Planen wie eine Zukunftsforscherin
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Wenn Risiken und Chancen schwer zu bewerten sind, greifen klassische Strategieansätze zu kurz. Zukunftsforscher denken in völlig anderen Zeiträumen als Führungskräfte. Eine neue Methode hilft, in vier Schritten neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Von Amy Webb
Vor Kurzem habe ich einem großen Industrieunternehmen bei seinem Strategieprozess geholfen. Bei vielen Themen herrschte Unsicherheit: Wie würden sich selbstfahrende Autos, der neue Mobilfunkstandard 5G, Roboter, Welthandel oder der Ölmarkt entwickeln? Das Topmanagement brauchte eine Reihe von Leitzielen und Strategien, um die Zukunft des Unternehmens mit der Gegenwart zu verbinden. Bevor wir mit der eigentlichen Arbeit anfingen, hatten die Manager der Initiative schon einen Namen gegeben: "Strategie 2030".
Ich war neugierig: Warum hatten sie dieses eine Jahr gewählt – 2030? Warum wollten sie sich gerade daran ausrichten? Schließlich war die Entwicklung sehr unterschiedlich in den Themengebieten, die für das Unternehmen relevant waren. Kurzfristig bereiteten die Veränderungen im Welthandel Sorgen, diese galt es nun anzugehen. Die Robotik hingegen war ein Zukunftsthema – die Entwicklung kaum vorherzusagen. Alles schien möglich: Es würde manchmal kleine Fortschritte geben, dann wieder große Enttäuschungen, vielleicht aber auch große Durchbrüche – manchmal im Abstand von Jahren. Ich fragte mich: Hatten sich die Manager für 2030 entschieden, weil ihrem Unternehmen in dem Jahr etwas Besonderes bevorstand?
Schnell wurde mir klar: Die Zahl war willkürlich gewählt. Weil sie rund war und gut klang, gab sie den Führungskräften ein Gefühl der Kontrolle über eine unsichere Zukunft. Sie machte sich auch gut in der Kommunikation. Strategie 2030 war leicht verständlich für Mitarbeiter, Kunden und Wettbewerber. Der Titel passte zu den Zielen, die das Unternehmen kommunizierte. Das ist nicht ungewöhnlich. In ihren langfristigen Planungen legen Firmen oft Zeitpläne fest, in denen die Jahre eine wichtige Rolle spielen, die auf 0 oder 5 enden. Unser Gehirn kann leicht in Fünferschritten rechnen. Bei Vierer- oder Sechserschritten muss es sich ein bisschen mehr anstrengen.
Einfache, lineare Zeitleisten geben einem das Gefühl, dass sich Ereignisse vorhersagen lassen, Chaos verhindert sowie Erfolg geplant werden kann. Natürlich ist die Welt, in der wir alle leben, viel verworrener. Als Manager haben Sie so gut wie keine Kontrolle über die Regulierung Ihrer Branche oder über Naturkatastrophen. Andere Faktoren – Mitarbeiterentwicklung, operativer Betrieb und Produktideen – hängen von Entscheidungsprozessen ab, an denen mehrere Ebenen Ihrer Organisation beteiligt sind. Aus dem Zusammenspiel dieser Variablen bestimmt sich die Zukunft.
Ein beliebtes Mittel von Strategieverantwortlichen sind Brainstormings. Diese Methode soll Teams helfen, eine Vision zu entwickeln. Sie ersetzt jedoch nicht das kritische Nachdenken über die Zukunft. Gleiches gilt für die strategischen Ein-, Drei- oder Fünfjahrespläne, die in vielen Unternehmen zu finden sind. Sie helfen, kurzfristige betriebliche Ziele zu erreichen. Doch wenn es um längere Zeiträume geht, sind tiefer gehende Fragen nötig.
Die Antworten auf diese Fragen lassen sich nicht unbedingt mit festen Terminen in der Zukunft verbinden. In welchen Bereichen wollen Sie etwas bewirken? Was braucht es für Ihren Erfolg? Wie wird die Organisation reagieren, wenn neue Herausforderungen auf sie zukommen? Diese grundsätzlichen Fragen lassen sich am besten mit langfristiger Planung angehen.
Als quantitative Futurologin ist es mein Job, die Zukunft mithilfe von datengetriebenen Modellen zu erforschen. Meiner Erfahrung nach geraten Führungsteams in eine Handlungsspirale: Sie versuchen langfristige Risiken immer wieder mit radikalen, kurzfristigen Maßnahmen zu reduzieren. Dabei erhöhen sie die Entropie (hier ist damit die Dynamik und Unberechenbarkeit der Ereignisse gemeint– Anm. d. Red.). Teams, die sich an traditionellen linearen Zeitplänen orientieren, kommen deshalb irgendwann aus einem Kreislauf taktischer Maßnahmen nicht mehr heraus: Es erscheint ihnen so, als würden ihnen externe Kräfte dauernd neue Veränderungen aufzwingen. Ihre taktischen Antworten bedeuten interne Anpassungen und großen Aufwand. Sie erschöpfen die Ressourcen des Unternehmens und machen es anfällig für Disruption.
