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"Purpose ist kein Gutmenschentum"

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Mitarbeiter wollen heute mehr denn je wissen, wofür ihr Arbeitgeber steht. Was müssen Unternehmen tun, um diese Erwartung zu erfüllen? Ein Gespräch mit dem Leipziger Managementprofessor Timo Meynhardt über die richtige Wortwahl, ein neues Führungsmodell und das beste Purpose-Statement Deutschlands.

Eine Umfrage der Beratung Strategy& hat ergeben, dass nur 28 Prozent der Mitarbeiter sich mit dem Purpose ihres Unternehmens verbunden fühlen. Erleben wir eine "Sinnkrise"?

Meynhardt: Eindeutig ja. Aber teilweise liegt das gar nicht an den Unternehmen selbst, sondern an unserer Gesellschaftsverfassung. Unsere säkulare Welt gibt dem Einzelnen die Möglichkeit, für sich selbst einen Lebenssinn zu definieren. Das ist aber auch eine Herausforderung, mit der man sich auseinandersetzen muss, und das ist nicht immer leicht. Das heißt: Wir haben es hier mit einer Sinnkrise der Gesellschaft insgesamt zu tun, die im Wirtschaftssystem Niederschlag findet.

Unternehmen sind verpflichtet, sich einen Sinn zu geben?

Meynhardt: In gewisser Weise schon. Es handelt sich hier auch um eine Sinnkrise des Kapitalismus. Das Motto "Schneller, höher, weiter" reicht als Motivation nicht mehr aus. Das hängt auch damit zusammen, dass wir einen Wohlstand erreicht haben, bei dem wir uns Sinnfragen leisten können. Zudem wird immer deutlicher, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem an seine Grenzen stößt: Ökologie und soziale Verwerfungen werden zunehmend Themen, mit denen Unternehmen zu kämpfen haben und auf die sie reagieren müssen.

Nicht jeder Mitarbeiter will gleich die Krise des Kapitalismus beenden.

Meynhardt: Nun, wir sehen in unseren Daten schon einen Zusammenhang. Die Menschen entscheiden sich viel eher für einen Arbeitgeber, wenn es dort einen Purpose gibt, der tatsächlich auch der Gesellschaft nutzt. Dafür sind sie zunehmend bereit, auf Gehalt zu verzichten. Auch bei Einkaufsentscheidungen spielen solche Fragen eine wichtigere Rolle. Unternehmen kommen heute nicht mehr umhin, die Gewinnorientierung an einen Purpose zu koppeln. Oder um es anders zu formulieren: mehr Purpose, mehr Profit. Oder etwas bescheidener: Wer sich nicht an einem gesellschaftlich wertvollen Purpose ausrichtet, riskiert seinen Profit. Spätestens jetzt muss jeder Manager genauer hinhören.

Netter Spruch – und ziemlich abstrakt.

Meynhardt: Alles andere als das. Wenn wir uns anschauen, warum Mitarbeiter kündigen, dann sind häufig zwei Themen ausschlaggebend: mangelnde Wertschätzung und die fehlende Möglichkeit, eigene Interessen zu verfolgen und die eigenen Fähigkeiten zu nutzen. Das ist auch der Grund, warum Unternehmen heute viel Geld ausgeben, um einen passenden Purpose zu erarbeiten.

Das kennt man aus der Kunstszene: Wenn der Job Spaß macht, geben sich Menschen mit weniger Geld zufrieden.

Meynhardt: Aber der Trend ist um-fassender. Er betrifft nicht nur die Generation Y, sondern alle Altersklassen – und auch die Manager selbst. Wenn CEOs wie Jamie Dimon von der Großbank J.P. Morgan Chase und Larry Fink von BlackRock, dem größten Investmentfonds der Welt, das Gewinnstreben von Unternehmen anprangern; wenn einflussreiche Wirtschaftsorganisationen wie der amerikanische Business Roundtable oder in Europa das Weltwirtschaftsforum mit dem Davos Manifesto 2020 den Shareholder-Value als dominantes Paradigma infrage stellen; wenn Konzerne wie BASF, Bosch und SAP eine Werteallianz gründen, um ihren Beitrag zur Gesellschaft zu ergründen, dann hat das einen Grund: Die Unternehmen haben erkannt, dass sie nicht mehr an dem Ast sägen dürfen, auf dem sie sitzen. Der Purpose ist das neue Narrativ: eine Motivationsquelle für Mitarbeiter, Investoren und letztlich auch die Führungskräfte selbst. Das ist die Gemengelage, in der der Purpose im Moment die Antwort der Zeit ist. Das ist vom Denken her noch einmal ein deutlicher Schritt weiter als damals, als es noch um Leitbilder sowie Mission und Vision ging.

