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Rekonstruktion eines Staatsversagens: Wie Deutschland in Putins Energiefalle lief

Die deutsche Energiepolitik war eine Mischung aus Sorglosigkeit, Starrsinn und Selbstgerechtigkeit. Warnungen wurden als Panikmache abgetan. Jetzt droht ein Notstand.

Im Nachhinein ist man immer klüger, auch als Bundeskanzler. Der russische Eroberungsfeldzug gegen die Ukraine sei von langer Hand geplant gewesen, sagte Olaf Scholz dem US-Fernsehsender CBS beim jüngsten Nato-Gipfel, die sonnengefluteten Dächer von Madrid in seinem Rücken. Kremlherrscher Wladimir Putin habe sich vorbereitet: „Ich glaube, die Entscheidung für diesen Krieg wurde ein Jahr vorher getroffen, vielleicht noch früher“, so Scholz.

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Ein Teil von Putins Vorbereitungen war aus dem Weltall zu beobachten. Satellitenaufnahmen zeigten früh, dass das russische Militär Panzer, Hubschrauber und Raketenwerfer an der ukrainischen Grenze zusammenzog. Ein anderer Teil der Vorbereitungen blieb lange im Verborgenen, obwohl auch er erkennbar gewesen wäre. Die Waffe in dieser verdeckten Operation: Erdgas.

An diesem Montag beginnen Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1, die Gaszufuhr wird unterbrochen. Eigentlich ein Routinevorgang, der etwa zehn Tage dauert. Doch die Bundesregierung rechnet inzwischen damit, dass Russland die Pipeline nicht wieder aufdreht und die Gaslieferungen nach Deutschland dauerhaft einstellt. Es droht ein Wirtschaftsschock, wie ihn das Land in der Nachkriegszeit bisher nicht erlebt hat.

Energiekrise: Möglicher Stopp der Gaslieferungen aus Russland absehbar

Wenn das Gas im Winter knapp wird, werden Firmen pleitegehen, Zehntausende Menschen ohne Job dastehen und ihre Heizrechnung nicht bezahlen können - oder im schlimmsten Fall sogar im Kalten sitzen. Kanzler Scholz warnt vor „sozialem Sprengstoff“. Sein Vize Robert Habeck spricht von einem „ökonomischen Angriff“.

Dieser Angriff war absehbar, er war Teil von Putins Kriegsplanungen, die wirtschaftliche Flankierung des Überfalls auf die Ukraine. Das Handelsblatt hat mit Spitzenpolitikern, Beamten und Diplomaten gesprochen, um nachzuzeichnen, wie Deutschland in Putins Energiefalle lief. Man könnte dafür weit zurückgehen, bis in die frühen 1970er-Jahre, als die Bundesrepublik begann, Rohre für sowjetische Pipelines zu liefern.

Aber es reicht schon, wenn man die Ereignisse des vergangenen Jahres genauer betrachtet: Hinweise von Verbündeten wurden als Panikmache abgetan, Warnungen vor niedrigen Füllständen der deutschen Gasspeicher ignoriert. Es entsteht das Bild eines schlafwandelnden Regierungsapparats, der Deutschlands Energiesicherheit aufs Spiel setzte. Nicht vorsätzlich, aber fahrlässig.

US-Diplomat fielen niedrige Füllstände in deutschen Gas-Speichern auf

„Man fragt sich, warum niemand daraus einen Schluss gezogen hat, dass gerade die Speicher, die russischen Unternehmen gehören, so leer geworden sind - so auffällig leer“, sagte Scholz vor ein paar Tagen. Man fragt sich das tatsächlich. Aber man könnte diese Frage natürlich auch dem Mann stellen, der in den vergangenen Jahren als Finanzminister und Vizekanzler am Kabinettstisch saß.

Einer, der früh Alarm schlug, war Amos Hochstein, Sonderbeauftragter für Energiediplomatie im amerikanischen State Department. Im August 2021 wurde Hochstein vereidigt, im September reiste er für Gespräche mit der Bundesregierung nach Berlin. Seine Botschaft: Die schon damals stark gestiegenen Gaspreise zeigten, dass Europa dringend Energiequellen jenseits von Russland erschließen müsse. Hochstein, so berichten es Diplomaten, wies auch auf die niedrigen Füllstände der deutschen Gasspeicher hin. Die Amerikaner seien besorgt gewesen, dass „der Markt im Vergleich zu früheren Jahren unterversorgt“ war.

