Putin und die Atombombe – Wie weit geht der Kremlchef?
Nuklearer Angriff und dritter Weltkrieg: Russland baut eine immer brutalere Drohkulisse auf. Experten erklären, was Wladimir Putin damit bezweckt.
Der Einsatz von Atombomben: In Zeiten des Kalten Kriegs war das eine beklemmende, aber auch abstrakte Vorstellung. Dann geriet das Schreckgespenst einer nuklearen Apokalypse fast in Vergessenheit. Doch plötzlich ist die Bedrohung wieder allgegenwärtig.
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Wladimir Putin, seine Regierung und staatlich gelenkte russische Medien sprechen immer unverhohlener vom möglichen Einsatz von Atomwaffen: „Alle diesbezüglichen Entscheidungen sind getroffen worden“, behauptete Putin jetzt in Moskau. Und die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti zitierte ihn weiter mit den Worten: „Wir werden uns dessen nicht rühmen. Wir werden sie einsetzen, wenn es sein muss. Und ich möchte, dass jeder davon erfährt.“ Russland verfüge über alle notwendigen Instrumente, was kein anderes Land von sich behaupten könne, sagte der russische Machthaber.
Russland: Wie Experten Putins Drohung mit Atombomben sehen
Auch die Chefin des staatlichen Propagandasenders „Russia Today“ (RT), Margarita Simonjan, schockte kürzlich in einer Talkshow mit der Aussage: „Entweder wir gewinnen in der Ukraine, oder der Dritte Weltkrieg beginnt. Ich persönlich halte den Dritten Weltkrieg für das realistischste Szenario, denn wie ich uns kenne, wie ich unseren Führer Putin, Wladimir Wladimirowitsch Putin, kenne, ist ein Atomschlag die wahrscheinlichste Entwicklung.“ Der ebenfalls auf westlichen Sanktionslisten stehende Talkmaster Wladimir Solowjow fügte noch mit Blick auf den Westen hinzu: „Wir landen dann alle im Himmel, aber sie verrecken elendig.“
Expertinnen und Experten schätzen diese immer schrilleren Drohgebärden als den Versuch Moskaus ein, den Westen zu spalten. Liana Fix, Russland-Expertin der Körber-Stiftung, sagte dem Handelsblatt: „Russland nutzt nukleare Drohungen seit Beginn des Kriegs als ein politisches Instrument, um Angst zu schüren und den Westen von Sanktionen und militärischer Unterstützung für die Ukraine abzuhalten.“
Das sieht auch Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) so: Moskaus Drohungen mit Atomwaffen sollten „Ängste schüren und Zweifel an weiteren Waffenlieferungen säen“.
Meister, der seit mehr als einem Jahrzehnt zu Russlandthemen forscht, warnt davor, sich von der martialischen Propaganda beeindrucken zu lassen: „Durch Nichthandeln werden wir Russland nicht davon abhalten, das zu tun, was es tun will.“ Im Gegenteil: „Es würde eher noch dazu führen, dass Moskau weitergeht. Das Regime in Moskau hat praktisch keine roten Linien mehr.“
Der US-Botschafter in Russland, John Sullivan, konterte Äußerungen des russischen Außenministers Sergej Lawrow über die „reale Gefahr“ eines Atomkriegs mit klaren Worten. Die USA, so Sullivan, werden sich nicht „nuklear erpressen“ lassen. Die Rhetorik über den möglichen Einsatz von Atomwaffen durch Russland sei in letzter Zeit auf „höchst unverantwortliche Weise“ eskaliert. „Wir dulden nicht, dass mit Atomwaffen gerasselt wird und wir uns an den Rand eines Atomkriegs begeben“, unterstrich Sullivan.