Ein Beispiel: 2001 leitete ich ein Treffen mit Zeitungsmanagern aus den USA. Wir machten uns Gedanken über die Zukunft des Nachrichtengeschäfts. Auch diese Führungskräfte hatten sich schon auf ein Zieljahr geeinigt: 2005. Man muss sich vergegenwärtigen: Es war absehbar, dass der Branche eine Disruption im Technologiesektor drohte. Die Geschwindigkeit des Wandels war enorm. Die kognitive Verzerrung, der die Manager unterlagen, war nichts Neues für mich. Mich überraschte aber ihr Widerwille, über die nächsten vier Jahre hinaus zu planen. Dieser Zeitraum lag aus ihrer Sicht einfach viel zu weit in der Zukunft. Meine Sorge war: Jede Strategie, mit der wir Risiken begegnen und neue Chancen auftun wollten, würde nur taktischer Natur sein. Ohne eine langfristige Vision würde es schwierig werden, das Ökosystem der Medienbranche zu gestalten.
Ich verdeutlichte den Managern dies anhand meines neuen japanischen i-Mode-Telefons. Ich hatte es während meines Aufenthalts in Tokio genutzt. Das Gerät, ein Vorläufer heutiger Smartphones, war mit dem Internet verbunden. Ich konnte damit nicht nur einkaufen, wichtiger war: Es hatte eine Kamera. Ich fragte: Was würde passieren, wenn der Preis für die Komponenten von Mobilgeräten sinken würde? Würde dann nicht die Menge der angebotenen Inhalte, digitalen Anzeigen und Geschäftsmodelle, die auf einer Umsatzbeteiligung beruhten, rasant steigen? Bald würde jeder Fotos und Videos online stellen können, und es würde ein neues Ökosystem für Handyspiele entstehen.
Smartphones waren bis 2005 nicht in Reichweite. Innerhalb unserer Zeitplanung würden sie nicht zu einem existenzbedrohenden Risiko werden. Genau deshalb war jetzt noch Zeit, ein langfristiges Geschäftsmodell zu entwickeln und zu testen. Doch die Zeitungsmanager waren es gewohnt, bei ihren Strategien in Quartalen zu denken. Sie sahen keinen Mehrwert darin, für einen Smartphonemarkt zu planen, der viele Jahre in der Zukunft lag.
Seit diesem Meeting sind die Auflagen von Zeitungen kontinuierlich gesunken. Amerikanische Verleger haben es immer wieder versäumt, eine langfristige Planung aufzustellen, mit der sie im digitalen Zeitalter ganz neue Einkommensquellen hätten erschließen können. Die Werbeumsätze der Branche sind zwischen 2000 und 2016 von 65 Milliarden Dollar auf weniger als 19 Milliarden Dollar gefallen. Zwischen 2004 und 2018 sind 1800 Zeitungen in den USA eingestellt worden. Die Verlage haben mit einer Reihe taktischer Maßnahmen reagiert – etwa Websites neu gestaltet oder Apps für Mobiltelefone auf den Markt gebracht. Doch nie haben sie eine klare Vision für die Entwicklung der Branche entwickelt. Ähnliches hat sich in anderen Sektoren abgespielt, wie der Beratungsbranche, dem Mobilfunk, bei den Sparkassen und im produzierenden Gewerbe.
Futurologen denken in anderen Zeiträumen als Manager. Strategieverantwortliche sollten von ihnen lernen. Wenn die zukünftige Entwicklung unsicher ist – etwa was Risiken, Chancen oder Wachstum angeht –, behalten Futurologen die kurze und lange Frist gleichzeitig im Blick.
Ich nutze dafür eine Methode, bei der man den Grad der Sicherheit bewertet und Maßnahmen bestimmt. Das ist ein anderes Vorgehen, als einfach nur den Zeitverlauf in Quartalen oder Jahren darzustellen. Meine Zeitleisten sind deshalb auch überhaupt keine Leisten – es sind Kegel.
Für jedes Projekt erstelle ich einen Kegel mit vier unterschiedlichen Kategorien: 1. Taktiken, 2. Strategie, 3. Vision und 4. Entwicklung des Systems.