Wie unterscheiden sich diese Begriffe?

Meynhardt: Eine Vision ist etwa die Aussage: In fünf Jahren wollen wir das erreicht haben. Die Mission ist der Grund, warum wir da sind. Ein Leitbild fasst das zusammen. Und der Purpose erklärt, wofür all das letztlich gut ist. Anders ausgedrückt: Der Purpose lädt die Mission, das Leitbild und die Vision mit einem Gemeinwohlbezug auf. Wir nennen das die Leipziger Formel: Eine Mission wird erst dann zum Purpose, wenn sie einen Gesellschaftsbezug aufweist.

Das erinnert an die Frage nach dem Warum, die der Berater Simon Sinek mit seinem millionenfach geklickten TED-Talk bekannt gemacht hat. Sehen Sie bei ihm Anknüpfungspunkte?

Meynhardt: Ja, unbedingt. Aber das Leipziger Führungsmodell geht darüber hinaus und verortet den Purpose in einer europäischen Denktradition. Bei uns ist Purpose die Antwort auf das Warum und Wozu unter den Bedingungen von Wettbewerb in einer sozialen Marktwirtschaft. Und unser Purpose muss sich mit dem gesellschaftlichen Umfeld verknüpfen, um etwas zu erreichen. Sonst bleiben wir in der alten Leitbilddiskussion. Im Gegensatz zu Simon Sinek geht es bei uns um die Potenziale und Spannungsfelder, die sich im Zusammenspiel des Purpose mit Unternehmergeist, Effektivität und Verantwortung ergeben.

Muss sich das Warum nicht viel eher am Kunden statt an der Gesellschaft ausrichten?

Meynhardt: Das ist falsch – beziehungsweise nur die halbe Wahrheit. Ein Purpose, der sich am Kunden orientiert, kann schädlich für die Gesellschaft sein. Bei der Finanzkrise haben wir die verheerende Wirkung von Finanzprodukten gesehen, die sich am unmittelbaren Kundennutzen ausrichten. Lassen Sie es mich anders sagen: Der Kundennutzen ist eine Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung für einen Purpose. Kundennutzen und Gemeinwohlnutzen gehen nicht immer Hand in Hand.

Dann könnten Waffenhersteller keinen Purpose haben.

Meynhardt: Doch! Ich wäre streng dagegen, die Rüstungsindustrie pauschal zu verurteilen, weil sie durchaus einen Gemeinwohlbeitrag leisten kann.

Wie das?

Meynhardt: Bei uns ist verfassungsrechtlich klar geregelt, wie die Bundeswehr unserem Land dient und sich im internationalen Umfeld einbringt. Zum Schutz, zur Verteidigung und zur Abschreckung gehören selbstverständlich Waffen und militärische Ausrüstung. Das darf man nicht verdammen. Purpose ist kein Gutmenschentum.

Wo ist der gesellschaftliche Nutzen?

Meynhardt: Ein Land in die Lage zu versetzen, sich zu verteidigen: Wer da den Gemeinwohlnutzen abstreitet, den möchte ich erst mal argumentieren sehen. Die Rüstungsindustrie schafft – bei aller notwendigen Kritik – Sicherheit. Sicherheit erhöht das Gemeinwohl. Es geht letztlich immer um die Auswirkungen auf das Gemeinwesen, unser gesellschaftliches Zusammenleben.

Okay, und Zigaretten? Die sind für den Tod vieler Menschen verantwortlich. Was ist mit Marlboro?

