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Gebäudetyp E unter Beschuss: Bürokratieabbau im Bauwesen bleibt Wunschdenken

Mit einer Reform will die Regierung das Baurecht revolutionär vereinfachen. In der Praxis werde der „Gebäudetyp E“ aber scheitern, erwarten Experten.

Im Juli legte Bundesbauministerin Klara Geywitz Leitlinien für eine Reform vor, die zu nicht weniger führen soll als einer Revolution im Bauwesen. Der Name Gebäudetyp E war erst einmal erklärungsbedürftig und verwirrend. Denn der Begriff beschreibt keine neue Art von Häusern, sondern die Möglichkeit, einen erheblichen Teil der 4000 bau-relevanten DIN-Normen und andere sogenannte „anerkannte Regeln der Technik“ künftig außer Acht lassen zu können. Einfacheres und experimentelles Bauen – deshalb das E – soll der Gebäudetyp möglich machen.

Am kommenden Mittwoch, dem 6. November, will der für die rechtliche Umsetzung zuständige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) nun aller Voraussicht nach eine entsprechende Novelle des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ins Ampel-Kabinett einbringen. Nur einige offene Fragen zum Schutz der Ansprüche von Bauherren müssen noch mit Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) geklärt werden.

Versprochen wird Bürokratieabbau pur, ein Kahlschlag im Dickicht der Bauregulierung. Die Erwartungen sind riesig, manche Bau-Akteure euphorisch. Die Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, Andrea Gebhard, sagte nach Vorlage des Geywitz-Papiers, der Verzicht auf nicht notwendige Baustandards werde Bau- und Sanierungsprozesse beschleunigen und Rohstoff-Ressourcen schonen: „Gebäudetyp E trägt wesentlich zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und zur Förderung innovativer Bauprojekte bei.“ Lydia Haack, die Präsidentin der Bayerischen Architektenkammer, fand es „keineswegs übertrieben, von einem historischen Erfolg unseres Berufsstandes zu sprechen“. Auch der eher Ampel-skeptische Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie (HDB), lobte den „pragmatischen Lösungsansatz“ und das „gute Politik-Management nach dem Motto: Problem erkannt, wir machen uns auf den Weg“. Gebäudetyp E, so Müller, „kann die Baupraxis nachhaltig verändern“.

Ist er also endlich da, der Turbo für die immer schwächere Baukonjunktur, der Gamechanger für die seit zwei Jahren zurückgehenden Baugenehmigungen und Bauaufträge?

Schön wär´s. Baurechtsexperten erwarten das Gegenteil: Gebäudetyp E – eine der wenigen von der Wirtschaft gefeierten Ampel-Initiativen – könnte zum Rohrkrepierer werden.

Andreas Koenen, Chef der bundesweit tätigen Kanzlei Koenen-Bauanwälte und einer der führenden Baurechtsexperten in Deutschland, begrüßt zwar die Gesetzesinitiative, sagt aber: „Es ist kaum denkbar, dass sich die am Bau Beteiligten auf niedrigere Standards einigen, ohne rechtliche Risiken einzugehen.“

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Drei unlösbare Probleme führen zum Scheitern

Vor allem drei Probleme sieht Koenen. Erstens: die zu hohe Bedeutung der DIN-Normen vor Gericht. In der öffentlichen Debatte werden DIN-Normen oft als Mindeststandards für Bauvorhaben betrachtet, obwohl viele Normen laut dem Deutschen Institut für Normung nur Empfehlungen und nicht zwingend notwendig sind. „Trotzdem werden sie befolgt“, weiß Koenen, „weil Richter bei Mängel- und Haftungsfragen auf Gutachten zurückgreifen, in denen diese Normen als allgemein anerkannte Regel eingestuft werden und kaum ein Sachverständiger es wagt, das Gegenteil zu behaupten.“

Prof. Dr. Andreas Koenen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Verwaltungsrecht. - Foto: PR
Prof. Dr. Andreas Koenen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Verwaltungsrecht. - Foto: PR

Problem zwei: die Intransparenz der DIN-Normen. Nicht einmal Bauunternehmen und Rechtsanwälte können sie kostenfrei einsehen. Zwar beziehen sich Sachverständige in gerichtlichen Auseinandersetzungen um vermeintliche oder tatsächliche Baumängel auf DIN-Normen - oft aber, ohne sie beizufügen. „Das erlebe ich täglich“, sagt Koenen.

