kann uns die Angst, die uns nachts nicht schlafen lässt, zu einer Lösung verhelfen, um unsere Geschäfte am Laufen zu halten. Bleibt sie jedoch unkontrolliert, lenkt Angst uns ab, raubt uns Energie und lässt uns schlechte Entscheidungen fällen. Angst ist ein machtvoller Gegner, deshalb müssen wir sie zu unserem Verbündeten machen.

Gleichgültig ob Sie eine diagnostizierte Angststörung haben oder ob dies Ihr erstes Rendezvous mit diesem intensiven Gefühl ist – Sie können weiter ein erfolgreicher Chef, eine erfolgreiche Chefin sein. Aber ich will ehrlich sein: Wenn Sie sich Ihrer Angst nicht irgendwann stellen, könnte sie Sie zu Fall bringen. Dieser Kampf ist nicht leicht, aber er kann Ihr Leben und Ihre Fähigkeit, andere Menschen zu führen, zum Positiven verändern.

Lassen Sie uns also heute damit beginnen, in dieser besonders angstbesetzten Zeit. Der erste Schritt besteht darin, die eigene Angst näher kennenzulernen: wie sie sich zeigt und wie sie sich für Sie anfühlt. Im zweiten Schritt geht es darum, aktiv Maßnahmen zu ergreifen – im Alltag ebenso wie in schwierigen Situationen. Der dritte Schritt zeigt Ihnen, wie Sie kluge Entscheidungen fällen und andere in angstbehafteten Zeiten führen. Und der vierte und letzte Schritt besteht im Aufbau einer unterstützenden Infrastruktur, die Ihnen hilft, Ihre Angst langfristig in den Griff zu bekommen.

Eine gängige Bewältigungsstrategie für Führungskräfte besteht darin, sich durch Stress, Erschöpfung und Furcht hindurchzubeißen. Das aber heißt, dass Sie Ihr Ziel trotz Ihrer Emotionen erreichen – wo es doch sehr viel besser wäre, mithilfe Ihrer Emotionen erfolgreich zu sein. Dazu müssen Sie lernen, Ihre Angst zu akzeptieren. Auch wenn das anfangs vielleicht unangenehm oder unlogisch erscheint.

Die mehrfach ausgezeichnete Psychologin Angela Neal-Barnett, Expertin für Angst unter Afroamerikanern und Autorin des Buches "Soothe Your Nerves", ist überzeugte Anhängerin der Haltung, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Wenn Sie ein Gefühl offen benennen – indem Sie sich beispielsweise eingestehen: "Ich habe Angst" –, können Sie anfangen, sich damit auseinanderzusetzen. Sie können in Erfahrung bringen, wie die Angst Ihr Verhalten und Ihre Entscheidungen beeinflusst, was sie auslöst und ansteigen lässt. Dies wiederum gibt Ihnen Mittel an die Hand, sie besser zu bewältigen.

Niemand muss dabei sein, wenn Sie Ihre Angstgefühle aussprechen; das ist etwas ganz Privates. Nehmen Sie sich die Zeit, sich Ihren Gedanken hinzugeben. Lassen Sie die unangenehmen Gefühle zu. Spielen Sie gedanklich Worst-Case-Szenarien durch. Erlauben Sie sich die Vorstellung von der totalen Katastrophe. Weinen Sie, trauern Sie, aber wenden Sie sich nicht ab. Wie Alice Boyes, klinische Psychologin und Autorin des Buches "The Anxiety Toolkit", sagt: Je mehr Sie Ihre Angst zu unterdrücken versuchen, umso heftiger schlägt sie zurück.

Jahrzehntelange Forschung über emotionale Intelligenz hat gezeigt, dass Menschen, die ihre eigenen Gefühle verstehen und akzeptieren, größere Zufriedenheit bei der Arbeit, mehr beruflichen Erfolg und bessere Beziehungen haben. Sie sind innovativer, können unterschiedliche Meinungen auf einen Nenner bringen und Konflikte entschärfen. All diese Fähigkeiten machen Menschen zu besseren Führungspersönlichkeiten.

Wenn sich das Wort "Angst" für Sie nicht richtig anfühlt, können Sie auch eine andere Bezeichnung dafür wählen. Nennen Sie es "Unbehagen", "zeitweilige Unsicherheit", oder geben Sie ihr einen absurden oder auch albernen Namen. Ich stelle mir meine Angst als ein eigenständiges Wesen vor, das mich als Reisegefährte überallhin begleitet. Es hat keinen Namen und auch kein Gesicht, aber ich merke, wenn es anwesend ist.

Nach Meinung von Jerry Colonna, Führungskräftecoach und CEO von Reboot, besteht der beste Weg, unangenehme Gefühle in den Griff zu bekommen, darin, sie willkommen zu heißen. Sein Rat: Stellen Sie sich Ihre Gedanken und Gefühle als Züge vor, die in einen Bahnhof einfahren und ihn wieder verlassen. Beobachten Sie ihre Ankunft und ihre Abfahrt möglichst wertfrei. Stellen Sie sich vor, wie Sie sagen: "Hallo, Sorge. Bis später, Angst." Diese Technik wird Ihnen tatsächlich helfen, Abstand von den negativen Gefühlen zu gewinnen, die sich in Ihrem Kopf breitgemacht haben.

Manchmal ist es vielleicht nicht möglich, die Angst in Schach zu halten. Das kann sich frustrierend anfühlen. Rebecca Harley, die als Psychologin am Massachusetts General Hospital und an der Harvard Medical School arbeitet, betont: "Das Ziel ist nicht, die Dinge wie mit einem Zauberstab perfekt in Ordnung zu bringen. Das Ziel ist zu lernen, wie Sie erfolgreich auf den Wellen des Elends surfen. Zollen Sie sich auch dann Anerkennung, wenn es nicht gleich funktioniert und Sie sich nicht umgehend besser fühlen."