Gazprom füllte Gas-Speicher in Rheden nur langsam wieder

Normalerweise läuft es so: Im Winter werden die Reservoirs geleert, im Frühjahr, wenn die Temperaturen steigen und die Heizsaison endet, wieder gefüllt. Im November erreichen sie ihren Höchststand, der Zyklus beginnt von vorn.

2021 jedoch ereignete sich Merkwürdiges. Nach einem Kälteeinbruch im Februar waren die Speicher weitgehend leer, aber sie füllten sich daraufhin nur langsam. Besonders wenig Gas befand sich im Speicher im niedersächsischen Rehden, dem größten in Deutschland. Der Eigentümer: der russische Energiekonzern Gazprom.

Doch Hochsteins deutsche Gesprächspartner zeigten sich wenig beeindruckt. Über „US-Propaganda“ wurde im Regierungsviertel gelästert. Den Amerikanern gehe es nur darum, ihr „Fracking-Gas“ zu überhöhten Preisen auf den deutschen Markt zu drücken, so dachte man im Wirtschaftsministerium und in deutschen Konzernzentralen.

Auch die Diplomaten im Auswärtigen Amt hielten die Idee, Russland könne einen Angriffskrieg starten und so die lukrative Energiepartnerschaft mit Deutschland gefährden, für abwegig. Die Amerikaner hätten ja ständig vor irgendwas gewarnt, erinnert sich einer, da seien „viele Blindgänger“ dabei gewesen.

Unter deutschen Spitzenbeamten unvergessen: die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, welche die CIA fälschlicherweise im Irak vermutete. „Aber im Irak“ - diese Replik bekamen ranghohe US-Vertreter in Berlin immer wieder zu hören.

Heute wissen wir: Anders als im Irak hatten die Amerikaner diesmal recht, aber die deutschen Politiker hörten nicht zu, waren von ihren eigenen Vorurteilen geblendet. „Selten hat ein Land so rasant an Renommee verloren wie Deutschland“, sagt eine Brüsseler Diplomatin.

Peter Altmaier vertraut auf seine Experten – Die wiegeln ab

Der Mann, der die deutsche Energiepolitik lange verantwortet hat, braust über die Autobahn, als das Handelsblatt ihn am Telefon erreicht. Peter Altmaier war zehn Jahre lang Minister, ließ sich von Termin zu Termin chauffieren. Jetzt, als Politik-Pensionär, muss Altmaier wieder selbst ans Steuer, spricht per Freisprechanlage. Die Energiekrise beschäftigt ihn, das spürt man. Hätte er mehr tun können, ja müssen, um das Unheil abzuwenden?

Altmaier sagt, er habe sich keine Illusionen über das Regime im Kreml gemacht. Schon im Frühjahr 2021, als er sich über die stark gestiegenen Energiepreise informieren ließ, habe er „von vergleichsweise leeren Gasspeichern“ erfahren. Die Experten seines Ministeriums hätten aber darauf hingewiesen, dass die Füllstände 2017 ähnlich niedrig gewesen seien, ohne dass es zu Versorgungsproblemen gekommen sei.

Die Marktstörungen seien Folgen der Pandemie, war auch die Einschätzung im Auswärtigen Amt. Eine wieder anziehende Nachfrage treffe auf ein reduziertes Angebot. Das treibe den Preis. Den Russen sei kein Vorwurf zu machen: Sie hielten alle langfristigen Lieferverträge ein, es fehle aber an Nachfrage, weil sich die Gasimporteure aufgrund der hohen Preise mit neuen Bestellungen zurückhielten und auf niedrigere Preise im Sommer hofften.

Mehr als die Hälfte der Gasversorgung in Deutschland von Gazprom

Es war das seltsame Vertrauen in die ökonomische Rationalität eines vertrauensunwürdigen Regimes, das Deutschland in die Energiefalle führte. Am Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel deckten russische Lieferungen 55 Prozent des deutschen Gasbedarfs ab.

„Sich sehenden Auges in eine solche Abhängigkeit zu begeben - das war keine Nebenwirkung, das war das gewünschte Ziel“, erläutert Thomas Kleine-Brockhoff, Direktor des German Marshall Funds in Berlin. „Die Verflechtung war politisch gewollt: Mehr Gas aus Russland war besser als weniger Gas, russische Investitionen in unsere Speicher waren gut, nicht schlecht.“

Das Kalkül, das dahintersteckte, wird in der Politikwissenschaft mit dem Begriff der „Interdependenz“ beschrieben: Wechselseitige Abhängigkeiten verhindern Konflikte, zumindest in der Theorie.

