Lipstick-Effekt: Boom bei Lippenstift-Verkäufen ist ein Warnzeichen für die Konjunktur
Die Lippenstift-Verkäufe sind 2022 rasant angestiegen. Das freut die Kosmetikindustrie, für die wirtschaftliche Lage könnte das allerdings ein Warnzeichen sein.
Die Lage ist unsicher, das Geld ist knapp – und Konsumenten kaufen mehr Lippenstift. Was erst mal trivial klingt, ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer wieder zu beobachten.
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Das bemerkt auch Cosnova: Das hessische Familienunternehmen hat 2022 wieder so viele Lippenstifte verkauft wie kein anderes Unternehmen. Im Vergleich zu 2021 steigerte Cosnova den Umsatz mit Lippenstiften seiner meistverkauften Marke Essence um ein Drittel.
Eine Erklärung: Wer sich gerade keine großen Anschaffungen wie Autos oder Immobilien leisten kann oder will, gönnt sich im Alltag zumindest den kleinen Luxus: Männer kaufen mehr Parfüms, Frauen greifen häufiger zu Lippenstiften. Dieses Phänomen wird als Lipstick-Effekt bezeichnet.
Lipstick-Effekt: Kleiner Luxus in der Krise beim Lippenstift-Kauf
Davon profitiert die gesamte Branche: Der Industrieverband Körperpflege und Waschmittel rechnet bei dekorativer Kosmetik für 2022 mit einem Wachstum von 16 Prozent zum Vorjahr, während der Markt zuletzt im Schnitt um 1,5 Prozent im Jahr geschrumpft war. Zu dekorativer Kosmetik zählen auch Gesichtscreme, Lidschatten und Nagellack. Allein die Lippenstift-Umsätze in Deutschland sind 2022 im Vergleich zum Vorjahr um fünf Prozent gestiegen, berichtet der Marktforscher Euromonitor International.
Dass viele Frauen während der Krise zu einem vergleichsweise kleinen, aber sichtbaren Luxus greifen, hat sich schon mehrfach gezeigt: Während der Finanzkrise sank das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um über fünf Prozent, gleichzeitig gingen die Lippenstift-Verkäufe nach oben.
Auch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 beobachtete Leonard Lauder, der damalige Chef des Luxuskonzerns Estée Lauder, eine deutliche Zunahme der Lippenstift-Verkäufe. Das galt auch während der großen Depression in den 1930er-Jahren.
Und nun während der Energiepreiskrise: Acht Millionen Konsumenten haben 2022 laut Marktforscher GfK mindestens einen Lippenstift gekauft, 2021 waren es zwei Millionen Personen weniger.
Auch andere kleine Luxusprodukte haben in der Krise Konjunktur. So stellt die Wellnessmarke Rituals, die Badeschäume, Duftkerzen und Körpercremes im Angebot hat, derzeit eine verstärkte Nachfrage fest. „Die Menschen wollen sich auch in Zeiten der Ungewissheit verwöhnen“, sagte Rituals-Chef Raymond Cloosterman zuletzt im Handelsblatt-Interview.
Evolutionspsychologen erklären den Lipstick-Effekt damit, dass Menschen in Krisen mehr Aufwand betreiben, um attraktiver zu wirken. Die Kalkulation dahinter: So lässt sich besser ein Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin gewinnen, wodurch man in schwierigen Zeiten abgesicherter sei.
Cosnova sowie der Branchenriese L’Oréal erwarten, dass sich die positive Entwicklung fortsetzen wird. Isabel Neudeck, Geschäftsführerin für das Luxusgeschäft von L’Oréal in Deutschland und Österreich, sagt: „Der Markt für Lippenstifte wächst weiter. Es ist keine Konsumschwäche zu erkennen.“ Euromonitor International rechnet 2023 mit einem Umsatzplus bei Lippenstiften von fast 14 Prozent.
Kein Lipstick-Effekt während der Pandemie
In konjunktureller Hinsicht bestärkt der Lippenstift-Index die Befürchtungen von Ökonomen und Unternehmern vor einer drohenden Rezession. Allerdings sind die Verkaufszahlen von Lippenstiften kein harter Wirtschaftsindikator. So werden Kosmetika in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten ebenfalls stärker nachgefragt, wie etwa 2013 und 2014 zu beobachten war.
Während der Pandemie gab es den Lippenstift-Effekt nicht: Das BIP ist im ersten Coronajahr 2020 um 3,7 Prozent gesunken, die Umsätze mit Lippenstiften brachen um fast ein Fünftel ein. Auch die Nachfrage nach dekorativer Kosmetik insgesamt ging um knapp 13 Prozent zurück.
Konzerte und Theaterbesuche fielen aus, gearbeitet wurde im Homeoffice. Wer andere Menschen traf, bedeckte einen großen Teil des Gesichts mit einem Mund-Nasen-Schutz. Viele Konsumentinnen sahen deshalb keinen Bedarf, Lippenstift oder Schminke aufzutragen.
Das neuerliche Umsatzplus mag neben dem Lippenstift-Effekt auch auf Nachholeffekte zurückzuführen sein. „Kaum oder keine Maskenpflicht mehr, Partys und Veranstaltungen ohne Beschränkungen: Dass wir in 2022 Rekordumsätze verzeichnen können, führen wir auch auf das Ende der Pandemiebeschränkungen zurück“, sagt Yvonne Wutzler, Marketingchefin bei Cosnova.
Insgesamt sitzt das Geld bei den Käufern allerdings nicht so locker. Das Konsumklima erreichte im Herbst einen historischen Tiefpunkt, hat sich zuletzt aber auf einem niedrigen Niveau stabilisiert.
Beim Lippenstift greifen Käufer entgegen dem Trend weiter zur Marke
Vor allem Markenprodukte verlieren gerade: So haben günstigere No-Name-Produkte, sogenannte Handelsmarken, in 72 Prozent der 327 von der GfK untersuchten Produktkategorien Marktanteile gewinnen können.
Bei Lippenstiften fällt hingegen auf, dass Konsumentinnen verstärkt nach den oft teureren Marken greifen. In den vergangenen zwölf Monaten stieg der Umsatz mit Lippenstift-Markenprodukten laut GfK um über 48 Prozent, während das Plus mit Handelsmarken nur gut 32 Prozent betrug.
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