Haben Sie Ihrer Angst einen Namen gegeben, können Sie anfangen zu ermitteln: Wann taucht sie auf und warum? Rebecca Harley hat mir geholfen, dies zu lernen. Wenn Sie die Angst kommen spüren, achten Sie auf Ihre körperlichen Reaktionen. Harley nennt dies das "Frühwarnsystem" dafür, dass die Angst das Steuer übernehmen könnte. Die Hinweise können ganz dezent sein: vielleicht ein flaues Gefühl in der Magengegend oder ein kurzes Atemstocken, wenn Sie einen bestimmten Absendernamen in Ihrem E-Mail-Eingang lesen. Sie können aber auch massiver ausfallen. Wenn die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen, wird Ihnen womöglich übel, und es fällt Ihnen schwer, sich zu konzentrieren, obwohl Sie ja noch einen Job haben.

Wenn ein Gespräch oder eine Situation Sie kurz aus der Bahn wirft, sollten Sie den Grund dafür ermitteln. Möglicherweise haben Sie Skrupel, bestimmte Themen aus Ihrer Kindheit hervorzukramen. Aber unerledigte Dinge aus der Vergangenheit beeinflussen stark das eigene Führungsverhalten, wie Führungskräftecoach Jerry Colonna betont. Seiner Erfahrung nach kann es überaus erleichternd sein, wirklich zu verstehen, wie alte Verletzungen das gegenwärtige Verhalten beeinflussen.

Als mir klar wurde, dass meine fast immer präsente Angst vor der Pleite weit mehr mit meiner Kindheit als mit meiner derzeitigen finanziellen Situation zu tun hatte, war ich endlich in der Lage, mein Geld aktiv zu managen – nachdem ich mich jahrelang davor gedrückt und Schulden angehäuft hatte. Ich schaffte es, ein schädliches Muster zu durchbrechen.

Es hilft auch, sich bewusst zu machen, wie man auf bestimmte Trigger reagiert. Ich nenne sie "Angstanzeiger". Die Sozialarbeiterin und Psychologin Carolyn Glass schlägt vor, sich die folgenden Fragen zu stellen: "Wie habe ich auf die Angst in diesem Moment reagiert? Und war dieses Verhalten hilfreich oder nicht? Hat es meine Angst verstärkt oder verringert?" Die eigenen Ängste aufzuschreiben sei ein guter Weg, sie näher unter die Lupe zu nehmen, empfiehlt Glass. Auch ein Angsttagebuch, in dem Sie notieren, wann die Angst auftaucht, was sie ausgelöst hat und wie Sie reagiert haben, ist eine hervorragende Methode, Selbsterkenntnis zu entwickeln.

Dabei müssen Ihre Angstanzeiger keineswegs immer negative Verhaltensweisen sein. So entdecken viele Menschen, dass sie in besonders stressigen Zeiten verstärkt Freunde und Verwandte kontaktieren. Und wenn mich selbst die Angst packt, fange ich an zu kochen und fülle meinen Gefrierschrank mit Mahlzeiten.

Viele erfolgreiche Führungskräfte reagieren auf Angst, indem sie noch mehr arbeiten, an sich selbst und andere unerreichbar hohe Ansprüche stellen oder versuchen, Dinge zu kontrollieren, die außerhalb ihres Einflussbereichs liegen. Ihnen fällt es schwer sich vorzustellen, nicht viel Aufhebens um jedes Detail ihrer Arbeit zu machen, sich nicht für alles und jedes verantwortlich zu fühlen und nicht immer ihr Bestes zu geben. "Menschen reagieren auf Angst, indem sie versuchen, noch perfekter zu werden und alles noch besser unter Kontrolle zu haben", erklärt Psychologin Alice Boyes. "Sie haben nicht nur einen Plan B, sondern auch einen Plan C, D und E." In vielen Lebensbereichen werden derartige Verhaltensweisen honoriert. Wir halten sie für eine hohe Arbeitsmoral. Doch häufig führen Perfektionismus und Arbeitsüberlastung nur zu weiteren Ängsten – bei sich selbst und bei anderen.

Stellen Sie sich einen CEO vor, der von den Wirtschaftsnachrichten rund um Covid-19 zutiefst verunsichert ist. Er nimmt das Problem auf dieselbe Art in Angriff, die bislang für ihn immer funktioniert hat: Er erstellt detaillierte Prognosen zu sämtlichen Aspekten der Geschäftsentwicklung. Er vergräbt sich in diese Tabellen und verfolgt ständig die neuesten Nachrichten über die Krise. Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fragen sich vielleicht, was er vorhat, oder sind durch seine sichtbare, aber noch nicht ausgesprochene Panik beunruhigt. Sind die Charts, die er wie ein Besessener erstellt, korrekt? Wer weiß das schon? Aber indem er tief in seine Worst-Case-Szenarien eintaucht, hat er das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben.

Ihre Angstanzeiger können sich auch körperlich äußern. Angst kann sich durch Engegefühl in der Brust bemerkbar machen, durch flache Atmung, angespannte Kiefermuskulatur, steife Schultern, Magen-Darm-Beschwerden, Ausschlag, mangelnden oder übermäßigen Appetit und tief greifende Veränderungen des Energiehaushalts. Als ich kürzlich beispielsweise eine Panikattacke hatte, war ich davon überzeugt, einen Herzinfarkt zu erleiden – obwohl ich zuvor schon Panikattacken gehabt hatte.