Der deutschen Wirtschaft gab die gewünschte Verflechtung das Signal, die Gaspartnerschaft mit Russland immer stärker auszubauen, ohne Vorsorge für einen Lieferstopp zu treffen. Und der Politik bot die energiewirtschaftliche Verbindung mit Moskau die Chance, die historischen Schuldgefühle gegenüber Russland, das Trauma der Naziverbrechen, zu bewältigen.

Das erklärt auch, warum man in Berlin allen möglichen Akteuren auf dem Gasmarkt niedere Motive nachsagte, nur den Russen nicht. Die Amerikaner verdächtigte man, nur am Absatz ihres teuren Fracking-Gases interessiert zu sein. Den Ukrainern hielt man vor, vor allem Transitgebühren für die Weiterleitung russischen Gases nach Europa abgreifen zu wollen.

Über die Russen hingegen hieß es: auf die ist Verlass. „Selbst zu finstersten Breschnew-Zeiten“ seien alle Verträge erfüllt worden: So lautete der ressortübergreifende Konsens im Regierungsapparat.

Annexion der Krim, Einmarsch in den Donbass – Die Deutschen schauten weg

Aus der Überzeugung heraus, dass die Energiepartnerschaft mit Russland die europäische Friedensordnung stabilisiere, schauten die Deutschen über die Annexion der Krim, den Einmarsch in den Donbass, den Tiergartenmord des russischen Geheimdienstes und den Giftanschlag auf Alexei Nawalny hinweg.

Niemand konnte ahnen, so formuliert es ein Beamter heute, dass Putin mit seiner „irrwitzigen Aggression“ alles einreißen würde. Wirklich nicht? Um zu erkennen, dass etwas faul war, hätte es gereicht, dem polnischen EU-Botschafter zuzuhören, der seine Brüsseler Kollegen nach Angaben eines Teilnehmers immer wieder warnte: „Die Russen hecken etwas aus.“

Oder man hätte die Artikel von Alan Riley lesen können. Der Energie-Experte des Atlantic Council schrieb im Juli 2021: „In den letzten Monaten ist zunehmend deutlich geworden, dass Gazprom das traditionelle Muster des Gasverkaufs auf dem europäischen Markt aufgegeben hat.“

Tatsächlich: Die Russen verzichteten darauf, Pipelinekapazitäten für den Gastransport durch die Ukraine zu buchen, obwohl aufgrund der gestiegenen Gaspreise hohe Gewinne lockten. Ein Verhalten, das wirtschaftlich keinen Sinn ergibt und auf politische Motive hindeutet.

Im vergangenen Jahr glaubten Riley und andere Experten noch, dass die Russen mit der Marktmanipulation Druck aufbauen wollten, um die Inbetriebnahme von Nord-Stream-2-Pipeline zu beschleunigen.

Diesen Verdacht hegten zunächst auch die Amerikaner, wie Diplomaten bestätigen. Sie hätten gewarnt, dass Russland der „europäischen Energiesicherheit“ schade, indem es Lieferungen über das ukrainische Pipelinenetz zurückhielt, um eine „schnelle Zertifizierung von Nord Stream 2“ zu erreichen.

Die Schwesterpipeline von Nord Stream 1 wurde nach langer Verzögerung und heftigem Streit im vergangenen Jahr fertiggestellt. Für Russland ist das Projekt von enormem strategischem Wert, da es Europas Abhängigkeit verstärkt. Gerade in Osteuropa stieß Nord Stream 2 daher auf scharfe Kritik. Die Amerikaner versuchten unter Ex-Präsident Trump sogar, das Vorhaben mit Sanktionsdrohungen zu stoppen.

Drosselung der Gaslieferungen war ein ökonomischer Präventivschlag

Inzwischen ist klar, dass es den Russen nicht primär um Nord Stream 2 ging, sagt Riley heute. „Es ging ihnen darum, die Gaspreise hoch und die Gasvorräte niedrig zu halten, um den Europäern ihre Verletzlichkeit zu demonstrieren.“

Die Drosselung der Gaslieferungen nach Europa war demnach ein ökonomischer Präventivschlag. Er sollte verhindern, dass die Europäer auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit voller wirtschaftlicher Härte reagieren. „Die Russen verschärften eine ohnehin bestehende Angebotsknappheit, um eine Versorgungskrise heraufzubeschwören“, betont Riley. In Berlin erkannte man das erst, als es zu spät war.