Meynhardt: Bei der Tabakindustrie ist das Bild differenzierter. In einer Umfrage, dem GemeinwohlAtlas, haben wir die Deutschen gefragt, welche Organisationen wie viel zum Gemeinwohl beitragen. Der Zigarettenhersteller Philip Morris, dem die Marke Marlboro gehört, landete auf dem letzten Platz. Aber auch hier müssen wir genauer hinsehen. Wenn Philip Morris keinen Gemeinwohlbeitrag leisten würde, gäbe es das Unternehmen nicht mehr.

Das müssen Sie erklären.

Meynhardt: Unsere Marktwirtschaft mit ihrem Wettbewerbsprinzip lässt zu, dass Zigaretten im gesetzlichen Rahmen produziert werden. Tabakprodukte aller Art waren seit jeher auch ein Kulturgut und konnten sich lange Zeit einer hohen sozialen Akzeptanz erfreuen. Das hat sich geändert. Und die Tabakunternehmen reagieren darauf und sind ja auch dabei, sich selbst zu hinterfragen – von der E-Zigarette bis hin zur Frage, was nach der Zigarette kommt. Marlboro fährt selbst eine Kampagne "Kill Marlboro". Insofern wäre es naiv, der Tabakbranche und auch der Rüstungsindustrie einen Purpose abzusprechen. Damit mache ich mir keine Freunde, ich weiß. Aber ich stehe zu jedem Satz.

Rauchen Sie?

Meynhardt: Nein.

Was ist das beste Purpose-Statement, das Sie je gesehen haben?

Meynhardt: Das der Bundeswehr: "Wir. Dienen. Deutschland." Subjekt, Prädikat, Objekt. Es gibt ein klares Referenzsystem, in dem Fall die Nation. Der Begriff "dienen" macht auch klar, dass es um einen Beitrag zum großen Ganzen geht. Gut war lange Zeit das Statement von Bayer: "Science for a Better Life". Stark ist auch Covestro: "Wir wollen die Welt lebenswerter machen." Was man daran sehr eindrucksvoll sehen kann, ist jeweils der Schritt von einem Produkt- zu einem Purpose-Fokus.

Müssen Purpose-Statements einzigartig sein? Oder kann man auch den Spruch des Wettbewerbers kopieren?

Meynhardt: Guter Punkt. Es ist okay, normal zu sein. Die Suche nach dem Einzigartigen ist eine Krankheit unserer Zeit. Sie ist nicht notwendig. Ein Purpose, der in der Region verankert ist und die Wertschöpfung trägt, muss nicht einzigartig sein. Wenn er zum Kontext passt, kann er der gleiche sein wie der eines Wettbewerbers. Das betriebswirtschaftliche Denken an einen Unique Selling Point ist an dieser Stelle eine Art schädliche Gefallsucht.

Dann könnte die Polizei ja auch sagen: "Wir dienen Deutschland."

Meynhardt: Das kann, muss aber nicht passen. Sie müssen unterscheiden zwischen dem intendierten und dem realisierten Purpose. Ein Purpose-Statement ist erst mal eine Absichtserklärung und definiert einen Anspruch. Die Frage ist: Bleibt es bei schönen Worten oder lässt sich die Absicht auch im täglichen Handeln umsetzen? Das hat eine Organisation nur bedingt in der Hand, weil es vom Umfeld abhängt – den Kunden, dem Markt, den Investoren. Das heißt: Wenn die Politik der Polizei diesen Purpose gibt, müsste sie überprüfen, ob die Bürger ihn auch annehmen. Wenn das so ist, spricht nichts dagegen. Ansonsten wird es auch in einer repräsentativen Demokratie schwierig. Gemeinwohl muss verdient werden, auch im öffentlichen Sektor.

Was wäre denn schlimm daran, wenn ein Unternehmen sich etwas Nettes auf die Fahnen schreibt, das es nicht wirklich umsetzen kann?