Wenn Sie herausfinden möchten, welche körperlichen Signale die Angst Ihnen sendet, können Sie die folgende zweiteilige Übung machen: Als Erstes setzen Sie sich aufrecht auf einen Stuhl, stellen die Füße flach auf den Boden und legen die Hände auf die Oberschenkel. Der Unterkiefer ist locker, das Kinn ist weder gesenkt noch angehoben. Spüren Sie nach, welche Teile Ihres Körpers Sie auf Anhieb fühlen. Als Nächstes wandern Sie dann mit geschlossenen Augen in Gedanken zu

• Ihrem Kopf

• Ihrem Kieferbereich

• Ihrem Nacken

• Ihren Schultern

• Ihren Handgelenken und Unterarmen

• Ihrem Brustraum

• Ihrem oberen Rücken

• Ihrem Lendenbereich

• Ihrem Bauch

• Ihren Hüften

• Ihren Achillessehnen

• Ihren Waden, Sprunggelenken und Füßen

Achten Sie darauf, welche Körperteile sich angespannt anfühlen. Verschaffen Sie sich Linderung, indem Sie in die verspannten und schmerzenden Regionen hineinatmen. Sie können auch nachspüren, was mit Ihrem Körper zu unterschiedlichen Zeiten während eines Arbeitstags geschieht, etwa wenn etwas Bestimmtes passiert oder Sie Entscheidungen treffen:

• Wie fühlen Sie sich um 9 Uhr, um 12, um 15 und um 18 Uhr? Verändert sich Ihr Körper im Laufe des Tages?

• Wenn Sie gestresst sind, reagiert dann ein bestimmter Teil Ihres Körpers?

• Wie oft im Laufe einer Woche brauchen Sie einen Drink, ein Medikament, etwas zur Muskelentspannung oder ein rezeptfreies Schmerzmittel?

• Wie fühlt sich Ihr Körper am Wochenende an oder wenn Sie etwas tun, was Ihnen Spaß macht?

Wenn Sie Ihre Trigger und Anzeiger kennen, können Sie beginnen, eine neue Beziehung zu Ihrer Angst zu entwickeln. Erinnern Sie sich: Eine gewisse Angst ist vernünftig und hilfreich. Während einer Konjunkturschwäche ergibt es Sinn, dass Führungskräfte sich verunsichert fühlen. Es könnte sein, dass Sie Leute entlassen müssen. Ihr Unternehmen könnte in Konkurs gehen. Doch es kann auch passieren, dass Sie in eine Negativschleife geraten, die Sie am Weiterkommen hindert. Dann drehen Sie sich gedanklich im Kreis. Alice Boyes weist darauf hin, dass manche Führungskräfte sich derart in Worst-Case-Szenarien hineinsteigern und von ihren Horrorvorstellungen überwältigt werden, dass sie regelrecht erstarren.

Was lässt sich dagegen tun? Hier halte ich mich an einen weiteren Rat von Jerry Colonna: "Differenzieren Sie zwischen dem, was möglich ist, und dem, was wahrscheinlich ist. Es ist denkbar und möglich, dass alle Menschen, die ich liebe, an einer Pandemie sterben und ich alles verliere, was mir lieb und teuer ist. Aber es ist keineswegs wahrscheinlich, dass alles, was mir lieb und teuer ist, verschwinden wird." Versuchen Sie, Ihre schlimmsten Befürchtungen von dem zu unterscheiden, was höchstwahrscheinlich geschehen wird. Das wird Sie ruhiger machen und Ihnen Raum geben, nach vorn zu schauen.

Schießt Ihnen ein Katastrophengedanke wie "Mein Partner/meine Partnerin und ich werden beide unseren Job verlieren" oder "Ich werde ganz bestimmt krank" durch den Kopf, denken Sie daran, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Suchen Sie das Gespräch mit einem vertrauten Menschen, und bitten Sie ihn, mit Ihnen gemeinsam zu betrachten, welche Ereignisse mit einiger Wahrscheinlichkeit eintreten werden und welche Befürchtungen weit hergeholt und reine Spekulation sind.

Anfang März, als die Börsen einbrachen und die Angst der Menschen vor Covid-19 eskalierte, stornierte einer meiner größten Kunden sämtliche Aufträge. Ich brauchte nicht lange, um mir einzureden, unsere Firma sei am Ende und es sei nur eine Frage von Monaten, bis wir pleitegingen. "Wir werden das nie überleben", sagte ich mir ständig. Dann aber sprach ich mit meiner Geschäftspartnerin – einer weniger panisch veranlagten Person, als ich es bin. Sie meinte, wir sollten doch erst einmal unsere Prognosen nachbessern, was wir auch taten. Jetzt gehen wir davon aus, dass wir in diesem Jahr etwa die Hälfte unseres Umsatzes einbüßen. Das ist wahrscheinlich und tatsächlich erschreckend, aber weit entfernt davon, uns in den Konkurs zu treiben.

Sich auf das zu fokussieren, was wahrscheinlich ist, erfordert Flexibilität. Die Zukunft wird nicht so aussehen, wie wir es uns vorgestellt hatten, und das schmerzt. Wenn meine kleine Tochter unbedingt weitermalen will, aber es Zeit fürs Abendessen ist, sage ich zu ihr: "Sei bitte flexibel. Du kannst nachher weitermalen, versprochen." Ich versuche heute das, was ich meinen Kindern predige, bei mir selbst anzuwenden: gelassen mit der Frustration umzugehen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ich es erwartet habe oder mir gewünscht hätte. Solche Enttäuschungen sind real, und manchmal sind die Veränderungen gravierend. Gestehen Sie (zumindest sich selbst) die Trauer und den Ärger ein, die Sie fühlen, und nehmen Sie dann Anpassungen vor: Finden Sie heraus, was noch funktionieren könnte, und konzentrieren Sie sich auf das Wahrscheinliche und Machbare.

Wenn Sie diese drei Aufgaben erledigt haben, können Sie anfangen, Ihre Angst jeden Tag aufs Neue so anzugehen, dass Sie letztlich Ihre Führungskompetenzen stärken und insgesamt kreativer und effizienter werden. Die folgenden Strategien helfen Ihnen, sich zu erden.

Viele Glaubenstraditionen lehren uns zu akzeptieren, was wir nicht kontrollieren können, und zwar möglichst unvoreingenommen und ohne in Panik zu verfallen. Aber wer mitten in einer Angstattacke steckt, hat vermutlich keine Zeit für philosophische Gedanken. Daher sind hier einige Tipps, was Sie tun können, wenn Sie das Gefühl haben, dass alles aus dem Ruder läuft.

