Homeoffice: Wie digitale Tools die Produktivität senken
Ausgerechnet die modernen digitalen Tools senken die Arbeitsproduktivität und halten Führungskräfte wie Mitarbeiter von ihren eigentlichen Aufgaben ab, glaubt Rahaf Harfoush, Expertin für digitale Technologie und Innovation. Im Interview erklärt sie, wie Führungskräfte ihre Teammitglieder dabei unterstützen können, trotzdem einen guten Job zu machen.
Das Interview führte Christiane Sommer
Harvard Business manager: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehnen sich nach den langen Corona-Monaten nach einer Verschnaufpause. Die Unternehmen wollen jedoch endlich wieder richtig durchstarten. Was können Führungskräfte tun, um ihre Teammitglieder in dieser Situation zu unterstützen?
Rahaf Harfoush: Viele Menschen fühlen sich tatsächlich ausgelaugt – auch viele Führungskräfte. Was oft übersehen wird: Etliche von uns waren schon vor der Pandemie erschöpft. In der Pandemie haben wir unsere Reserven nahezu aufgebraucht: Prozesse mussten ganz schnell umgebaut werden; die Umstellung auf mobiles Arbeiten passierte vielerorts von jetzt auf gleich. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war das nicht nur ungewohnt, sondern auch sehr anstrengend. Die Sorgen um die Betreuung der Kinder, die Gesundheit und den Job haben zusätzlich Energie gekostet. Deshalb wäre es höchste Zeit, endlich einmal durchzuatmen. Einige Unternehmen haben darauf reagiert, indem sie ihre Büros geschlossen und ihre Mitarbeiter in die Ferien geschickt haben. Die Datingplattform Bumble sperrte im Juni 2021 für eine Woche komplett zu. Linkedin gab seinen Mitarbeitern ebenfalls eine Extrawoche bezahlten Urlaub.
Das ist längst nicht für jedes Unternehmen ein gangbarer Weg. Ginge es auch anders?
Als es anfing mit der Pandemie, mussten viele Unternehmen zunächst improvisieren. Die Teams hatten oft keine Zeit, gemeinsame Regeln für die Nutzung von Kommunikations- und Kollaborationstools festzulegen. Vielerorts gibt es bis heute keine. Das verursacht Stress, der die Produktivität senkt. Führungskräfte sollten deshalb mit ihren Teams besprechen, wie die Zusammenarbeit laufen soll und welche Erwartungen jeder Einzelne hegt. Gerade dann, wenn einige Teammitglieder vom Büro aus arbeiten, manche zwischen Firma und Homeoffice wechseln und wieder andere hauptsächlich am heimischen Schreibtisch sitzen. Unbedingt geklärt werden sollten Fragen wie: Wie viel Zeit geben wir uns, um E-Mails oder Chatnachrichten zu beantworten? Manche Ihrer Teammitglieder werden Ihnen antworten: "Ich möchte eine Rückmeldung innerhalb von zwei Stunden." Andere halten es dagegen vielleicht für ausreichend, wenn sie erst am nächsten Arbeitstag Antwort erhalten. Diese unterschiedlichen Erwartungshaltungen führen zu Irritationen, die die Fortschritte bei der Arbeit erheblich belasten können. Umso wichtiger sind entsprechende Vereinbarungen. Dazu kann auch gehören, dass bestimmte Kommunikationskanäle für unterschiedliche Dringlichkeiten genutzt werden. Etwa: "Für Notfälle nutzen wir das Telefon."
Viele werden trotzdem das Gefühl haben, sie müssten sofort antworten.
Dahinter steckt oft mangelndes Vertrauen. Viele Führungskräfte tun sich bis heute schwer damit, ihre Teams nicht vollzählig vor Ort zu wissen und deshalb nicht kontrollieren zu können. Mitarbeiter spüren das und verhalten sich entsprechend. Und auch ohne misstrauischen Chef haben etliche Mitarbeitende das Gefühl, sie müssten beweisen, dass sie zu Hause wirklich arbeiten und nicht etwa Netflix schauen. Umso wichtiger ist es, klare und eindeutige Regeln zu haben und sie zu trainieren. Das allein bringt oft schon eine große Entlastung im Team.
Das klingt einfach. Warum ist es so schwer umzusetzen?