Meynhardt: Ganz einfach: Dann wirkt es nicht – oder schadet sogar. Manche Organisationen haben ein hervorragendes Außenbild und genießen eine hohe Wertschätzung für ihren Beitrag zum Gemeinwohl, etwa NGOs. Schaut man aber danach, ob sich die Wertschätzung auch innerhalb der Organisation widerspiegelt, dann ist das nicht unbedingt der Fall. Die Arbeitsbedingungen bei der Diakonie, der Caritas, den Hilfswerken oder den öffentlichen Krankenhäusern haben teilweise wenig mit dem Außenbild zu tun. Wenn Mitarbeiter lesen, was ihre Arbeitgeber nach außen hin versprechen, dann werden sie zynisch. Das ist alles andere als leistungsförderlich. Umgekehrt ist das, was von der Arbeit mancher Unternehmen in der Öffentlichkeit ankommt, schlecht, obwohl es durchaus mit guten Absichten und Taten verbunden ist.

Was sollten diese Organisationen tun?

Meynhardt: Beide Gruppen von Unternehmen haben ein Kommunikationsproblem. Die NGOs erzeugen ein blendendes Außenbild, während sich im Inneren heftige Konflikte abspielen. Die Unternehmen tun viel Gutes, aber kaum jemand nimmt es wahr. Schuld ist die Diskrepanz zwischen dem Gewollten, Gesagten und Getanen und dem, was außen ankommt. Ein Purpose-Statement muss also her, das in der Lage ist, beiden Welten zu verknüpfen. Es muss beschreiben, wofür ein Unternehmen tatsächlich auch Wertschätzung verdient.

Wie reagieren Manager, mit denen Sie über Purpose reden? Sind die alle sofort Feuer und Flamme? Oder halten die meisten das für Unsinn?

Meynhardt: Das ist recht differenziert. Es gibt die, die sagen: "Sprechen Sie mit der CSR-Abteilung." Aber es gibt auch vermehrt Führungskräfte, die sagen: "Das ist ein Thema. Helfen Sie uns, das in unsere Welt zu übersetzen." Wir versuchen an der HHL Leipzig, die amerikanische Purpose-Diskussion mit den Grundgedanken der sozialen Marktwirtschaft zu verbinden. Eigentlich ist es schade und ärgerlich, dass die Purpose-Diskussion von Amerika ausging. Wir hätten sie mit viel mehr Selbstbewusstsein selbst starten müssen. Wir haben die kulturellen Voraussetzungen, sie sind in den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft enthalten. Das ist unsere DNA. Es ist aus meiner Sicht einer der wenigen echten Wettbewerbsvorteile von Europa. Unser Unternehmertum, unsere Mittelständler und unsere vielen Fami–lienunternehmen haben seit jeher das Selbstverständnis, auch der Gesellschaft nützlich zu sein – statt nur den Aktionären. Leider lässt sich Purpose nicht übersetzen ...

Wie wäre es mit dem Wort "Unternehmenszweck"?

Meynhardt: Ein klares Jein. Es ist sowohl Sinn als auch Zweck, also eine Art Sinnzweck. "Zweck" ist auch ein juristischer Begriff. Sie finden ihn im Gesetz etwa beim Vereinszweck. Wichtiger ist der Sinn: Mit einem Purpose kann ich mich identifizieren. Ich setze mich für ihn ein, auch wenn ich weniger Geld verdiene. Unternehmenszweck trifft das nur zum Teil. Man kann auch sagen: Purpose hat mit Leidenschaft, mit einem Potenzial, mit einem Versprechen, mit einem größeren Gedanken zu tun.

Brauchen Manager auch einen persönlichen Purpose?

Meynhardt: Ja, denn Führungskräfte haben Macht. Purpose ist die Antwort auf die Frage: Wie kann ich meiner Macht einen Sinn geben? Sich damit zu beschäftigen kann anstrengend sein. Es ist aber notwendig, denn wer sich selbst nicht führen kann, kann auch andere nicht führen. Führungskräfte sind im Kern ja Sozialarbeiter.

Ich ahne, was dahintersteckt – aber erklären Sie bitte.

Meynhardt: Führungsarbeit bedeutet heute mehr denn je, auch emotionale und soziale Themen zu behandeln und nicht nur Fachthemen. Das sind soziale Aufgaben. Als Chef müssen Sie andere motivieren und voranbringen, manchmal beschützen und ihnen ganz oft einfach nur zuhören und die Potenziale erkennen. Das geht nur, wenn man selbst einen inneren Kompass hat. Wenn Sie diesen nicht haben, können Sie auch nicht führen.

