Navigation überspringen
Influencer: Julia Engel (links oben) und Danielle Bernstein (rechts unten) verdienen ihr Geld mit Produktwerbung auf Instagram und anderen Plattformen. - instagram.com/juliahengel (5), instagram.com/weworewhat (4)

Kreatives Marketing im Netz

Von Holger Rust

Als wir 2015 mit jungen Europäern eine Reihe von Interviews über die noch recht neuen Bildplattformen im Internet führten, trafen wir auch auf die damals 21 Jahre alte Becky. Das sei eine "echt coole" Sache, sagte sie, "weil man relativ schnell an den Blogs sieht, ob man dem Lifestyle entspricht oder nicht, und dann sortiert man ganz schnell aus". Am Ende blieben nur noch Produkte von Leuten übrig, die man sympathisch finde – das vereinfache die Kaufentscheidung.

Es war die Zeit, als Onlineblogs, auf denen Nutzer Bilder einstellen können, Fahrt aufnahmen – Flickr, Tumblr, Pinterest, vor allem aber: Instagram. Im letzten Jahr gab es auf der Plattform 35 Milliarden Posts, das waren pro Tag fast zehn Millionen. Dass dieses WWW-Universum die Konsumgüterbranche aufrüttelte, verwundert nicht. Ebenso wenig, dass sie versuchte, diese im Grunde für einen freien Austausch der globalen Nachwuchskonsumenten über Geschmäcker und Vorlieben, Träume und Präferenzen vorgesehene Agora zur Beschleunigung des Warenumsatzes zu nutzen: als Werbeplattform.

Zunächst gemeindeten sich die Unternehmen einfach ein und posteten selbst schöne Bilder ihrer Produkte. Dann kamen die Marketingverantwortlichen auf eine andere Idee: attraktive Blogger für ihre Produkte zu verpflichten und so zu platzieren, als seien sie Mitglieder dieser globalen Kongregation munter und anarchisch kommunizierender Youngster. Aber schon die Bezeichnung, die man ihnen gab – Influencer –, dokumentierte, dass sie genau das nicht waren und sind, sondern bezahlte Avatare der Wirtschaft. Ihre Leistung bestand in der vertraglichen Verpflichtung, Produkte in ihren Foto- und Videobeiträgen anzupreisen. Das Honorar richtete sich nach der Anzahl ihrer Follower.

Berichte über die großen Verdienstmöglichkeiten von Influencern schufen Begehrlichkeiten. Die Mittzwanzigerin Danielle Bernstein zum Beispiel verlangt, so liest man, umgerechnet 4500 bis 13 500 Euro für ein Foto auf ihrem Instagram-Account "weworewhat". Julia Engel soll mit ihrem gleichnamigen Blog mehr als eine Million Euro im Jahr erwirtschaften. Das spricht sich herum. Ungezählte selbst ernannte Influencer drängen auf den Markt. Wenn es dann nicht so läuft, sind rasch Dienstleister mit dem Versprechen zur Stelle, den Nachwuchs zu Internet-Celebrities hochzustilisieren und Kontakte zu Unternehmen herzustellen.

Viel Werbegeld ist inzwischen geflossen, nicht immer mit dem erwarteten Erfolg. Das Influencer-Marketing hat bereits den einen oder anderen Kratzer abbekommen, zu unverfroren war hier und da die Werbebotschaft. Dazu kam im Juni nun folgendes Urteil: Das Berliner Landgericht verfügte, dass alle bezahlten Partnerschaften als "Werbung" gekennzeichnet werden müssen. Für die Glaubwürdigkeit der Influencer – die ohnehin nie besonders groß war – ist das ein herber Schlag. Zudem wird mehr und mehr süffisante Kritik laut, auf "Zeit Online" zum Beispiel, wo über Influencer geschrieben wurde, "deren Namen nur 14-Jährige kennen und die in ihren Video-Selfies in erster Linie ihre grundsätzliche Begeisterung äußern. Für was genau, ist nicht immer klar." Der Hype scheint an sein Ende zu gelangen. Sollten Unternehmen angesichts dieser Entwicklung weiter auf Influencer-Marketing setzen?