Ein Grund ist sicherlich, dass wir alle Angst haben, etwas Entscheidendes zu verpassen. Das macht es uns schwer, Mails und Nachrichten zu ignorieren und weiterzuarbeiten. Ein anderer Grund ist, dass uns die Pandemie verunsichert hat. Darauf reagieren viele mit noch mehr Anstrengung im Job. Etliche sind zudem mit dem Glaubenssatz aufgewachsen, dass nur harte Arbeit zum Erfolg führt – und dass sie ihn auch nur verdient haben, wenn sie mehr oder weniger ständig im Einsatz sind. So kommt es, dass viele selbst im Urlaub noch ständig ihre Mails und Nachrichten checken, geschäftliche Telefonate führen und nie, wirklich nie abschalten und sich erholen können.
Es dürfte Führungskräfte überfordern, Mitarbeitern zu helfen, sich von diesen Glaubenssätzen zu lösen. Zumal viele Führungskräfte selbst damit groß geworden sind.
Tatsächlich ist hier jeder Einzelne selbst gefordert. Ich weiß das von mir selbst. Meine Familie stammt aus Syrien und ist nach Kanada ausgewandert. Ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, mich immer noch ein bisschen mehr als andere anstrengen zu müssen, um zu überleben und so erfolgreich zu sein wie sie. Nur wenn Sie sich mit Ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen, stoßen Sie darauf, mit welchen persönlichen Glaubenssätzen zu Job, Karriere und Erfolg Sie groß geworden sind. Erst dann können Sie es schaffen, Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Führungskräfte, denen dies gelingt und die vorleben, dass ihnen der Job zwar wichtig ist, sie aber nicht als Mensch definiert, sind gute Vorbilder für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
In vielen Unternehmen gelten Anwesenheit und Erreichbarkeit nach wie vor als Voraussetzung für Anerkennung und beruflichen Erfolg. Wie es scheint, zementieren ausgerechnet die modernen digitalen Kommunikationstools diese tradierten Mechanismen.
Das ist wirklich ziemlich verrückt. Dass bloße Anwesenheit im Büro nicht zu besseren Arbeitsergebnissen führt, liegt auf der Hand. Auch das schnelle Antworten auf elektronische Nachrichten trägt nicht dazu bei. Wer dauernd damit beschäftigt ist, auf Mails und Messages zu reagieren, wird unproduktiv, weil er oder sie ständig von den eigentlichen Aufgaben abgelenkt wird. Dennoch legen wir enormen Wert darauf, jeden durchgängig erreichen zu können und jederzeit Antworten zu bekommen. So ein System ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen, um unsere Jobs erfolgreich zu erledigen, weil uns schlicht die Zeit zum konzentrierten Arbeiten fehlt. Führungskräfte müssen deshalb unbedingt Arbeitsumgebungen und -bedingungen entwickeln, die ihren Teams Zeit zum Nachdenken verschaffen.
Wie könnten solche Arbeitsbedingungen denn aussehen?
Wir brauchen Systeme, deren Priorität nicht auf ständigen Unterbrechungen liegt, sondern auf ungestörtem Arbeiten. Dazu gehören im Übrigen auch ausreichend Pausen.
Wie soll das gehen?
Veränderungen, die einen Mindshift voraussetzen, brauchen eine Weile. Führungskräfte können ihre Teams unterstützen, indem sie an bestimmten Wochentagen grundsätzlich keine Meetings ansetzen. In der Citibank gibt es beispielsweise freitags keine Videokonferenzen. Airbnb und Facebook halten den Mittwoch von Meetings frei. Damit zeigen sie ihrer Belegschaft, dass sie es ernst meinen mit dem ungestörten Arbeiten.
Einmal in der Woche auf Konferenzen zu verzichten scheint eher symbolisch. Wie kann ich als Führungskraft sicherstellen, dass meine Teammitglieder auch sonst konzentriert arbeiten können?
Zunächst einmal sollten Führungskräfte neu definieren, was High Performance eigentlich bedeutet. Gerade für Wissensarbeiter treffen die herkömmlichen Definitionen längst nicht mehr zu. Wer im Grunde seines Herzens nach wie vor davon überzeugt ist, die Basis wäre ein Arbeitstag von acht Stunden, die am Schreibtisch verbracht werden, der irrt. Neurowissenschaftliche Untersuchungen belegen eindeutig, dass ununterbrochene geistige Spitzenleistung über einen so langen Zeitraum nicht möglich ist. Vieles deutet darauf hin, dass wir nach spätestens 90 Minuten konzentrierter Arbeit eine Pause von 20 bis 30 Minuten brauchen. Gemeint ist echte Erholung – Mails und Nachrichten zu beantworten ist damit tabu. Ideal wäre ein bisschen Bewegung an der frischen Luft, etwa ein kurzer Spaziergang.