Strukturieren Sie Ihre Zeit. Zahlreiche Studien belegen, dass eine verbesserte Einstellung zum Zeitmanagement – also die persönliche Haltung dazu, wie Sie Ihre Zeit organisieren und wertschätzen – positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit hat. Das ist besonders wichtig, wenn Sie gerade von Angst überflutet werden.

Schreiben Sie gleich morgens eine To-do-Liste und einen detaillierten Zeitplan für den Tag. Ich mache das gern beim Kaffeetrinken. Bewährt hat sich eine Einteilung in 30-Minuten-Fenster, etwa fürs Duschen, für die Mittagspause, Telefonate oder den Bericht, den Sie endlich vom Schreibtisch haben wollen. Das ist ein Konzept, das viele Experten Timeboxing nennen – also feste Zeitrahmen ("boxes") zu setzen. Gleichzeitig sollten Sie versuchen, all das zu vermeiden, was Verhaltenstherapeuten "kognitive Verzerrungen" nennen: Katastrophengedanken, überzogene Selbstkritik und Alles-oder-nichts-Denke, die häufig mit Ängsten einhergehen.

Achten Sie darauf, Ihren Kalender nicht zu überfrachten oder Ihre Leistungsfähigkeit zu überschätzen. Konzentrieren Sie sich stattdessen auf die wichtigsten Tätigkeiten, und planen Sie auch Zeit für Selbstfürsorge ein.

Starten Sie kleine, sinnvolle Handlungen. Während der ersten Wochen des Corona-Lockdowns ging dort, wo ich wohne, das Verkehrsaufkommen drastisch zurück. Die Straßenbaubehörde nutzte diese Zeit, um alle Zebrastreifen nachzumalen. Eine Woche lang waren viele Straßen wegen der Malerarbeiten nur einspurig befahrbar, was aber kein Problem war, da es in unserer normalerweise geschäftigen Stadt extrem ruhig zuging. Und jedes Mal, wenn ich an einem der Arbeitertrupps vorbeifuhr, musste ich unwillkürlich lächeln, weil ich mir dachte: Das ist ihr kleiner, sinnvoller Beitrag.

Wenn man Angst hat, kann jede Aufgabe schnell zu einer Überforderung werden. Nehmen wir etwa eine Cashflowanalyse für Ihr Unternehmen. Während Sie die Buchhaltungssoftware öffnen, könnte es passieren, dass Ihnen plötzlich jegliche Zuversicht schwindet, monatelange Planungen binnen Sekundenbruchteilen als absolut sinnlos erscheinen und Sie sich schon mittel- und obdachlos sehen. Um diese Gedankenspirale zu stoppen, reicht schon eine kleine, sinnvolle Handlung. Wenn bereits der Entwurf einer Cashflowprognose in Ihnen die nackte Angst auslöst, dann sortieren Sie erst einmal einige Rechnungsbelege, oder räumen Sie ein paar Dateiordner auf, bis die Panik nachlässt.

Generell sollten Sie sich wenn irgend möglich auf das konzentrieren, was unmittelbar ansteht. Vielleicht können Sie Ihren Mitarbeitern nicht sagen, was in einem Jahr sein wird, ja nicht einmal, wie es in drei Monaten aussieht. Und Sie können nicht versprechen, dass alles gut wird. Aber Sie können einen Beitrag dazu leisten, dass Ihre Leute sich in der aktuellen Woche sicher fühlen. Konzentrieren Sie sich zunächst darauf, und wenden Sie sich den größeren Fragen erst dann zu, wenn Sie wieder gelassener sind oder sich mit vertrauten Kollegen austauschen können. Manchmal muss man die Zukunft für eine Weile ausblenden und einfach nur durch die Gegenwart navigieren.

Natürlich ist es nicht immer möglich, die Zukunft auszublenden. Was also, wenn Ihr Vorstand besagte Cashflowprognose in der nächsten halben Stunde braucht und Sie gerade in einer schlimmen Negativspirale stecken? Für solche Fälle benötigen Sie Notfallinstrumente, die Ihnen helfen, sich so weit zu beruhigen, dass Sie wieder arbeitsfähig sind.

Finden Sie eine Achtsamkeitstechnik, die Ihre akute Angst lindert. Der österreichische Neurologe Viktor Frankl hat einmal gesagt: "Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit." Das ist Achtsamkeit auf den Punkt gebracht. Selbst wenn Ihr Angstpegel gerade hoch und Ihr Zeitplan eng ist, können Sie diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion immer nutzen.

Es gibt verschiedene Wege, dies zu tun. Der Schlüssel liegt darin herauszufinden, was für Sie persönlich am besten funktioniert. Eine Möglichkeit ist, sich auf Ihren Atem zu konzentrieren. Ein Klassiker ist die bewusste Bauchatmung: aufrecht sitzen, Wirbelsäule und Kopf gerade, die Hände zwischen Nabel und Brustbein auf den Bauch legen, Konzentration in Nabelhöhe und bewusst gegen die Hände ein- und ausatmen, entspannt und konzentriert siebenmal wiederholen. Andere bevorzugen die sogenannte 4-7-8-Atemtechnik: beim Einatmen bis vier zählen, dann den Atem anhalten und bis sieben zählen, danach langsam bis acht zählen und dabei ausatmen. Beide Übungen sind leicht zu merken und so unauffällig, dass Sie sie auch am Schreibtisch machen können. Wenn Sie Ihre Atmung bewusst verlangsamen, sendet dies eine Botschaft an Ihr Gehirn, ruhiger zu werden. Das Gehirn schickt diese Nachricht dann weiter an Ihren Körper, sodass viele der mit Angst verbundenen körperlichen Symptome – etwa erhöhte Herzfrequenz und erhöhter Blutdruck – zurückgehen.