Ivy League Style: Die Marken entfalten ihre Wirkung im Zusammenspiel. Das Bild wurde oft geteilt – ein Hinweis für Marketingmanager, dass die Darstellung auf Interesse stößt. - flickr.com/photos/theginz
Ivy League Style: Die Marken entfalten ihre Wirkung im Zusammenspiel. Das Bild wurde oft geteilt – ein Hinweis für Marketingmanager, dass die Darstellung auf Interesse stößt. - flickr.com/photos/theginz

Es gibt eine Alternative, und die bietet weitaus mehr Potenzial. Die manipulierten Werbebotschaften der Onlinepromis verdecken den Blick auf die große Chance, die Unternehmen auf Bildplattformen wie Instagram vertun: die Gelegenheit zu wahrer Innovation. Denn: Wäre es nicht zielführender zu beobachten, wie sich aus dem globalen Diskurs der Milliarden Individuen etwas Neues entwickelt, das sich dann für die Vermarktung der eigenen Produkte verwerten lässt?

Ich antworte darauf unumwunden: ja. Ein Beispiel für eine Innovation, wie ich sie meine, sehen Sie auf dem Foto "Ivy League Style". Es wurde erstmalig im Oktober 2012 auf Flickr gepostet. Viele Nutzer haben es in ihren eigenen Blog übernommen, wo es wieder von anderen geteilt wurde. Im Prozess dieser Verbreitung kam es in unterschiedlichen Kontexten an: Es wurde auf Blogs über Autos gepostet, in Lifestyle-Dokumentationen oder auf Modewebsites. Bis heute sind es 4000 Reposts allein auf Tumblr; außerdem erscheint das Motiv auf Pinterest und in anderen Alben.

Dieses Bild ist interessant, weil es einige Prinzipien verdeutlicht: Erstens zeigt es keine einzelne Marke, und jeder Algorithmus hätte es schwer, eine eindeutige Zuordnung zu finden. Legt man es einer Reihe von modisch interessierten jungen Leuten vor, wird plötzlich deutlich: Dies ist ein Musterbeispiel für ein beziehungsvoll aus unterschiedlichen Marken arrangiertes Ensemble. Das Sakko ist von Boglioli, das Hemd von Sid Mashburn, die Hose von Epaulet, die Schuhe sind von Crockett & Jones. Die Sonnenbrille? Nicht klar zuzuordnen, vermutlich Wayfarer von Ray-Ban. Ob der Porsche eine Replika oder ein Original ist, bleibt offen. Zusammengefasst: Ivy League Style, zweifarbige Casual Fashion, illustriert mit einem klassischen Auto vor attraktiver Landschaft, zusammengesetzt aus Produkten, die sich im Netz durch vielfältige Reproduktion in den unterschiedlichsten Themenbereichen etablieren konnten – mathematisch ausgedrückt: als Attraktoren.

Die Grundlagenforschung für diese Art der Verbreitung fasste im Dezember 2007 ein Artikel im "Journal of Consumer Research" zusammen. In "Influentials, Networks, and Public Opinion Formation" beschreiben die Marketingforscher Duncan J. Watts and Peter Sheridan Dodds einen Prozess der sich selbst generierenden Geschmackskulturen im Internet. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Wirkung der Botschaften im Netz von ganz gewöhnlichen Individuen ausgeht, den "ordinary influencers". Sie sorgen für kulturelle Veränderungen, indem sie sich an dem von ihnen beobachteten mutmaßlichen Verhalten anderer Individuen orientieren. Die tun ihrerseits dasselbe. Somit einigt sich die Community im Laufe der Kommunikation auf immer enger gefasste Motive. Es entwickelt sich ein geradezu evolutionärer Prozess des kumulativen Vorteils: Je mehr Likes ein Auftritt erhält, desto mehr Likes zieht er in der Folge an. Kein Algorithmus kann dies vorherberechnen. Das Ergebnis ist ein einzigartiges, innovatives und erfolgreiches Ensemble von Produkten und Ideen wie das oben genannte. Marketingverantwortliche könnten daraus Erkenntnisse ziehen, wie sich ihre eigenen Angebote unverwechselbar im Netz präsentieren ließen. Dieser Prozess ist wie eine Wetterküche des Geschmacksklimas von morgen.