Die Normen, über die gesprochen wird wie über Paragraphen eines Gesetzes, sind urheberrechtlich geschützt und kostenpflichtig. Koenen: „Für eine sinnvolle Umsetzung des Gebäudetyps E müssten alle relevanten DIN-Normen offengelegt werden. Die zusätzlichen Kosten für die Veröffentlichung würden, so Koenen, „die erhofften Einsparungen beim Bau aber wieder zunichtemachen.“

Problem drei: Unklarheiten bei der Abweichung von DIN-Normen. Die geplante Baurechtsreform sieht vor, dass Bauunternehmen und Bauherren, soweit es sich um fachkundige Unternehmer handelt, von Normen abweichen können, solange die Sicherheit und die Qualität der Baumaßnahmen gewährleistet bleiben. Koenen: „Welche Folgen das Abweichen von einer Norm hat, ist schwierig zu beschreiben. Ohne detaillierte Beschreibung wird man die Folgen der Abweichung von den allgemein erkannten Regeln der Technik aber kaum abschätzen können." Die entstehenden Unklarheiten, so Koenen, „erhöhen in jedem Fall das Streitpotential“ – und könnten deshalb zur Folge haben, dass letztlich kaum ein Bauherr die neue Norm nutzt: „Um derartige Streitigkeiten und Kosten zu vermeiden, werden Baubeteiligte im Zweifelsfalle gleich nach der höheren Norm bauen.“

An mindestens zwei Stellen schafft Gebäudetyp E neue Abgrenzungsschwierigkeiten. Zum einen sollen eben nur fachkundige Unternehmen die neue Vertragsform anwenden. Was fachkundig bedeutet, ist völlig unklar. Zum anderen werden im Gesetzentwurf Normen als verzichtbar eingeschätzt, wenn sie nur Komfortstandards regeln. Wo aber liegt die Grenze zwischen Normen, die nur dem Komfort dienen, und solchen, die etwa sicherheitsrelevant sind? „Und was“, fragt Koenen, „ist beispielsweise mit der Barrierefreiheit, die in vielen Bundesländern in den letzten Jahren mit großer politischer Überzeugungskraft bauordnungsrechtlich durchgesetzt wurde?“

All dies sind für den Baurechtsexperten „Themen, die absehbar Streitigkeiten und Gerichtsverfahren auslösen werden, wenn der Bauherr beispielsweise das beauftragte Bauunternehmen wegen Abweichung von den allgemein anerkannten Regeln der Technik nicht vollständig bezahlen will“.

Hochgradig absurd: der Mangel ohne Schaden

„Anerkannte Regeln der Technik“ ist ein wichtiger Begriff im Baurecht. Neben den 4000 Bau-Normen zählen technische Regelwerke sowie bewährte Handwerksregeln, die von der Mehrheit der Bauexperten als richtig anerkannt und von der Mehrzahl der Fachleute angewendet werden, zu ihnen. Ein komplettes Verzeichnis existiert nicht.

HDB-Chef Müller bezeichnet die Regeln als „rechtliches Konstrukt, quasi eine Gehhilfe der Gerichte“, die ja technische Laien seien. „Das Ganze ist hochgradig absurd“, sagt Müller – und erläutert es am Beispiel des sogenannten „Mangels ohne Schaden“: Jemand klagt, weil eine eigentlich freiwillige Norm im Zuge einer Baumaßnahme durch den Bauunternehmer nicht berücksichtigt wurde. Wenn das Gericht feststellt, dass es sich bei dieser Norm um eine anerkannte Regel der Technik handelt, fällt die Entscheidung zugunsten des Klägers aus. Obwohl am Gebäude kein Schaden entstanden ist, kommt es durch diese Rechtsauffassung zu Regressansprüchen. „Folglich hält sich jeder, der ein Gebäude plant, vorsorglich daran, nahezu alle Normen und Regeln umzusetzen“, sagt Müller. „Das ist eine Ursache der Kostenspirale im letzten Jahrzehnt.“

Baurechts-Koryphäe Koenen und andere kundige Akteure der Bauwirtschaft befürchten, dass Gebäudetyp E keinen Ausweg aus dieser über Jahrzehnte gewachsenen und gewucherten Zwangslage bieten wird.

Axel Gedaschko, Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW, glaubt, Gebäudetyp E werde „in der Praxis kaum Anwendung finden. Die vorgeschlagenen Regelungen zur Abweichung von technischen Normen sind kompliziert und schwer durchzusetzen.“ Damit nicht alles noch komplexer werde, fordert Gedaschko, stattdessen das bestehende Werkvertragsrecht beizubehalten und darin nur den Umgang mit den allgemein anerkannten Regeln der Technik zu ändern.

Ein Beschäftigungsprogramm für Juristen

Auch der bayrische Bauminister Christian Bernreiter (CSU) – ein Verfechter der Idee des Gebäudetyps E, sieht die möglichen Umsetzungsprobleme: „Das Bundesjustizministerium muss gesetzlich regeln, dass Unternehmen und Planer bei der Abweichung von DIN-Normen nicht in Haftung genommen werden können. Sonst werden nur wenige Unternehmen sich trauen, in diesem Stil zu bauen, weil sie fürchten müssen, von Käufern oder Mietern verklagt zu werden – selbst dann, wenn kein Mangel vorliegt.“

Baurechtsexperte Koenen, der an zwei Hochschulen privates und öffentliches Baurecht sowie Verwaltungsrecht lehrt, sieht in der Reform nur einen Gewinner, seinen eigenen Berufsstand. „Gebäudetyp E wird ein Beschäftigungsprogramm für Juristen.“

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