„Wir brauchen Systeme, deren Priorität nicht auf ständigen Unterbrechungen liegt, sondern auf ungestörtem Arbeiten.“
Natürlich können Führungskräfte ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht vorschreiben, wie sie ihre Pausen zu verbringen haben. Aber sie können eine Kultur schaffen, die solche Phasen des Ungestörtseins ermöglicht und unterstützt. Dabei helfen Vereinbarungen wie: "Wenn eine Kollegin im Teamkalender eingetragen hat, dass sie nicht unterbrochen werden will, dann halten sich alle anderen daran". Dazu gehört auch, dass Erholungsphasen einkalkuliert und akzeptiert werden. Das alles klingt erst einmal banal, ist in der Umsetzung aber längst nicht so einfach: Führungskräfte beschleicht oft ein merkwürdiges Gefühl, wenn sie ihren Leuten sagen, dass sie es langsamer angehen lassen sollen. Auch die Mitarbeiter müssen oft erst lernen, mit solchen Vereinbarungen umzugehen und sie ohne schlechtes Gewissen umzusetzen.
Bislang haben wir vor allem darüber gesprochen, was Führungskräfte tun können, um ihre Mitarbeiter zu unterstützen. Aber auch Führungskräfte leiden unter ständigen Unterbrechungen. Wie können Chefs und Chefinnen sicherstellen, dass sie selbst genug Zeit finden, um ihren Job gut zu machen?
Die Regeln, die sich das Team selbst gibt, sollten auch für die Teamleitung gelten. Schon, damit Sie glaubwürdig bleiben. Im Idealfall gelingt es Ihnen sogar, 10 Prozent, besser noch 15 Prozent der Arbeitszeit damit zu verbringen, sich Inspiration für Neues zu holen. Woher sie kommt, sollte jede und jeder für sich selbst entscheiden, Manchen hilft das Lesen eines Buchs oder die Teilnahme an Konferenzen, der Besuch einer interessanten Ausstellung. Anderen helfen Gespräche mit Expertinnen oder Experten – oder ein Mix daraus. Dabei ist es hilfreich, auch über den Tellerrand der eigenen Branche zu schauen.
Und es kommt noch etwas anderes, sehr Entscheidendes hinzu: Führungskräfte müssen auch ihre eigene Rolle neu definieren. Chefinnen und Chefs überfordern sich, wenn sie glauben, sie müssten alle Antworten kennen, um gute Führungskräfte zu sein. Einem solchen Anspruch kann heute niemand mehr gerecht werden. Es zu versuchen bedeutet nur unnötigen Stress. Das Tempo der Veränderung nimmt immer weiter zu – und zwar nicht nur in der Technologie, sondern in allen Bereichen. Führungskräfte werden deshalb immer mehr von Antwortgebern zu Lernenden. Bislang konnten sich viele auf ihre jahrzehntelange Erfahrung zurückziehen. Das wird zunehmend schwieriger. Umso wichtiger ist, dass sie ihre neue Rolle akzeptieren und ausfüllen.
Das dürfte bei etlichen Führungskräften mächtig am Selbstverständnis kratzen.
Das tut es auch – und es löst Ängste aus. Vielen fällt es schwer zuzugeben, dass sie etwas nicht wissen. Manche sagen mir auch, dass sie gar keine Zeit haben, um zu lernen. Schließlich hätten sie ja noch ihren Job zu erledigen. Ich sage dann immer: "Ihr Job ist es zu lernen." Dabei geht es ja auch nicht darum, dass Chefs und Chefinnen bis ins letzte Detail verstehen, wie beispielsweise bestimmte Tools im Bereich künstliche Intelligenz funktionieren. Aber sie müssen abschätzen können, welche Auswirkungen deren Einsatz haben wird.
Demnach besteht ein wichtiger Teil des Führungsjobs darin, die richtigen Fragen zu stellen?
Absolut. Und dazu gehört auch, sich darauf einzustellen, dass sich die Antworten mit der Zeit durchaus verändern können – gerade wenn es um den Einsatz neuer digitaler Technologien geht. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Führungskräften zu antizipieren, wie sie sich auf die Unternehmenskultur auswirken, auf die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden, und welchen Einfluss sie auf Arbeitsergebnisse, Kreativität und Innovationen im Unternehmen haben. Vergleichsweise simple Dinge wie Instant-Messaging-Tools zeigen sehr eindrücklich, wie sehr sie das Geschehen beeinflussen. Und mein Eindruck ist: Viele Führungskräfte nehmen sich schlicht nicht die Zeit, diese Dinge zu Ende zu denken und die gegebenenfalls negativen Konsequenzen rechtzeitig einzudämmen.
