Berthold Beitz (Mitte) leitet eine Krupp-Vorstandssitzung im Jahr 1961 - Bild: Agentur Focus Magnum Photos
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„Nach wie vor werden viele Karrieren im Golfclub geschmiedet“

Die Historikerin Stina Barrenscheen-Loster hat die Führungsstile bei Volkswagen, BMW und Bayer erforscht. Ein Gespräch über Kaminkarrieren und Gruppenbewusstsein.

WirtschaftsWoche: Frau Barrenscheen-Loster, Sie sind in den 1990er-Jahren in Wolfsburg aufgewachsen, einige Ihrer Familienangehörigen arbeiteten bei Volkswagen. Wie hat Sie das geprägt?

Stina Barrenscheen-Loster: Mir ist erst im Studium bewusst geworden, in was für einer Blase ich aufgewachsen bin. Das große Mutterschiff Volkswagen trägt sehr essenziell dazu bei, dass es der Region gut geht. Die meisten meiner Mitschüler haben zum 18. Geburtstag einen VW bekommen. Das war eine Selbstverständlichkeit. Dabei ist es das ja ganz und gar nicht. Es gab in Wolfsburg ein sehr starkes Wir-Gefühl, vielleicht wie bei den Kruppianern früher bei Krupp.

Wie hat sich dieses Gefühl bemerkbar gemacht?

Als Dieselgate aufkam, der Skandal um die manipulierten Abschalteinrichtungen, verbreiteten sich in Wolfsburg Aufkleber: Wir stehen zu euch. Ich war zu der Zeit Promotionsstudentin in Göttingen und Marburg, aber wenn ich am Wochenende nach Hause kam, irritierte mich das: Ich sah vermehrt diese Sticker verschiedener Initiativen, die dieses Wir-Gefühl nun nach außen sichtbar geklebt hatten sozusagen. Ganz offensichtlich war damals etwas passiert, das nicht rechtens war ...

... Volkswagen und andere Hersteller haben Grenzwerte von Autoabgasen bewusst falsch getestet.

Ja, das waren illegale Abschalteinrichtungen, die Volkswagen eingebaut hat – ein Gesetzesverstoß. Aber wie auch die Vorstände niemals von einem Skandal sprachen, sondern etwa vom „Dieselvorfall“, so versuchten auch die Sticker den Skandal in der Wortwahl abzuschwächen.

Haben da alle mitgemacht, unabhängig von Rang und Hierarchie im Unternehmen?

Es gab sicher auch Leute, die sich gefragt haben: Will ich da noch arbeiten? Aber sichtbar waren die in Wolfsburg nicht. Und die Sticker wurden unabhängig von der Hierarchie benutzt. Dieses Wir-Gefühl dominierte auch in der Werksgemeinschaft, in der wohl im Zuge des Dieselskandals als Erstes Arbeitsplätze abgebaut worden wären. Die Folgen wären dort schmerzhaft spürbar gewesen. Aber der Satz „Die da oben haben Mist gebaut“ ist kaum gefallen. Viele haben gesagt: Wir stehen zu diesem Unternehmen.

Reichen diese Verbundenheit und Unternehmenskultur in der Region auch über die Belegschaft hinaus?

Es gibt viele Beispiele aus den 1950er- und 1960er-Jahren, dass das so ist, ja. Wolfsburg ist eine Retortenstadt, Volkswagen finanzierte alles. Man traf sich im VW-Bad. Das wird bis heute so genannt, obwohl es in kommunaler Hand ist. In der Volkswagen-Halle in Braunschweig finden Konzerte und Basketballspiele statt. Es prägt einen, diese Marke immer wieder vor Augen zu haben. Der frühere Generaldirektor Heinrich Nordhoff war großer Kunstliebhaber. Als es das Kunstmuseum noch nicht gab, hat Nordhoff kurzerhand Originale von Franz Marc und Caspar David Friedrich in den Räumen einer Schule ausgestellt. Er war König Nordhoff.

Nordhoff, von 1948 bis 1968 Unternehmenschef, hat die Volkswagen-Kultur also stark geprägt. Wie war das unter seinen Nachfolgern?