Führungskräfte sollten also irgendetwas in der Richtung in ihr persönliches Purpose-Statement schreiben?

Meynhardt: Man kann einen Purpose nicht einfach wählen wie aus einem Menü. Man muss ihn entdecken und aktivieren. Friedrich Nietzsche schrieb in seinem Buch "Also sprach Zarathustra": "Werde, der du bist." Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch für Unternehmen. Die Deutsche Bank oder Bayer können nicht einfach den Purpose wechseln. Denn der ist historisch gewachsen. Es gibt keine Zukunft ohne Herkunft. Ein Berater oder eine Marketingagentur kann Ihnen deshalb auch keinen Purpose entwickeln. Wer seinen Purpose entdeckt, ihn managt und authentisch rüberbringt, kann andere damit anstecken. Wer selbst keinen Purpose hat, kann nicht erwarten, dass andere einen entwickeln.

Der Organisationssoziologe Stefan Kühl von der Universität Bielefeld schrieb in einem Kommentar im Harvard Business Manager: Unternehmen mit einem Purpose sind unflexibel, weil sie sich nicht verändern können.

Meynhardt: Das stimmt nicht! Ein Purpose macht eben nicht unflexibel, das Gegenteil ist der Fall. Ich bekomme auf einer höheren Ebene eine Ausrichtung, die es mir erlaubt, im Tagesgeschäft flexibel zu sein. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Wenn Komplexität die Herausforderung ist, dann ist der Purpose die Antwort. Purpose-Denken in Unternehmen entsteht nicht aus Kapitalismuskritik und Orientierungslosigkeit, sondern aus der Frage: Wie gehen wir mit der gewachsenen Komplexität um? Die Dinge ändern sich rasant: Geschäftsmodelle, der Wettbewerb, Regularien, neue Technologien. Da brauchen Sie etwas, das Ihnen einen Kompass gibt – eine Taschenlampe im Dunkeln sozusagen. Der Purpose ist eine abstrakte Aussage, an der man sich orientieren kann, wenn die Dinge unklar werden. Purpose macht die Welt einfacher.

Es ging Herrn Kühl in seinem Beitrag vor allem um Change-Management. Nehmen wir an, die Bundeswehr wird in eine europäische Armee integriert. Bei dem derzeitigen Purpose wäre das schwierig.

Meynhardt: "Deutschland dienen" kann Verschiedenes bedeuten – dienen im Katastrophenschutz, im Inneren oder im Außeneinsatz. Egal ob die Soldaten in Hamburg, Dresden oder in Freiburg sitzen, sie haben alle den gleichen Kompass.

Aber die Bundeswehr diente ja dann Europa. Da müsste der Purpose doch auch anders lauten.

Meynhardt: Natürlich. Auf so einer Ebene muss sie ihren Purpose immer anpassen. Der Satz könnte dann heißen: "Wir dienen Europa". Das Referenzsystem wäre ja ein anderes. Aber innerhalb dieses Systems wäre der Purpose ein Garant für flexibles Auftreten.

Weil er so abstrakt gehalten ist? Ist das der Trick?

Meynhardt: Das ist nicht der Trick, aber der Mechanismus, warum der Purpose wirkt. Wenn die Deutsche Bahn das Wort "Mobilität" in ihren Purpose schreibt, erlaubt ihr das Flexibilität. Ob sie ihn mit Zügen, Bussen oder Fahrrädern erreicht, kann sich jederzeit ändern. Sie könnte sogar Taxiunternehmen hinzukaufen. Um was es nicht geht: Pünktlichkeit auf der Schiene.

Obwohl die Bahn auch da ziemlich flexibel ist. Was wäre denn ein schlechter Purpose?

Meynhardt: Ganz interessant: Frank Lindenberg, der Finanzchef von Mercedes-Benz, sagte dem "Handelsblatt" vor einigen Monaten: "Gegen die Bedürfnisse der Allgemeinheit und das Allgemeinwohl kann man kein nachhaltig erfolgreiches Geschäft betreiben." Das geht genau in unsere Richtung. Gleichzeitig aber hat sich Mercedes einen Purpose gegeben, der nach der Leipziger Formel durchfällt, und zwar: "First Move The World".