Statt dieses innovative Potenzial zu nutzen, setzen viele Unternehmen jedoch bisher darauf, dass ihnen ein Algorithmus auf der Basis vorhandener Daten berechnet, was im Internet funktioniert. Sie zielen also nicht auf Unverwechselbarkeit ab, sondern auf die Kopie.

Wie lange eine solche Strategie hält, ist fraglich. Denn es wird ein Problem auftauchen: die zunehmende Gleichartigkeit der Angebote, die Verlagerung der Innovation auf Plattformstrategien für Produktion, Marketing und Vertrieb, damit einhergehend die Vernachlässigung echter Innovationen und die Gefahr, die Konkurrenz der digitalen Megakonzerne durch die Übernahme ihrer strategischen Muster zu stärken.

Wir haben in unserem seit 2011 laufenden Forschungsprojekt eine bessere Strategie entwickelt. Studenten untersuchen darin Fotos von verschiedenen Plattformen und deren Verbreitungsmuster im Netz. Befragungen und Tiefeninterviews mit insgesamt fast 500 jungen Internetnutzern haben dies bisher begleitet. Aus dieser Forschung konnten wir einige Empfehlungen für Unternehmen ableiten, die ihre Produkte auf innovative Weise im Netz präsentieren wollen:

  • Neue Kontexte finden: Auf den Blogplattformen, die sich vorwiegend der Inszenierung von Konsumgütern widmen, insbesondere Tumblr und Pinterest, wird die Mehrheit der erfolgreichen Motive in Kontexte übertragen, die nicht produktaffin sind. Ein Auto ist im einen Fall ein Auto, im anderen eine nette Beigabe zur Verstärkung der Effekte einer Architektur, im dritten Fall die Fortsetzung eines farblichen Prinzips oder die Vermittlung eines mediterranen Lebensgefühls.

  • Neue Bedeutung verleihen: Die geteilten Produkte wie Kleidungsstücke, Möbel oder Fahrräder gewinnen neben ihrem Funktionswert durch die Kombination mit anderen Bildern eine neue Bedeutung. Die Leuchte "Loft", 1950 vom französischen Designer Jean-Louis Domecq entworfen, wurde immer wieder in Wohnungen fotografiert, die eine Absage an klassische Entwürfe darstellen: In Küchen steht Sperrmüll- statt Einbaumobiliar, in Schuhregalen stapeln sich Sneaker, daneben finden sich beschädigte ("rugged") Kleidungsstücke – und eben: die "Loft". Wir nennen solche konstruierten Bedeutungen "ironisierter Luxus", "Industrial Chic" (wie im Bildbeispiel oben), "gebrochene Klassik" oder "exotisierte Bürgerlichkeit".

  • Zielgruppen vermischen: Unterschiedliche Motive können in verschiedenen Milieus identische Funktionen haben. Klassische Filme stellen beispielsweise auch für eine junge Generation Quellen für ihre geposteten Fundstücke dar. Steve McQueen, Hauptdarsteller im legendären Motorsportfilm "Le Mans" von 1971, avancierte so zu einer Ikone im Netz des 21. Jahrhunderts, sowohl im Bereich der modernen Herrenmode als auch der Vintage-Produkte.

  • Produkte neu zusammenstellen: Konsummuster entstehen durch das gleichzeitige Präsentieren unterschiedlicher Elemente (und Marken). Genau in diesem Ensemble liegt hierbei die Botschaft: Jemand zeigt seine Kompetenz durch die Auswahl der unterschiedlichen Produkte.