Sie können auch Ihre Aufmerksamkeit verlagern. Carolyn Glass zufolge ist diese Technik "perfekt für Menschen, die nicht meditieren wollen, aber zu starker Angst neigen und sich dann auf nichts anderes mehr konzentrieren können". Fokussieren Sie sich zunächst auf Ihre Angst. Dann lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz allmählich zu etwas Greifbarem wandern, zu etwas, das Sie in der Hand halten, etwa einem Buch oder einem Stift. Indem Sie sich in diesem Moment auf einen Gegenstand konzentrieren, können Sie die Lautstärke Ihrer Besorgnis so herunterregeln, dass diese nur noch eine Art Hintergrundrauschen bildet.

Wenn ich vor lauter Angst nicht still sitzen kann und auch Atemübungen nicht helfen, stelle ich eines meiner Lieblingslieder auf volle Lautstärke und tanze dazu fünf Minuten lang. Andere Leute singen lieber. Probieren Sie aus, was für Sie funktioniert, und speichern Sie diese Taktik mental ab, damit Sie im Notfall darauf zurückgreifen können.

Vertagen Sie Ihre Ängste. Manchmal rede ich laut mit meiner Angst und sage zu ihr: "Sorry, ich widme mich dir, sobald ich meine Arbeit erledigt habe." Vielleicht könnten Sie Ihre Befürchtungen auch aufschreiben und die Beschäftigung damit auf einen bestimmten Zeitpunkt verschieben – etwa auf den Abend oder auf die nächste Sitzung bei Ihrem Therapeuten.

In Krisenzeiten stellen Sie zudem womöglich fest, dass Dinge, die Sie in der Vergangenheit mit Sorge erfüllt hatten, jetzt in den Hintergrund gerückt sind. Die Dringlichkeit dessen, was jetzt gerade passiert, hat absoluten Vorrang. Damit sich Ihre Angst nicht gleich wieder in den Vordergrund drängt, könnten Sie ihr beispielsweise sagen: "Bleib, wo du bist. Ich bin hier Teil der Lösung und muss jetzt diese Aufgabe erledigen."

Schließen Sie sich mit Gleichgesinnten zusammen. Sich mit anderen zu vernetzen und auszutauschen kann die Negativschleife durchbrechen, die häufig mit Ängsten einhergeht. Anstatt sich auf sich selbst zu konzentrieren, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach außen. Wie sie es schaffe, während der Krise motiviert zu bleiben, wollte ich von meiner Freundin und Kollegin Cheryl Contee wissen, die CEO und Mitgründerin der Internetagentur Do Big Things ist. Sie antwortete, dass sie versuche, "eine gute Nachbarin" zu sein. Das hatte sie von ihrem Großvater William G. Contee gelernt, nach dem in seiner Heimatstadt Baltimore ein Park benannt wurde. "Ein guter Nachbar, eine gute Nachbarin zu sein ist verblüffend einfach", verriet sie mir. "Es geht nur darum, sich auf zwischenmenschlicher Ebene zu verbinden. Grüßen Sie Ihre Nachbarn, wenn Sie sie sehen? Fragen Sie sie, wie es ihnen geht oder ob sie irgendetwas brauchen?"

Contee ist auch digital mit Menschen aus ihrem beruflichen Umfeld vernetzt, die einander unterstützen und sich regelmäßig zu Themen austauschen, die ihnen wichtig sind. In ihrem Unternehmen lernen sie und ihre Kollegen gerade, über ihre Gefühle und ihre Familien zu sprechen und sich gegenseitig Tipps zu geben, wie sich Homeschooling mit der Arbeit verbinden lässt. "Wir alle sind erfahren in der virtuellen Wissensarbeit", sagt sie. "Aber rund um die Uhr die Kinder zu Hause zu haben und für ihre Schulbildung verantwortlich zu sein ist für uns alle eine neue Herausforderung."

Denken Sie mal darüber nach, wie eine kleine wohlwollende Geste in Ihrem Leben aussehen könnte. Vielleicht erkundigen Sie sich bei einer ehemaligen Kollegin, wie es ihr geht. Oder Sie fragen jemanden aus Ihrer Verwandtschaft, wie Sie ihn unterstützen könnten. Wenn mich die Angst packt, gehe ich manchmal auf LinkedIn und like Beiträge von Kolleginnen, oder ich schreibe etwas Positives dazu. Das lenkt mich ab und bewirkt, dass ich mich auf etwas Positiveres konzentriere.

Ist die Angst wirklich hartnäckig und behindert Sie dauerhaft in Ihrem Alltag, könnten Sie in Erwägung ziehen, einen Therapeuten oder einen psychosozialen Dienst zu konsultieren. Sprechen Sie mit jemandem, der darin ausgebildet ist, andere bei der Bewältigung ihrer Ängste zu unterstützen. Solche Experten können Ihnen weitere Bewältigungsstrategien nahebringen, mit denen Sie die Symptome, die Sie so stark beeinträchtigen, besser in den Griff bekommen.

Haben Sie erst einmal ein Gespür dafür entwickelt, wie Sie Ihre Angst erleben und im Alltag damit umgehen können, ist es an der Zeit, eine weitere Frage zu beleuchten: Wie wirkt sich die Angst auf Ihre Führungs- und Managementfähigkeiten aus?

Angst kann unser Urteilsvermögen beeinträchtigen. Sie kann dazu führen, dass wir uns auf die falschen Dinge konzentrieren, die Tatsachen verdrehen oder übereilte Schlussfolgerungen ziehen. Im Idealfall sollten wir wichtige Entscheidungen vertagen, bis wir in einer besseren Gemütsverfassung sind. Aber das ist nicht immer möglich.