In dieser Form gab es das später nicht mehr. Auch andere Manager haben versucht, sich auf eine fast kumpelige Art den Mitarbeitern und der Gesellschaft zu nähern. Herbert Diess zum Beispiel: Der ist am Tor 17, wo die meisten Mitarbeiter aufs Werksgelände kommen, mal in die Tunnelschänke, in die früher viele Arbeiter mit ihren Lohntütchen gegangen sind, um ihr Feierabendbier zu trinken.

Und die anderen? Was ist mit dem aktuellen Vorstandschef Blume?

Alle Vorstände, die ich im Kopf habe, sind natürlich Kinder ihrer Zeit. Dennoch sind Winterkorn, Pischetsrieder, Piëch, Blume, aber auch Diess immer noch typische, eher unnahbare Manager des rheinischen Kapitalismus. Menschen mit viel Charisma. Dieser Typus hat durchaus die Bedeutung von Sozialpartnerschaft, also Tarifverträge und Mitbestimmung, verinnerlicht, aber er strahlt trotzdem etwas Patriarchalisches aus.

… und legt immer noch Wert auf klassische Hierarchien?

(zögert) Ja, das Top-down-Prinzip ist noch stark verankert. Aber die Strenge der Hierarchien hat sich seit den 1980er-Jahren deutlich gelockert. Die Unternehmen merkten: Wir brauchen kooperative Führungsstile und echte Mitsprache. Man begann, Manager am Gewinn zu beteiligen, um sie zu motivieren, stets im Sinne des Unternehmens zu arbeiten. Zusatzversicherungen und eine ordentliche Betriebsrente steigern den Wohlfühlfaktor der Beschäftigten. Wenn dann jemand an der Spitze steht, der unnahbar ist, aber klar und respektvoll mit ihnen spricht, können sie mit der Hierarchie leben.

Wie sehr ähnelt diese Kultur der in anderen deutschen Konzernen? Bei BMW und Bayer etwa?

Der große Unterschied: BMW und Bayer sind deutlich älter. Bayer war im Personal- und Sozialwesen viel weiter als BMW und Volkswagen. Das Unternehmen beschäftigte sich nicht nur mit Gehaltsfragen, sondern auch mit betrieblicher Sozialpolitik und Einstellungen, sowohl einfacher als auch leitender Angestellte. Bei Bayer haben sie das sehr früh ausdifferenziert.

Wie sah das aus?

Bayer hat sich 1971 divisionale Strukturen gegeben: Man orientierte sich an den Kernprodukten und schaffte neun Zentralbereiche, jeweils mit einer Art Vorstand. So entstanden kleinere Managementebenen, um schneller agieren zu können. Es gab immer zwei Spartenleiter, einen Chemiker und einen Kaufmann. Bayer erkannte also, dass man ausgebildete Fachleute im Management braucht, aber auch jemanden, der sich qua Ausbildung mit Zahlen und Organisationsstrukturen auskennt. Das war der Kaufmann.

Aber die einzelnen Sparten wurden weiterhin streng hierarchisch geführt?

Ja, das war kein Aufbrechen von hierarchischen Strukturen. Der kooperative Führungsstil, das Delegieren von Verantwortung wurde bereits in den 1930er-Jahren in den USA erfunden, in Deutschland brauchte es bis in die 1970er-Jahre, bis diese Kultur gelebt wurde.

Warum so lange?

Man konnte nach 1945 nicht an Dinge anknüpfen, die zwischen 1933 und 1945 passiert waren. Menschenführung aus den 1930er-Jahre? Das war einfach undenkbar. Und so gab es fast so etwas wie eine zwölfjährige Pause.

Aber hat das Naziregime nicht doch einen stärkeren Einfluss gehabt?

Die Frage lautet: Wie viel Führer steckt in der Führung nach 1945? Natürlich war das in den Köpfen drin. Nordhoff hatte im Nationalsozialismus eine steile Karriere in der Autoindustrie hingelegt. Ab Juli 1942 leitete er das Opel-Werk in Brandenburg. Damit einher ging der NS-Ehrentitel Wehrwirtschaftsführer. Das hat ihn gewiss geprägt. Verpönt war, dass man sich Bücher zur Menschenführung aus dieser Zeit nahm. Aber ja, es war noch sehr viel Führer in der Führung.

„Nach wie vor werden viele Karrieren im Golfclub geschmiedet“

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