Altmaier schildert es so: Er habe mehrfach bei seinen Mitarbeitern nachgefragt, aber schließlich keinen Grund gehabt, an den Erklärungen zu zweifeln. „Tatsächlich hat es in der gesamten Heizperiode 2021/22 keinerlei Versorgungsprobleme gegeben, es war zu jedem Zeitpunkt genug Gas verfügbar, auch als Russland im Februar den Krieg begann“, sagt er.

Kurz nach der Sommerpause 2021 unterrichtete Altmaier das Kabinett über die Lage am Gasmarkt. Die Versorgungssicherheit sei trotz der niedrigen Speicherstände nicht gefährdet, lautete seine Botschaft. Es habe danach keine Einwände gegeben, erinnert sich Altmaier.

Es gäbe viel aufzuarbeiten – auch die Rolle von Ex-Kanzlerin Merkel

Es gäbe viel aufzuarbeiten in der deutschen Energiepolitik. Auch die Rolle von Ex-Kanzlerin Angela Merkel. Noch im vergangenen Herbst, als längst klar war, dass der Kreml Gaslieferungen nach Europa verknappt, hielt Merkel an der Darstellung fest, dass Russland alle Verträge einhalte. Die Russen könnten Gas nur auf der Grundlage vertraglicher Bindungen liefern, sagte sie, „nicht einfach so“.

Was Merkel unterschlug: Der Gasmarkt beruht auf zwei Säulen. Die langfristigen Verträge sind die eine, die andere ist der Spotmarkt, auf dem Gas zu tagesaktuellen Preisen gehandelt wird. „Und auf dem Spotmarkt reduzierte Gasprom seine Lieferungen“, erklärt Simone Tagliapietra vom Brüsseler Bruegel-Institut.

Als die Gasspeicher im Spätherbst noch immer verdächtig leer waren und Gazprom sogar Gas aus Rehden abpumpen ließ, wurde Altmaier unruhig. Er habe veranlasst, sagt er, dass sein Nachfolger im Wirtschaftsministerium, Robert Habeck, gleich nach Übernahme der Amtsgeschäfte informiert wurde.

Die Ampelkoalition muss nun in wenigen Monaten korrigieren, was Merkels Regierungen in 16 Jahren nicht für nötig hielten: eine Alternative für russisches Gas aufzutreiben. Kanzler Scholz kann sich zugutehalten, dass er schon als Hamburger Bürgermeister für den Bau von Flüssiggas-Terminals an der norddeutschen Küste eingetreten war, um die Abhängigkeit von russischen Energie-Importen zu verringern. Auch Altmaier setzte sich in seiner Zeit als Wirtschaftsminister dafür ein. Besonders hartnäckig zeigten sich beide allerdings nicht.

Hartnäckig waren nur die Amerikaner. Hochstein reiste in diesem Februar noch einmal nach Berlin, kurz bevor Putin den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab. Erneut warnte Hochstein die Deutschen vor ihrer Energieabhängigkeit von Russland, legte frische Erkenntnisse der US-Regierung vor. Auch mit dem neuen Wirtschaftsminister Habeck traf er sich, der aufmerksam zuhörte.

Der Grünen-Politiker griff durch, stoppte die Zertifizierung von Nord Stream 2. Auch personell räumte er auf. Zwei Abteilungsleiter unter Altmaier, die wortreich zu erklären wussten, warum Russland für die Preissprünge am Gasmarkt nicht verantwortlich sei, wurden von ihren Aufgaben entbunden.

Doch es wäre zu leicht, die Schuld an dem Debakel an einzelnen Personen festzumachen. Die Sorglosigkeit hatte System. Deutschland sah keinen Grund, die Besitzer von Gasspeichern zum Auffüllen ihrer Reservoirs zu verpflichten. Erst jetzt wird das geändert. Deutschland sah auch keinen Grund, Investoren in die Gasinfrastruktur sonderlich kritisch zu überprüfen.

Das Ergebnis war eine bizarre Kombination aus Laissez-faire und Dirigismus. Deutschland meinte, den Gasmarkt privatisiert zu haben - hatte ihn tatsächlich aber in Teilen an Russland übertragen. Die deutsche Regierung hielt sich raus, die russische nicht. Das reicht, um zu verstehen, warum der Bundesrepublik nun ein Katastrophenwinter droht.

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