In angstbesetzten Zeiten ist es wichtig, dass Sie aktiv daran arbeiten, gute Entscheidungen zu treffen. Ähnlich wie bei der Frage, ob das Befürchtete möglich oder wahrscheinlich ist, sollten Sie zunächst einmal anerkennen, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist und uns anfällig für negative Gedanken macht. Nehmen wir an, Sie bereiten sich auf einen Vortrag vor, und das letzte Mal, als Sie vor einer Gruppe vergleichbarer Größe sprachen, hatten Sie das Gefühl, es gründlich vermasselt zu haben. Vielleicht sind Sie ohnehin der Meinung, ein grottenschlechter Redner zu sein, nur weil Sie einst bei einem Schulreferat ausgelacht wurden.

Fragen Sie sich selbst: Bin ich objektiv? Wenn Sie sich nicht sicher sind, sollten Sie prüfen, ob Ihre Erinnerungen an das Ereignis tatsächlich stimmen – vielleicht indem Sie eine Kollegin, die dabei war, um ehrliches Feedback bitten.

Natürlich müssen Sie die richtigen Leute fragen. Alice Boyes empfiehlt, einen vertrauenswürdigen Ratgeber zu finden, dessen Entscheidungsstil sich von Ihrem eigenen unterscheidet. Sind Sie eher der impulsive Typ, sollten Sie also jemanden um Rat bitten, der oder die eher methodisch und konservativ denkt, und umgekehrt. Schließlich sollte jeder, der Menschen führt, einige Vertraute auf Augenhöhe haben, die ihm die ungeschminkte Wahrheit sagen. Im Gegenzug können Sie diese Rolle für andere spielen. Sie können ihnen auch dann zu mehr Klarheit und Einsicht verhelfen, wenn Sie selbst Ihre eigenen Erfahrungen nur schwer beschreiben können.

Einer der gefährlichsten Aspekte von Angst ist, dass sie ansteckend wirkt. Führungskräfte geben dabei den Takt vor. Daniel Goleman, der renommierte Psychologe und Autor des Buches "Emotionale Intelligenz", spricht von einem "neuronalen WLAN", mit dem Menschen die unausgesprochenen Gefühle anderer registrieren und übernehmen.

Wenn Sie anderen gegenüber nicht zugeben, dass Sie sich Sorgen machen, gleichzeitig aber Gereiztheit oder Verstörtheit ausstrahlen, tun Sie Ihrer Belegschaft keinen Gefallen. Wie aber können Sie Ihren Leuten gegenüber aufrichtig sein, ohne sie zu verunsichern? Welcher Grad an Emotionen ist noch angemessen? Letztlich ist es natürlich Ihre Entscheidung, wie viel Sie von sich preisgeben. Als Inhaberin eines Unternehmens und Moderatorin eines Podcasts über Angst und psychische Gesundheit spreche ich selbst sehr viel über meine Gefühle. Aber ich weiß, dass die meisten Führungskräfte ihre inneren Dämonen nicht gern publik machen. Nur wenige würden wohl eine Mitarbeiterversammlung ohne Bedenken mit den Worten eröffnen: "Wow, heute habe ich ganz schön Angst." Doch achtsame Führungspersönlichkeiten wissen, wann es angebracht ist, sich verletzlich zu zeigen. Und für Ihre Mitarbeiter ist es wichtig, dass Sie transparent und ehrlich auftreten, was Ängste und psychische Gesundheit anbelangt. Das gilt ganz besonders in einer Zeit, in der die Zukunft des Unternehmens auf der Kippe steht und ihre Existenzgrundlage bedroht ist.

Amelia Ransom, Leiterin der Abteilung Engagement and Diversity beim Steuerdienstleister Avalara, erwartet von ihren Führungskräften, dass diese zugeben, wenn es ihnen nicht gut geht, weil sie dann ihre eigenen Gefühle bestätigt sieht. "Es gibt mir das Gefühl, normal zu sein, wenn jemand, den ich schätze und dem ich vertraue, eingesteht, dass er verunsichert ist. Ich denke mir dann: 'Danke, dass du auch nur ein Mensch bist', und ich möchte mich diesem Menschen anschließen." Ransom erinnert sich an einen bedeutsamen Moment, als ein Vorstand ihres Unternehmens die Belegschaft zu einer Videokonferenz einberief und sagte: "Ich kann Ihnen leider nicht sagen: 'Wir bekommen das hin.' Ich kann nur dafür sorgen, dass wir hier zusammenkommen und miteinander reden, um uns über das eine oder andere klar zu werden."

Wenn jemand zugibt: "Ich habe Angst", oder: "Letzte Nacht habe ich kein Auge zugetan", dann lässt das alle Anwesenden ein bisschen aufatmen. ("Puh, es ist also nicht meine Schuld, dass er heute so angespannt wirkt.") Und denken Sie daran, dass Sie keine Details offenlegen müssen. Benennen Sie einfach nur, wie es Ihnen gerade geht.

Die Sozialpsychologin Amy Cuddy meint, wir bräuchten Führungspersönlichkeiten, die gleichzeitig Wärme und Stärke ausstrahlen. "Die meisten Führungskräfte von heute neigen dazu, am Arbeitsplatz ihre Stärke, ihre Kompetenzen und Qualifikationen zu betonen. Aber das ist genau der falsche Ansatz", schreibt sie. "Führungskräfte, die Stärke höher bewerten als Vertrauen, laufen Gefahr, Ängste anzustacheln, was wiederum eine Kette dysfunktionaler Verhaltensweisen nach sich zieht." Nichts schafft wirksamer Vertrauen als eine emotionale Verbundenheit, die aus Empathie und gemeinsamem Menschsein resultiert. Deshalb ist es so ungeheuer hilfreich, offen über die eigenen Ängste zu sprechen. Es baut Vertrauen auf, wenn Sie Ihre Kollegen fragen können, wie es ihnen geht, und diese nicht das Gefühl haben, lügen oder ein Lächeln aufsetzen zu müssen, weil sie wissen, dass auch Sie die Anspannung spüren.