Ich beginne am linken Rand des Kegels mit Ereignissen, die sehr wahrscheinlich eintreten und für die bereits Daten oder Belege vorliegen. Der Zeitraum variiert und hängt vom Projekt, dem Unternehmen und der Branche ab. Aber normalerweise sind 12 bis 24 Monate ein guter Ausgangspunkt. Für diesen Zeitraum können wir mit ziemlicher Sicherheit sowohl Trends als auch wahrscheinliche Ereignisse korrekt identifizieren, innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Deshalb ist diese Art der Planung taktischer Natur. Zu den Maßnahmen, die wir dazu festlegen, könnten zum Beispiel ein neues Produktdesign oder die Ansprache eines anderen Kundensegments gehören.
Taktische Entscheidungen müssen zur Unternehmensstrategie passen, der zweiten Kategorie. In diesem Bereich des Kegels sind die Ergebnisse etwas schwieriger vorherzusehen, denn es handelt sich um die nächsten zwei bis fünf Jahre. Strategievorstände und ihre Mitarbeiter kennen sich mit diesem Bereich am besten aus: Er beschreibt die traditionelle Strategie und die Ausrichtung der Organisation. Zu den Maßnahmen gehören beispielsweise: Prioritäten setzen, Ressourcen zuteilen und personelle Änderungen vornehmen.
Viele Unternehmen springen zwischen Strategie und Taktiken hin und her. Dieser Prozess mag sich wie ernsthafte Zukunftsplanung anfühlen. Aber er führt dazu, dass Unternehmen nicht vorweggehen, sondern anderen hinterherlaufen – etablierten und neuen Wettbewerbern sowie Veränderungen, die ihren Ursprung außerhalb des Marktes haben.
Wenn Sie in der dritten Kategorie die Vision Ihres Unternehmens formulieren, müssen sie noch mehr Unsicherheit akzeptieren. Sie können nicht jedes Detail aufführen, weil es zu viele Unbekannte gibt. Deshalb müssen Sie die Vision auch immer wieder anpassen. Manager können eine starke Vision für die nächsten 10 bis 15 Jahre aufstellen, sich dabei aber offenhalten, an der Strategie und den Taktiken weiter zu feilen, wenn technologische Trends, globale Ereignisse oder sozialer und wirtschaftlicher Wandel das nötig machen. In der Kategorie "Vision" formuliert das Topmanagement, in welche Richtung die Forschung gehen soll, in welchen Bereichen investiert wird und wie das Unternehmen die Mitarbeiter weiterentwickeln will, damit sie über die Fähigkeiten verfügen, die in Zukunft benötigt werden.
Die Vision muss zur letzten Kategorie passen: der Entwicklung des Systems in ferner Zukunft. Die Führungskräfte eines Unternehmens sollten eine gute Vorstellung davon haben, wie sich ihre Branche verändern muss, um die Herausforderungen von neuen Technologien, Marktkräften und Regulierungen zu bewältigen. Ansonsten werden andere die Zukunft gestalten. Dieses Ende des Kegels ist weit geöffnet, da es so gut wie unmöglich ist, die Eintrittswahrscheinlichkeit derartiger Ereignisse zu berechnen. Die Maßnahmen sollten an dieser Stelle deshalb die Richtung beschreiben, in die sich das Unternehmen und seine Branche hoffentlich bewegen werden.
Anders als eine herkömmliche Zeitleiste mit festen Terminen und Überprüfungen bewegt sich der Kegel immer weiter nach vorn. Während Sie Daten und Belege sammeln und Maßnahmen umsetzen, verlagert sich auch der Anfang des Kegels. Die "Taktiken"-Kategorie beginnt also immer am aktuellen Tag. Daraus erwächst idealerweise eine flexible Organisation, die sich ständig weiterentwickelt und auf externe Veränderungen reagiert.
Lassen Sie uns diese Methode einmal bei einem Hersteller von Golfwagen anwenden. Nehmen wir an, das Unternehmen beschäftigt sich mit der Zukunft des Transportwesens und nutzt dafür den Kegel. Wir würden nun einige Kräfte untersuchen, die auf globaler Ebene wirken und den Golfwagenmarkt beeinflussen, etwa die alternde Bevölkerung und der Klimawandel. Wir würden uns mit neuen Technologien beschäftigen: autonome Letzte-Meile-Logistik (etwa Paketdrohnen, die Waren aus dem Lager zum Kunden bringen – Anm. d. Red.), maschinelles Sehen und künstliche Intelligenz in der Cloud. Und wir würden uns Lösungen anderer Unternehmen anschauen: Amazon, Google und Start-ups wie Nuro aus den USA (das autonome Lieferwagen entwickelt – Anm. d. Red.) arbeiten an Kleinfahrzeugen, die Pakete über kurze Entfernungen transportieren können. So kommen wir auf eine mögliche Zukunft, in der Golfwagen andere Zwecke erfüllen: Wir könnten sie als klimatisierte, fahrerlose Lieferwagen einsetzen, die Personen, Medizin, Lebensmittel, Bürobedarf und Haustiere befördern. Nennen wir sie Mini-Gs. Der Hersteller besitzt wahrscheinlich schon die Kernkompetenz, die Lieferkette und das Know-how, um ganze Fahrzeugflotten zu produzieren. Das verschafft ihm gegenüber Technologiekonzernen und Start-ups einen strategischen Vorteil und die Möglichkeit, seine Zukunft federführend mitzugestalten.