Wie sollten Marketingverantwortliche vorgehen, wenn sie solche erfolgreichen Verbreitungsmuster erkennen wollen? Wir schlagen einen vierstufigen Prozess vor, der wie folgt aussieht:

Zunächst müssen sie, logischerweise, Postings ihres Produktgenres finden. Die erfolgreichsten darunter, die sich am weitesten verbreitet und die meisten Likes bekommen haben, gilt es dann im zweiten Schritt nach den oben beschriebenen Empfehlungen zu analysieren: In welchen Kontext stellen die Nutzer das Produkt? Welche Bedeutung messen sie ihm bei? Welche Verbrauchergruppen fühlen sich angesprochen? Welche weiteren Marken finden sich auf den Bildern? Drittens sollten Unternehmen daraus Muster ableiten, die als gewissermaßen "kulturelle Algorithmen" wirken und auf viele Produkte anwendbar sind – etwa der erwähnte "ironisierte Luxus" oder auch eine bestimmte wiederkehrende Kombination mit anderen Elementen oder Produkten. Und viertens können sie daraus Richtlinien für ihr zukünftiges Marketing ableiten: wie das Produkt in der Werbung, auf der Website oder auf anderen Kanälen dargestellt werden soll.

Industrial Chic: Das im Internet verbreitete Foto zeigt die Designerlampe "Loft" von Jean-Louis Domecq in einem Fabrikambiente. Ein Vorbild für die Werbung für andere Luxusmarken? - industrial-modern.tumblr.com
Industrial Chic: Das im Internet verbreitete Foto zeigt die Designerlampe "Loft" von Jean-Louis Domecq in einem Fabrikambiente. Ein Vorbild für die Werbung für andere Luxusmarken? - industrial-modern.tumblr.com

Fazit

Wer erfolgreiche Präsentationsmuster für seine Produkte identifizieren will, kann auf Bildplattformen wie Instagram reiche Beute machen. Algorithmen helfen allerdings nicht weiter, sondern künstlerische Intelligenz. Einzigartigkeit lässt sich eben nicht durch das Kopieren von Wettbewerbern erreichen. Wer seine Produkte über gekaufte Influencer vermarktet, kann sicher kurzfristig die Bekanntheit steigern. Langfristig und unter dem Gesichtspunkt exklusiver Innovationen ist allerdings das Erkennen der kulturellen Algorithmen von größerem Nutzen – jener Ideen, die sich im freien Spiel der kreativen Kräfte als erfolgreich erwiesen haben.

Von Holger Rust

Kompakt

Das Problem

Wer Produkte auf Bildplattformen wie Instagram und Co. vermarkten will, braucht gute Ideen. Bisher bezahlen Unternehmen vor allem Influencer dafür, ihre Angebote zu bewerben. Das ist keine Strategie für innovatives Marketing.

Die Lösung

Botschaften – und damit die Bilder von Produkten – verbreiten sich im Netz nach bestimmten Mustern. Unternehmen, die ihre Angebote auf innovative Weise im Netz präsentieren wollen, sollten neue Kontexte finden, ihren Angeboten eine andere Bedeutung verleihen, Zielgruppen vermischen und Produkte neu zusammenstellen.

Der Autor

Holger Rust ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Arbeit, Wirtschaft und Karriere an der Universität Hannover. Daneben arbeitet er als Publizist und Unternehmensberater.

© HBM 2018

Harvard Business manager schreibt über Das Wissen der Besten.

Der Harvard Business Manager ist die erweiterte deutsche Ausgabe der US-Zeitschrift "Harvard Business Review" (HBR), des renommiertesten Managementmagazins der Welt. Die Redaktion ergänzt die besten Artikel aus der HBR um wichtige Forschungsergebnisse von Professoren europäischer Universitäten und Business Schools sowie um Texte deutschsprachiger Experten aus Beratungen und dem Management von Unternehmen. Unsere Autoren zählen zu den besten und bekanntesten Fachleuten auf ihrem Gebiet und haben ihre Erkenntnisse durch langjährige Studien und Berufspraxis erworben.

Artikelsammlung ansehen