„Es geht nicht darum, eine für immer gültige, einzig richtige Entscheidung zu treffen.“
Unternehmen und ihre Führungskräfte stehen unter enormem Druck. Schließlich will niemand den Anschluss an die Zukunft verpassen. Da muss eben manches sehr schnell entschieden werden.
Wenn ich in Unternehmen mit Führungskräften über digitale Technologien diskutiere, dann stelle ich immer wieder fest, dass viele Chefs und Chefinnen geradezu besessen davon sind, herausfinden zu wollen, wie die Zukunft aussehen wird. Die Frage, die mir wohl am häufigsten gestellt wird, lautet: "Wo werden wir in fünf Jahren stehen – wie sieht unsere Welt dann aus?" Das weiß ich nicht, sage ich dann. Schließlich ist Zukunft ein abstraktes Konzept. Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt: Es bringt uns nicht weiter, wenn wir immer nur darüber grübeln, was die Zukunft bringt. Genau genommen ist es schiere Zeitverschwendung. Denn die Zeit, die wir damit verbringen, fehlt uns, um die Entscheidungen zu treffen, mit denen wir unsere Zukunft letztlich heute schon in die Wege leiten und gestalten.
Mit anderen Worten: Chefs und Chefinnen sollten lieber darüber nachdenken, wie ihre Entscheidungen heute das Morgen in eine gute Richtung lenken?
Jede Entscheidung, die heute getroffen wird, fließt in die Zukunft mit ein. Umso wichtiger ist es, dass wir dafür sorgen, dass die Werte, die uns wichtig sind, dadurch unterstützt werden. Wenn ein Unternehmen Wert auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit legt, muss es das in seinen Entscheidungen heute schon für die Zukunft verankern. Wenn es die Privatsphäre seiner Kunden bewahren will, kann es dies schon jetzt sicherstellen. Wenn es sichere Technologie will, die die Interessen ihrer Anwender in den Vordergrund stellt, ebenfalls. Es kommt also auf das Szenario an, das Unternehmen für ihre Zukunft entwickeln. Und es ist Aufgabe der Führungskräfte, die Entscheidungen in der Gegenwart so zu treffen, dass sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie eintrifft.
Das scheint herausfordernd und komplex. Wie können Führungskräfte diese Aufgabe angehen und bewältigen?
Ja, das ist in der Tat eine Herausforderung. Aber es geht nicht darum, eine für immer gültige, einzig richtige Entscheidung zu treffen. Es geht vielmehr darum, Entscheidungen zu treffen, die durch sorgfältige Erwägungen abgesichert und nach heutigem Wissensstand sinnvoll sind. Deshalb ist es eine gute Idee, das Wissen im Unternehmen zu neuen Entwicklungen immer wieder aufzufrischen und fortlaufend dazuzulernen. Manche Unternehmen setzen dazu regelmäßig Termine an und laden Expertinnen und Experten aus den eigenen Reihen ein, die neue Entwicklungen auf ihrem Gebiet vorstellen. Andere setzen auf Workshops. Auch Gastvorträge können hilfreichen Input liefern.
Nach einer Verschnaufpause für die Beteiligten hört sich all das eher nicht an.
Wenn wir die Möglichkeit bekommen, konzentriert und ungestört unsere Arbeit zu erledigen, sparen wir dadurch nicht nur enorm viel Arbeitskraft. Es bleibt uns auch viel mehr Zeit für das wirklich Wichtige.
Profil
Rahaf Harfoush erforscht die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz und Big Data auf die Art und Weise, wie wir arbeiten. An der Sciences Po School of Management and Innovation in Paris unterrichtet sie "Innovation and Emerging Business Models". In ihrem Buch "Hustle and Float" beschreibt sie das Spannungsverhältnis von disruptiven Technologien und unseren jahrhundertealten Arbeitsvorstellungen – und wie Unternehmen es auflösen können.
Rahaf Harfoush ist Mitglied des Lenkungsausschusses des Peter Drucker Forums. Sie ist geschäftsführende Direktorin des Red Thread Institute of Digital Culture, eines Thinktanks und Beratungsunternehmens für Innovation.
Harfoush wurde in Syrien geboren und wuchs in Kanada auf. Heute lebt sie in der Nähe von Paris.