Was ist daran schlecht?

Meynhardt: Da würde ich sofort fragen: Wozu denn, für wen denn, was ist da der Bezug zum Gemeinwohl?

Was müsste Mercedes in den Satz schreiben, damit es wieder passt?

Meynhardt: Ein "Damit" ans Ende. "Die Welt bewegen, um sozialen Zusammenhalt zu fördern"– etwas in der Art.

Haben Sie auch ein eigenes Purpose-Statement?

Meynhardt: Ehrlich gesagt habe ich das nicht ausformuliert, aber es könnte etwas sein wie: "Gemeinwohldenken fördern, um als Gesellschaft lebensfähig zu bleiben". Das ist mir wirklich ein Anliegen, in einer Mischung aus Sorge und Optimismus. Gemeinsam mit Doktoranden und Kollegen habe ich kürzlich einen gemeinnützigen Verein gegründet, er heißt "Forum Gemeinwohl". Wir möchten damit den Gemeinwohldiskurs in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fördern.

Warum ist Ihnen das Thema eigentlich so wichtig?

Meynhardt: Weil ich als DDR-Bürger erlebt habe, wie fragil jedes Gemeinwesen ist. Als die Wende kam, 1989, war ich 17 Jahre alt. Ich habe damals mitgenommen, dass man etwas dafür tun muss und tun kann, damit sich ein Gemeinwesen weiterentwickelt. Das geht aber nur, wenn der Einzelne als Subjekt, nicht als Objekt behandelt wird. Gemeinwohl ist für mich das Denken, das Menschen den Freiraum gibt, den sie brauchen, um sich zu entwickeln. Erst indem wir unsere gegenseitige Abhängigkeit verstehen und annehmen, können wir uns als Individuen entwickeln. Eigentlich ein einfacher Gedanke.

Warum war die Wende für Sie ein derart einschneidendes Erlebnis?

Meynhardt: Weil über Nacht alles anders war. Das Rechtssystem, das Bildungssystem, das Wirtschaftssystem – alles wurde umgewandelt. Für mich war das toll. Ich konnte richtig durchstarten. Das Studium in Oxford und in Peking, mein späterer Job bei McKinsey – das wäre alles vorher nicht gegangen. Ich musste auch nicht zum Militär. Dass das Gemeinwesen so brüchig ist, so veränderbar, hat mir bewusst gemacht, wie wichtig das ist, was wir haben. Deshalb sind mir das Grundgesetz und die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft so wichtig.

Glauben Sie, dass diese Prinzipien heute ernsthaft gefährdet sind?

Meynhardt: Ich fürchte, ja. Vor Kurzem hat das sogar unser Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble in einer Rede angesprochen, in der er den zunehmenden Egoismus in der Gesellschaft kritisiert hat. Er sagte: "Wir müssen aufpassen, sonst verliert unsere Gesellschaft die Gemeinwohlorientierung und zerfällt weiter." Das spüre ich auch. Die Menschen denken immer mehr an sich und weniger an die Gesellschaft. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch der Frage stellen: Was ist denn gut für das Gemeinwohl? Gemeinwohl ist etwa nicht nur grün, sondern bunt.

Was meinen Sie damit – zu viel Umweltpolitik?

Meynhardt: Unser Gemeinwohlmodell umfasst vier Dimensionen, in denen Organisationen einen Beitrag leisten können: Lebensqualität, Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt und Moral. Lebensqualität ist mehr als Ökologie. Moral ist mehr als Umweltbewusstsein. Es muss auch jemand den Wohlstand erarbeiten. Die grüne Seite des Gemeinwohls ist wichtiger geworden, aber es gibt auch gelbe, rote und blaue Schattenseiten. Das Gemeinwohl darf nie komplett einer Farbe ausgehändigt werden.

In den Medien kursiert das Schlagwort von einer drohenden "Ökodiktatur". Ist es das – dass der Staat nicht alle Bedürfnisse der Menschen dem Klimaschutz unterordnen darf?

