Mercedes krempelt Vertrieb in Deutschland radikal um
Der Autobauer degradiert seine Händler zu Agenten und vereinheitlicht die IT. Das bringt Daten, spart Geld und verhindert Rabattschlachten. Analysten sehen aber auch Nachteile.
München. Manchmal kommt sich Jörg Heinermann wie ein Höhlenforscher vor, dem sein Team lediglich eine kleine Stirnlampe als Ausrüstung mitgegeben hat. Der Vertriebschef von Mercedes-Benz in Deutschland weiß zwar ungefähr, was seine Kunden umtreibt; er kann also im übertragenen Sinn einige Ecken ausleuchten. Aber in den Tiefen herrscht überwiegend Dunkelheit.
Warum genau beispielsweise eine Probefahrt in einen Verkaufsabschluss mündet, die nächste hingegen ergebnislos endet, kann der Manager nicht mit absoluter Sicherheit beantworten. Ihm fehlen wichtige Daten, die bisher nur seinen Handelspartnern vorliegen.
„Das ändert sich jetzt mit dem Agentursystem deutlich“, erklärt Heinermann im Gespräch mit dem Handelsblatt. Wer hierzulande einen Neuwagen mit Sternenlogo kauft oder least, schließt schon bisher direkt einen Vertrag mit Mercedes ab. Seit Mittwoch wandert die Hoheit über die Kundendaten aber endgültig von den 94 Händlern der Marke zu dem Dax-Konzern.
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Vertragshändler von Mercedes verlieren Selbstständigkeit
Kannte Mercedes bisher nur Fragmente der Bedürfnisse seiner Nutzer, entstehe nun „ein komplettes Bild“, so Heinermann. Mithilfe selbstlernender Algorithmen kann Mercedes künftig zudem präzisere Prognosen zu erwartbaren Absatzvolumina treffen, was wiederum die Steuerung der Produktion erleichtert.
„Fertigung und Einkauf wissen um gut drei Monate früher Bescheid, was sie erwartet“, führt Heinermann aus. „Das ist ein enormer Wettbewerbsvorteil.“
Der offensichtlichste Nutzen des neuen Vertriebskonzepts ist aber ein anderer: Der Autobauer kann von nun an einheitliche Preise im Bundesgebiet festlegen und so Rabattwettbewerbe zwischen den einzelnen Autohäusern unterbinden.
Intern ist von einer „kleinen Revolution“ die Rede. Immerhin ist Deutschland mit 230.000 verkauften Fahrzeugen pro Jahr der drittgrößte Absatzmarkt von Mercedes weltweit hinter China und den USA. Gelingt hier die Umstellung des Vertriebs, soll das Konzept in den meisten Ländern Europas etabliert werden. In Österreich, Schweden und Großbritannien ist dies bereits geschehen.
Die Vertragshändler von Mercedes müssen allerdings einen Teil ihrer Selbstständigkeit aufgeben – sie treten im Direktvertrieb nicht mehr als Unternehmer, sondern lediglich als Agenten auf. Dadurch ändert sich ihre Arbeit grundlegend.
Händler werden immer stärker zu Dienstleistern, die bei erfolgreicher Beratung und Vermittlung pro verkauftem Pkw oder Van eine Provision in Höhe von 6,5 Prozent erhalten. Die Mercedes-Autohäuser hierzulande haben der neuen Struktur zugestimmt – nicht zuletzt, weil die Verträge unbefristet angelegt wurden.
Neuwagen von Mercedes werden teurer
Mercedes zählt damit unter den etablierten Fahrzeugherstellern zu den Vorreitern des Agentursystems. Der Volkswagen-Konzern hat bisher lediglich die Elektroautos einiger Marken auf Direktvertrieb umgestellt, nicht aber die Verbrenner. Und BMW startet erst 2026 mit einer Mischung aus Vertrags- und Agenturhandel.
Das Zögern dürfte auch daran liegen, dass der Direktvertrieb nachteilige Effekte für Hersteller, Händler und Kunden beinhalten kann. Ohne die Möglichkeit zu feilschen und einzelne Händler gegeneinander auszuspielen, wird der Autokauf für Endkunden tendenziell teurer.
Die Händler drohen wiederum den einen oder anderen Interessenten zu verlieren, da sie kein wirklich individuelles Angebot mehr schnüren können. Und die Autobauer halsen sich das Lagerwarenrisiko auf – die Fahrzeuge lasten auf ihrer Bilanz.
Die Eigenkapitalrendite von Konzernen wie Mercedes dürfte infolge des Agentursystems leicht sinken, prognostiziert Daniel Röska vom Vermögensverwalter Alliance Bernstein. Es werde zudem „heftigere Ausschläge beim Cashflow geben“ als früher. Und die Transparenz bei den Fahrzeugpreisen könnte im Falle einer sinkenden Nachfrage zum Bumerang werden. „Wenn ein Produkt nicht gut läuft, lässt sich das viel schwerer nach außen hin verbergen“, erklärt Röska.
Im schlimmsten Fall könnte es also perspektivisch öfter mal dazu kommen, dass Mercedes etwa bei seinen beiden Elektrolimousinen EQS und EQE den Listenpreis vor den Augen der Öffentlichkeit gehörig kürzen muss, um Käufer anzulocken – so geschehen im vergangenen Jahr in China. Für Mercedes-Manager Heinermann überwiegen dennoch die Vorteile des Agentursystems.
Das liegt auch daran, dass der Anbieter von Luxuskarossen parallel zum Aufbau des Direktvertriebs in einheitliche IT-Systeme in Europa investiert. „Wir eliminieren dadurch Doppelstrukturen“, sagt Heinermann. „Es würde keinen Sinn ergeben, wenn jeder Vertriebspartner versuchte, einen eigenen Webauftritt samt Buchungssystem hochzuziehen.“
Großes Händlersterben droht
Wer sich über Mercedes-Fahrzeuge informiert, soll möglichst mühelos zwischen digitaler und analoger Welt hin- und herwechseln können – ohne immer wieder eine Vielzahl unterschiedlicher Datenschutzerklärungen unterzeichnen zu müssen. Einen Mercedes online zu bestellen soll so einfach werden, wie ein Buch bei Amazon zu ordern.
Bis 2025 wollen die Schwaben bereits ein Viertel ihrer Neufahrzeuge digital verkaufen. Dutzende sogenannter „Online-Autohäuser“ hat Mercedes bereits ans Netz gebracht. Bei digitalen Abschlüssen erhalten die Händler im Übrigen auch eine Provision. Dafür soll deren Verkaufsfläche bis 2028 um 15 bis 20 Prozent schrumpfen.
Die Konzentration ist bereits im Gange. Immer mehr kleinere Händler verkaufen ihre Filialen an große Ketten – und zwar markenübergreifend. Die Anzahl der Autohändler in Deutschland dürfte sich folglich bis Ende des Jahrzehnts von zuletzt 6700 auf lediglich 3800 Unternehmen halbieren, prognostiziert Stefan Reindl, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft (IfA).
„Die Bestrebungen von Herstellern und Importeuren, Direkt- und Onlinevertriebsmodelle umzusetzen, werden zu einer weiteren Straffung der Händler- und Servicenetze führen – und damit die Konsolidierung weiter dynamisch vorantreiben“, sagte Reindl jüngst der „Automobilwoche“. Für Autofahrer hat die Ausdünnung der Vertriebsnetze dabei mitunter zur Folge, dass sie länger auf Reparaturen und Servicetermine warten müssen.
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