Wenn Führungskräfte sich vorstellen, wie die entfernte Zukunft aussehen könnte, sollten sie den Kegel als Ganzes in den Blick nehmen. Es wird neue Vorschriften für Geschwindigkeiten und Fahrwege geben. Stadtplaner und Architekten werden helfen, neue Zugangswege und Strecken für Mini-Gs zu entwerfen. Apotheken- und Drogerieketten könnten zu den ersten Käufern gehören. Mini-Gs könnten Haustürlieferungen von Medikamenten erledigen, die Ärzte ihren Patienten verschreiben. In einem zweiten Schritt könnte die technologische Entwicklung dazu führen, dass die klimatisierten Fahrzeuge auch Blutkonserven oder Laborproben transportieren. Das rechte, weite Ende des Kegels ist der Punkt, an dem die Manager des Golfwagenherstellers festlegen, wie sich das Ökosystem entwickeln wird. Das hat gleichzeitig großen Einfluss auf ihre Vision des zukünftiges Unternehmens.
Weiter links im Kegel werden die Führungskräfte Mini-Gs in ihre Strategie einarbeiten. Die Maßnahmen werden mehr Arbeit und Zeit erfordern: Budgets festlegen und anpassen, Geschäftseinheiten anders organisieren, Mitarbeiter einstellen, Partner suchen und so weiter. Dabei gilt es flexibel zu bleiben, um auf Entwicklungen der nächsten drei bis fünf Jahre reagieren zu können. Die Zukunft der Mini-Gs mag noch weit entfernt sein. Aber wenn das Unternehmen in diese Richtung gehen will, muss es heute – als taktische Maßnahme – Forschung betreiben. Es muss sich über die makroökonomischen Kräfte, die auf den Golfwagenmarkt wirken, technologische Trends und die Konzerne, Start-ups und Forschungseinrichtungen informieren, die an den verschiedenen Elementen des Ökosystems arbeiten – wie die Letzte-Meile-Logistik und maschinelles Sehen. Im Verlauf des nächsten Jahres wird der Golfwagenhersteller ein funktionsübergreifendes Team von Mitarbeitern und Experten zusammenstellen; seine Kompetenzen einer Prüfung unterziehen; Schulungen und Workshops organisieren; aktuelle und potenzielle Geschäftspartner bewerten; und sich über neue Entwicklungen in Bereichen informieren, die bisher nicht in seinem Fokus standen. Die taktischen Maßnahmen werden Mitarbeitern und Teams neue Erkenntnisse verschaffen und zu Anpassungen in der Strategie führen. Das wiederum hat Einfluss auf die Vision des Unternehmens und seine Fähigkeit, die Golfwagenbranche in die Zukunft zu führen.
Dutzende Unternehmen weltweit nutzen diese Methode bereits. Ihre Manager denken weit voraus und passen ihr Handeln immer wieder an. Es mag Ihnen im ersten Moment seltsam vorkommen, aber geben Sie sich und Ihrem Team die Möglichkeit, sich mit der kurz- und langfristigen Zukunft gleichzeitig zu beschäftigen. Widerstehen Sie dem Verlangen, ein Jahr zu wählen, das mit 0 oder 5 endet, wenn Sie mit Ihrer strategischen Planung beginnen. Sie werden feststellen, dass Ihr Unternehmen so einer branchenweiten Disruption besser widerstehen kann als andere. 
© HBP 2020
Dieser Artikel erschien in der Juni-Ausgabe 2020 des Harvard Business managers.
Autorin
Amy Webb ist quantitative Futurologin und Marketingprofessorin an der New York University, wo sie sich mit Zukunftsforschung beschäftigt. Sie hat unter anderem die Bücher "Die großen Neun: Wie wir die Tech-Titanen bändigen und eine Künstliche Intelligenz zum Wohle aller entwickeln können" (Plassen 2019) und "The Signals Are Talking: Why Today's Fringe Is Tomorrow's Mainstream" (PublicAffairs 2016) geschrieben.