Meynhardt: Ich denke, bei den Diskussionen um Elektroautos, Plastiktüten und Kaffeebecher verlieren wir viele Konflikte aus den Augen, die auch sozialer Natur sind. Das ist gefährlich, weil sich viele Menschen dann nicht wahrgenommen fühlen. So ist in Deutschland aktuell der Gini-Koeffizient als Maß für die Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen oder Einkommen besonders hoch, manche sagen sogar, so hoch wie nirgends sonst in der Euro-Zone.

Da Sie das Soziale erwähnen: Warum sprechen Sie statt von Verantwortung für das Gemeinwohl nicht einfach von CSR? Corporate Social Responsibility bezeichnet ja die soziale Verantwortung von Unternehmen – Verantwortung für das Gemeinwohl also.

Meynhardt: CSR ist nur ein Teil von Gemeinwohl. CSR thematisiert beispielsweise Verantwortung vor allem aus moralischer Sicht. Gemeinwohldenken nimmt auch die ökonomische, hedonistische oder politische Perspektive ein. Das haben CSR-Initiativen meistens nicht im Blick. Der größte Unterschied, wie auch Harvard-Business-School-Professor Michael Porter geschrieben hat, liegt in der Denkweise (siehe "Die Neuerfindung des Kapitalismus", Harvard Business Manager Februar 2011 – Anm. d. Red.). Gemeinwohldenken ist Wertschöpfungsdenken, CSR ist Verantwortungsdenken. Es geht darum, einen Beitrag zu verschiedenen Bereichen zu leisten. Langfristig wird CSR im Gemeinwohldenken aufgehen, weil dieses kulturell sehr viel tiefere und längere Wurzeln seit der Antike hat.

Ist das nicht Wortklauberei? Der Fließbandarbeiter bei Ford in Köln sollte nicht Aristoteles lesen müssen, um die Arbeit sinnvoll zu finden. Vielleicht reicht es, wenn der Vorstandschef sagt: Wir wollen gute Autos bauen.

Meynhardt: Der Ford-Arbeiter will sicher gute Autos bauen, aber auch zunehmend wissen, dass die Gesellschaft davon profitiert beziehungsweise keine unzumutbaren Schäden verursacht werden. Also sollten wir ihm sagen: Wir bauen gute Autos, um damit Geld zu verdienen, Steuern zu zahlen und Arbeitsplätze zu sichern. Wir machen das fair und anständig, und damit tragen wir zum Gemeinwohl bei. Zudem sollten wir die Bevölkerung generell nicht unterschätzen: In Befragungen sagen neun von zehn Bundesbürgern, sie hätten eine klare Vorstellung davon, was mit Gemeinwohl gemeint ist. Ich würde sogar behaupten: Wir unterschätzen als Akademiker komplett, dass die Menschen einen Sinn dafür haben, was ihnen guttut.

Und – was verstehen die Leute so unter Gemeinwohl?

Meynhardt: Das ganze Spektrum, durch alle Lebensbereiche: Es geht um Sicherheit am Abend, wenn sie in der Stadt ausgehen. Um die Möglichkeit, bei der Stadtverwaltung mit ihren Anliegen Gehör zu finden. Um die Führungskultur und Respekt am Arbeitsplatz. Um saubere Luft, aber auch um Zugang zu kulturellen Angeboten, faire Preise beim Discounter, soziale Sicherung, Bildungschancen für alle und jedermann und so weiter. Die Menschen haben ein gutes Gespür dafür, was der Gesellschaft nützt, und auch für das, was ihr schadet. Führungskräfte müssen das von Amts wegen haben. Auch der Mann am Fließband bei Ford fragt heute seinen Teamleiter: Warum machen wir das eigentlich? Manager müssen heute viel mehr erklären als früher.

Trotzdem gibt es viel Verwirrung rund um die Begriffe Vision, Mission, Leitbild, Zweck, Purpose und wie Unternehmen sonst noch ihre Ziele umschreiben. Ginge es nicht leichter?