Atomkrieg: USA beobachten Russlands Atomwaffen
Jedoch gehen die USA nach eigenen Angaben nicht davon aus, dass trotz der jüngsten verbalen Aufrüstung Moskaus eine Bedrohung durch russische Atomwaffen besteht. „Wir beobachten weiterhin jeden Tag ihre atomaren Kapazitäten, so gut wir können. Wir haben nicht den Eindruck, dass es eine Bedrohung durch einen russischen Einsatz von Atomwaffen gibt“, sagt ein Verteter des US-Verteidigungsministeriums. Auch könnten die USA keine Bedrohung für Nato-Gebiete erkennen.
Wir werden uns dessen nicht rühmen. Wir werden sie einsetzen, wenn es sein muss. Und ich möchte, dass jeder davon erfährt.Wladimir Putin
Die USA hatten einen geplanten Test der Interkontinentalrakete Minuteman III zunächst verschoben und dann ganz abgesagt, um die Spannungen zu verringern. Putin hatte indes vor gut einer Woche die russische Interkontinentalrakete „Sarmat“ getestet und geschwärmt, sie sei eine „wirklich einzigartige Waffe“. Diese habe eine Reichweite von 18.000 Kilometern und fliege damit so weit wie keine andere.
Das Geschoss werde „diejenigen, die in der Hitze einer aggressiven Rhetorik versuchen, unser Land zu bedrohen, zum Nachdenken bringen“. Dmitri Rogosin, Chef des russischen Raketenentwicklers Roskosmos, versuchte es unterdessen mit Zynismus. Die „Sarmat“ sei ein „Geschenk an die Nato“.
Die USA hatten bewusst deeskaliert und betont, dass Moskau den Test angekündigt habe. Er werde daher nicht als Bedrohung eingestuft. Während Putin die Alarmbereitschaft für seine Atomstreitkräfte vor den Augen der Weltöffentlichkeit erhöhte, verzichteten die USA auf diesen Schritt. Sullivan unterstrich aber, dass Washington darauf vorbereitet sei, „eine nukleare Aggression gegen die USA mit gleicher Härte zu vergelten“.
Verschiedene westliche Experten gehen davon aus, dass Putin eine rasche atomare Eskalation einkalkuliert, wenn die konventionellen Streitkräfte des Landes nicht mehr zum Ziel kommen. Schon jetzt steht Putin massiv unter Druck. Britische und US-Geheimdienste kommen aktuell zu der Einschätzung, dass Moskaus Militär auch im Donbass kaum vorankommt.
Zudem werden inzwischen immer wieder Ziele wie Benzinlager auf Russlands Staatsgebiet von der Ukraine angegriffen und zerstört. Zuvor schon hatte sich die russische Armee aus den Vororten Kiews und dem ganzen ukrainischen Norden zurückziehen müssen, da eine großangelegte Offensive ins Stocken kam und die russischen Kräfte dort aufgerieben wurden.
Putin könnte kleinere taktische Atomwaffen lokal einsetzen
Nun sehen Experten die Gefahr, dass Putin die Nerven verlieren könnte. Denn am 9. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg, der Jahrestag ist für Russland ein historisches Datum. Für den Kremlchef wäre dieser Tag ideal, um seinen Triumph über „die Nazis in der Ukraine“ zu verkünden. Traditionell wird in Moskau mit einer großen Militärparade des sowjetischen Siegs über Hitler-Deutschland gedacht.
Sollte er unter Zeitdruck geraten und sich in die Defensive gedrängt fühlen, könne ihn das möglicherweise dazu veranlassen, taktische Atomwaffen einzusetzen, also lokal begrenzte kleine nukleare Sprengsätze. „Ob es so weit kommt, hängt davon ab, wann Moskau entscheidet, dass es keine andere Wahl mehr hat“, sagt Meister.
Moskau werde „sich nicht in ein nukleares Abenteuer begeben, wenn man selbst darunter leiden wird“, meint der Russlandforscher. Tatsächlich wären die Folgen gravierend. Russland müsste auf radioaktiv verstrahltem Gelände agieren und würde darüber hinaus weltweit geächtet. Er halte Putins atomares Säbelrasseln deshalb „eher für Rhetorik als real“.