Was natürlich nicht heißen soll, dass Sie bei einer Videokonferenz in Tränen ausbrechen oder die Fassung verlieren sollten. Und obwohl Ihre Mitarbeiter wissen sollten, dass Sie den Cashflow sorgsam im Blick behalten, damit alle Rechnungen bezahlt werden können, so brauchen sie nicht zu wissen, dass Ihre Ängste etwas mit den finanziellen Sorgen zu tun haben, die Ihre Eltern plagten, als Sie ein Kind waren. Und es ist möglich, dass Sie in puncto Selbstfürsorge mit gutem Beispiel vorangehen, ohne dass jemand das Vertrauen in Ihre Führungskompetenzen verliert.

Stellen Sie sich vor, Sie stecken mitten in einer Angstspirale, weil Sie gerade die neuesten Corona-Meldungen gelesen haben, müssen aber in zehn Minuten eine Teamsitzung leiten. Nun könnten Sie das Meeting natürlich mit den Worten eröffnen: "Die Lage wird offenbar immer bedrohlicher, aber ich möchte, dass wir das für die Dauer unseres Gesprächs einmal außen vor lassen." Sie könnten sich aber auch verletzlicher zeigen und die anderen wissen lassen, dass Sie versuchen, Ihre Befürchtungen in Grenzen zu halten, indem Sie sich das gönnen, was Glass eine "Sorgenstunde" nennt: ein Zeitfenster, in dem Sie sich erlauben, Ihren beunruhigendsten Gedanken nachzuhängen, bevor Sie diese Gedanken wieder beiseiteschieben und sich auf die Arbeit konzentrieren.

Wenn Sie Menschen ermutigen möchten, über Gefühle zu sprechen, aber nicht wollen, dass das Ganze in ein großes Wehklagen ausartet, bietet sich die "Ampelübung" an: Die einzelnen Teammitglieder sagen der Reihe nach, welche der drei Ampelfarben – Rot, Gelb oder Grün – am ehesten auf ihre momentane Stimmung zutrifft, und wer möchte, kann kurz den Grund für seine Wahl erläutern. So haben die Teilnehmer die Möglichkeit, gegebenenfalls etwas mehr zu erzählen, und Sie bekommen hilfreiche Informationen über die Stimmungslage im Team. Entsprechend können Sie Ihren Kommunikationsstil und Ihre Botschaften anpassen.

Und denken Sie daran: So wichtig eine positive Haltung ist, um emotionale Ansteckung zu vermeiden, wollen Sie doch auch keine falschen Hoffnungen wecken. Wenn Sie mit schwierigen Fragen wie "Ist mein Job sicher?" oder "Werden wir in einem halben Jahr noch im Geschäft sein?" konfrontiert werden, ist es nicht Ihre Aufgabe, die Zukunft vorherzusagen. Niemand besitzt eine Glaskugel, und Sie können nur das sagen, was Sie in diesem Moment sicher wissen. Betonen Sie, wie wichtig gerade in diesen Zeiten eine gute Zusammenarbeit und die Fokussierung auf das ist, was jeder Einzelne selbst in der Hand hat.

Im letzten Schritt für erfolgreiche Führung in Zeiten der Angst sollten Sie sicherstellen, dass Sie permanent Unterstützung haben. Das bedeutet nicht nur, sich mit den richtigen Menschen zu umgeben, sondern auch Routinen zu entwickeln, die zum Erhalt Ihrer psychischen Gesundheit beitragen und Ihnen helfen, mit Angstzuständen umzugehen.

Wenn Sie von Ängsten geplagt werden, ist es wichtig, für eine gute Tagesstruktur zu sorgen, wie ich bereits erwähnt habe. Die Methoden dazu sind einfach: Listen schreiben, Prioritäten festlegen und Ihre Arbeit in kleine, gut handhabbare Einheiten unterteilen. Splitten Sie Aufgaben, die Ihnen Angst einjagen, in machbare kleine Schritte. Diesen Trick habe ich von meiner eigenen Psychiaterin Carol Birnbaum gelernt.

Setzen Sie auch die Detektivarbeit ein, die ich oben bei den Triggern beschrieben habe, um sich auf Situationen oder Veranstaltungen vorzubereiten, vor denen Sie Angst haben. Wenn Ihnen öffentliche Auftritte Stress machen, planen Sie genügend Vorbereitungszeit ein, um Ihre Präsentation zu üben. Wenn Sie Flugangst haben, proben Sie eine Geschäftsreise in Gedanken – von "Ich packe meinen Koffer" über "Ich bestelle mir ein Taxi und rufe während der Fahrt zum Flughafen meine Freundin an" bis hin zu "Ich kaufe mir am Flughafen Schokolade, weil ich weiß, dass mich das glücklich macht". Und dann, im Flugzeug selbst: "Ich nehme etwas zur Beruhigung ein, mache eine Entspannungsübung, und ich werde es überleben."

Ich persönlich werde nervös und ängstlich, wenn ich unterwegs bin und nichts von unserem Kindermädchen oder meinem Mann gehört habe. Ich mache mir dann Sorgen, dass etwas passiert sein könnte, und bin von meiner eigentlichen Arbeit abgelenkt. Deshalb bitte ich jetzt immer meinen Mann oder die Babysitterin, mir alle drei Stunden eine Nachricht zu schicken, dass alles okay ist. Dann belästige ich sie nicht, wenn sie zum Beispiel vielleicht gerade mit den Kindern im Auto unterwegs sind. Und wenn ich weiß, dass sie mich auf dem Laufenden halten, kann ich mich beruhigt auf meine Arbeit konzentrieren.