Meynhardt: Die Verwirrung hat ja einen Grund. Purpose- und Gemeinwohldenken sind Ausdruck einer weltweiten Suchbewegung. Unsere normativen Maßstäbe sind ins Schleudern geraten. Die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft und des Grundgesetzes ist nicht mehr in der gleichen Weise abgesichert, wie das vielleicht noch vor dem Fall der Mauer der Fall war. Deshalb müssen Führungskräfte und Eliten sich damit auseinandersetzen, wenn sie wollen, dass die Demokratie und das freie Unternehmertum überleben. Dass nicht jede Diskussion auf jeder Ebene und jeden Tag geführt werden muss, ist richtig. Aber zumindest die Spitzenkräfte brauchen diesen weiten Horizont. Und dann müssen sie die Diskussion in ihrem Unternehmen so herunterbrechen, dass die Relevanz auch für die Mitarbeiter erkenntbar wird. Sprache macht einen Unterschied. Und: Gute Sprache ist eine Führungsleistung. Darum plädiere ich auch dafür, englische Begriffe auf Deutsch zu sagen.

"Sinn und Zweck" statt "Purpose"?

Meynhardt: Ja, oder: unser Beitrag für die Gesellschaft. Die Mitarbeiter wollen wissen, warum und wofür sie arbeiten. Im Management gibt es diese Diskussion mehr denn je, aber auch für junge Leute ist das heute enorm wichtig. Das sehe ich bei den Gesprächen mit unseren Studenten an der Hochschule.

Wir haben in der Redaktion lange diskutiert, ob wir als deutschsprachiges Magazin das Wort "Purpose" auf den Titel schreiben sollen. Was wäre Ihr Rat gewesen?

Meynhardt: Ihre Leserschaft besteht meiner Vermutung nach eher aus Leuten, die Denglisch gewöhnt sind. Mein Rat wäre eine Schlagwortwolke mit assoziierten Begriffen, um die Vielfalt des Phänomens zu illustrieren und auch um dem grassierenden Drang zur Vereinfachung Einhalt zu gebieten. Der Verlust an Mehrdeutigkeit ist heute zum Problem geworden. Die Welt lässt sich eben nicht auf den einen oder anderen Punkt bringen.

Der HBM hat sich folgendes Ziel gesetzt: die Praxis des Managements in einer sich verändernden Welt zu verbessern. Ist das eine gute Formulierung?

Meynhardt: Ja, das ist nicht schlecht.

Das freut mich. Warum?

Meynhardt: Weil es kein Selbstzweck ist, sondern erklärt, was Sie erreichen wollen: die Welt ein Stück zu verbessern.

Wir nennen es aber nicht Purpose-, sondern Mission-Statement.

Meynhardt: Ich würde es eher als Purpose sehen.

Fehlt da nicht das Warum?

Meynhardt: Das Warum ist: weil die Welt sich verändert. Sicher können Sie die Formulierung noch schärfen, aber sie ist für mich schon nahe an einem Purpose-Statement.

Wir könnten sagen: "Wir dienen Deutschland". Wie die Bundeswehr.

Meynhardt: Oder: "Wir dienen dem Management". Nein, ich glaube, was Sie haben, das passt schon. Am Ende entscheidet aber Ihr Umfeld, was ankommt. Vielleicht sollten Sie da auch nach-fragen. 

© HBM 2020

Mit Timo Meynhardt sprach HBM-Redakteur Ingmar Höhmann.

Timo Meynhardt ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management und Managing Director des Center for Leadership and Values in Society an der Universität St. Gallen. Zuvor war er Managementprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg und Berater bei McKinsey.

Meynhardt hat das Leipziger Führungsmodell mitentwickelt, das an der HHL gelehrt wird. Es sollManagern als Leitbild dienen und umfasst die vier Dimensionen Purpose, Unternehmergeist, Verantwortung und Effektivität. Meynhardt gibt zudem den GemeinwohlAtlas heraus – eine Studie über den Beitrag von Organisationen und Unternehmen zur Gesellschaft. Sie beruht auf einer Umfrage in Deutschland und der Schweiz, das Ergebnis ist eine Rangliste. 2019 erschien das von Meynhardt, Peter Gomez und Mark Lambertz verfasste Buch „Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt“ im Haupt Verlag.

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