Da Sie Ihre Mitarbeiter nicht mit unschönen Details Ihrer Angst belasten wollen, brauchen Sie einen anderen Platz für diese Emotionen. Sorgen Sie dafür, dass Sie ein zuverlässiges Supportteam haben – Menschen, denen Sie Ihre angstvollen Gedanken anvertrauen können. Das kann eine Therapeutin sein, ein Coach, ein Mentor, Ihr Partner oder Freunde. Oder Sie vertrauen sich guten Kollegen oder anderen Führungskräften an – online oder offline –, die sich zu Vertraulichkeit verpflichtet haben und füreinander da sind, wenn einer von Ihnen mit überbordenden Gefühlen zu kämpfen hat.

Diesen Punkt muss ich nicht weiter ausführen. Sie wissen, was Selbstfürsorge für Sie persönlich bedeutet und was Sie dazu brauchen: Sei es ausreichend Schlaf, Sport, Hobbys, eine Massage, Zeit für sich oder Zusammensein mit geliebten Menschen. Wichtig ist nur: Nehmen Sie dieses Thema ernst, so als hätte ein Arzt es Ihnen verschrieben. Für Sie als Führungskraft ist das keineswegs unseriös oder nur optional; es sollte vielmehr absolut selbstverständlich sein. Und sofern Sie bereit sind, einige Aspekte davon öffentlich zu machen, kann auch Ihr Team davon profitieren. Wenn Sie mit gutem Beispiel vorangehen, bekommen auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Gefühl, gut auf sich achtgeben zu dürfen. Das kann eine so simple Aktion sein, wie andere wissen zu lassen, dass Sie das Telefon nicht mit ins Schlafzimmer nehmen, dass Sie jeden Tag eine Stunde Sport machen oder dass Sie nicht ständig in sozialen Netzwerken oder auf Twitter unterwegs sind.

Wenn Sie auf ein verlässliches Supportteam zählen können, werden Sie Rückschläge und schwierige Zeiten deutlich leichter überstehen. Es ist eine Strategie, die auf Ihren langfristigen Erfolg und Ihre Belastbarkeit in der Führungsrolle einzahlt. Sie verschafft Ihnen angenehmere Arbeitstage, nicht nur wenn es gut läuft, sondern auch und vor allem in Zeiten von Wandel und Krisen.

Angst gehört zum Job einer Führungskraft dazu. Wenn Sie lernen, gut damit umzugehen, können Sie stärker, empathischer und effizienter werden. Allerdings ist der Weg dorthin oft steinig. Denken Sie also daran, sich selbst Verständnis und Mitgefühl entgegenzubringen. Erkennen Sie an, dass Sie Ihr Bestes geben, dass Ihre Gefühle ganz normal sind und dass es für Sie das Gesündeste ist, wenn Sie sie einfach zulassen.

Für allzu viele Menschen ist es immer noch ein Tabu, bei der Arbeit über psychische Gesundheit zu sprechen. Ich kenne viele Führungskräfte, die sich nicht vorstellen können, in eine Teamsitzung zu gehen und zu sagen: "Heute habe ich Angst." Warum eigentlich nicht? Und warum nicht jetzt damit anfangen? Die Zeiten sind alles andere als normal, und wenn Sie eine Emotion eingestehen, die derzeit auf der ganzen Welt vorherrscht, geben Sie anderen Menschen das Gefühl, dass ihre Befürchtungen verständlich und völlig okay sind.

Wir brauchen dringend bessere Führungsmodelle, und das gilt ganz besonders, wenn die Gesellschaft uns einzureden versucht, Angst und Depression seien Schwächen. Forschungsdaten bestätigten dies: Einem Bericht von Mind Share Partners aus dem Jahr 2019 zufolge hielten es 86 Prozent der Jobsuchenden in den USA für wichtig, dass die Kultur in Unternehmen die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter unterstützt. Doch nur 37 Prozent der Unternehmen betrachteten ihre Führungskräfte als Ansprechpartner für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.

Diejenigen unter uns, die mit Ängsten vertraut sind, erleben sie in dieser Krise vielleicht sehr bewusst, während andere möglicherweise erstmals intensiv Angst verspüren. Daher ist die Corona-Pandemie eine gute Gelegenheit, diese Einstellung zu verändern. Und Sie können einen wichtigen Beitrag dazu leisten.  © HBP 2020

Kompakt

Das Problem Angst gehört zum Job einer Führungskraft dazu. Doch für viele Chefinnen und Chefs ist es nach wie vor ein Tabu, psychische Befindlichkeiten zu thematisieren. Lieber kämpfen sie im Stillen – selbst in der aktuellen Pandemie, die den meisten Menschen weltweit Angst einflößt. Die Lösung Wenn Managerinnen und Manager lernen, souverän mit ihrer Angst umzugehen, macht sie das stärker, klarer und empathischer.

Die vier Schritte Wer sich seiner Angst stellen und sie besiegen will, sollte in vier Schritten vorgehen: 1. Akzeptieren Sie, dass Sie Angst haben, und benennen Sie Ihre Gefühle. Erforschen Sie, was die Angst auslöst, und finden Sie heraus, ob Ihr Horrorszenario möglich und wahrscheinlich ist. 2. Werden Sie aktiv, und steuern Sie das, was in Ihrer Macht liegt. Für alles, was Sie nicht kontrollieren können, brauchen Sie einen Notfallplan. 3. Bitten Sie andere um Feedback, und sprechen Sie offen über Ängste. 4. Bauen Sie sich ein Unterstützungssystem auf, und stärken Sie sich selbst. Kompakt

Autorin

Morra Aarons-Mele ist Expertin für digitale Kommunikation, Autorin, Rednerin und Podcasterin. Sie gründete die Social-Impact-Agentur Women Online und das Influencerinnen-Netzwerk "The Mission List". In ihrem Buch "Hiding in the Bathroom. How to Get Out There When You'd Rather Stay Home" (Dey Street Books 2017) beschreibt sie, wie introvertierte und ängstliche Menschen die Kontrolle über ihr Leben und ihre Karriere zurückgewinnen können.

Dieser Beitrag erschien in der Oktober-Ausgabe 2020 des Harvard Business managers.

Führen in Zeiten der Angst

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