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Russland muss sein Öl verramschen – Moskaus Zentralbank nennt es „neuen ökonomischen Schock“

Die Sanktionen zwingen Moskau, Öl zu Billigpreisen auf den Markt zu drücken. Die Staatseinnahmen schwinden – doch von den Kriegszielen in der Ukraine rückt der Kreml nicht ab.

Europa friert, verarmt und hungert – zumindest in der Parallelwelt der russischen Propaganda. Ein Internet-Filmchen des Staatssenders RT zeigt eine Familie, die in Wintermontur in einer dunklen Wohnung hockt und zu Weihnachten den Hamster der Tochter verspeisen muss. Selbst schuld, lautet die Botschaft an die Europäer, wer seinen wichtigsten Energielieferanten sanktioniert, stürzt sich ins Elend.

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Das Problem für die Russen ist allerdings, dass sich die Realität mit ihren Wunschvorstellungen kaum in Einklang bringen lässt. Ökonomen erwarten allenfalls einen milden Abschwung in der EU, die Investmentbank Goldman Sachs rechnet inzwischen sogar damit, dass die Rezession ganz ausfällt. Und in Deutschland gab zuletzt die Bundesnetzagentur Entwarnung: Die Versorgung sei für diesen Winter praktisch gesichert.

Ganz anders die Lage in Russland. Die westlichen Sanktionen, Strafen für die russische Aggression gegen die Ukraine, schlagen immer stärker auf die Wirtschaft durch. Besonders wirksam ist ein Instrument, über das in Brüssel und Washington lange gestritten wurde: der Ölpreisdeckel. Die russische Zentralbank spricht von einem „neuen ökonomischen Schock“, der die wirtschaftliche Dynamik „erheblich reduzieren“ werde.

Die G7-Staaten hatten sich im Dezember darauf verständigt, russische Ölimporte nur noch dann auf den Weltmarkt gelangen zu lassen, wenn sie zu einem Preis von maximal 60 Dollar pro Barrel (etwa 159 Liter) gehandelt werden. Länder wie Südkorea schlossen sich der Strafmaßnahme an. Die EU boykottiert darüber hinaus den Import von russischem Rohöl, ausgenommen ist nur jenes Öl, das über die Druschba-Pipeline nach Mitteleuropa strömt.

Zwei Ziele wollen die G7 erreichen: die russischen Staatseinnahmen verringern und den globalen Ölpreis stabilisieren. Bisher sieht es so aus, als würden beide Ziele erreicht. „Einige Experten hatten prognostiziert, dass der Ölpreis auf 150 Dollar pro Barrel steigen würde“, sagte eine Spitzenbeamtin eines G7-Staats nach Gesprächen in Brüssel. „Das ist nicht geschehen.“

Im Gegenteil: Seit Einführung des Preisdeckels ist der Ölpreis weiter gefallen – und russisches Öl wird mit besonders starken Abschlägen gehandelt.

Vor allem Indien und China machen sich die Situation zunutze: Obwohl sie sich dem Preisdeckel nicht angeschlossen haben, ergreifen sie die Gelegenheit, sich günstig mit Energie einzudecken. „Beide Länder sind von Importen abhängig“, erläuterte die G7-Beamtin. Jetzt könnten sie „erschwingliche“ Preise durchsetzen. Simone Tagliapietra von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel bestätigt: „Indien und China sind die Nutznießer des Energiekriegs.“

Der russischen Regierung dagegen drohten nach Einschätzung der G7-Vertreterin wachsende „finanzielle Schwierigkeiten“. Präsident Wladimir Putin, der die Energieexporte seines Landes als Druckmittel gegenüber dem Westen einsetzen wollte, steht damit vor schmerzhaften ökonomischen Entscheidungen.

„2023 wird ein deutlich schlechteres Jahr werden für russischen Rohstoffexporte als 2022“, sagt auch Janis Kluge von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Die neuen Sanktionen stellten „große Hindernisse“ für den russischen Export dar. „Russland muss sein Öl zu hohen Rabatten in den Markt drücken“, argumentiert Kluge.

Rapider Preisanstieg am Ölmarkt blieb aus

Zwei Häfen sind für die Ausfuhr des russischen Öls besonders bedeutend: Primorsk nördlich von Sankt Petersburg und Kozmino am Japanischen Meer, südlich von Wladiwostok. Seit Europa kein russisches Tanker-Öl mehr importiert, ist besonders der Preis für das ursprünglich für Europa bestimmte Ural-Öl in Primorsk eingebrochen. Dem Informationsdienst Argus Media zufolge verkauft Russland den Rohstoff aktuell für etwa 38 Dollar pro Barrel. Das entspricht einem Abschlag von fast 50 Prozent auf die Nordsee-Sorte Brent.

Gleichzeitig ist russisches Rohöl dem Weltmarkt nicht entzogen – europäische Tanker dürfen es zu diesen Preisen verschiffen. Daher ist der befürchtete rapide Preisanstieg am Ölmarkt ausgeblieben.

Kurz nach Kriegsbeginn vor knapp einem Jahr war der Ölpreis aufgrund der Sorge vor einem Wegfall der russischen Exporte kurzzeitig auf 150 Dollar pro Barrel gestiegen. Seither hat sich die Versorgungslage am Ölmarkt entspannt – zum Leidwesen Putins. Brent-Öl kostet derzeit knapp 79 Dollar pro Fass.

Ebenfalls schmerzhaft für Russlands Kriegswirtschaft: Auch der Preis für Rohöl in Kozmino, das für den asiatischen Markt bestimmt ist, nähert sich der G7-Preisgrenze. Argus Media zufolge notiert er derzeit bei rund 65 Dollar pro Fass – ein Abschlag von rund 17 Prozent auf den Weltmarktpreis.

Auch ist die Kapazität Indiens und Chinas, weiteres russisches Öl aufzunehmen, begrenzt, sagt Giovanni Staunovo, Rohstoffexperte der UBS. „Trotz eines großen Abschlags für russisches Öl gegenüber Brent konnten wir keinen massiven Anstieg der Importe russischer Fässer von asiatischen Abnehmern wie China und Indien beobachten.“ Die US-Investmentbank RBC Capital Markets schätzt, dass die Exporte über den Seeweg im Dezember um 20 Prozent gegenüber dem Vormonat eingebrochen sind.

Fakt ist auch: Russland hat wenig andere Möglichkeiten, als Rohöl zu Ramschpreisen in Asien zu verkaufen. Denn die Espo-Pipeline, die Öl quer durch Sibirien and die Ostküste pumpt, wo es noch höhere Preise erzielt, hat lediglich eine Kapazität von 1,6 Millionen Barrel pro Tag. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 importierte Europa noch 2,4 Millionen Barrel pro Tag aus Russland. Insgesamt exportierte Russland vor Kriegsausbruch 4,7 Millionen Fass täglich – das entspricht etwa fünf Prozent der weltweiten Ölnachfrage.

Da auch die Lagerkapazitäten in Russland begrenzt sind, halten Analysten wie UBS-Experte Staunovo einen Rückgang der Ölproduktion für unausweichlich. Er erwartet, dass die Ölförderung Russlands von 10,5 Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2021 auf neun Millionen Barrel pro Tag im Jahr 2023 zurückgeht. Damit würde Russlands Anteil an der globalen Ölförderung von einst 14 Prozent auf etwa neun Prozent sinken – ein bedeutender Machtverlust.

EU und USA: Preisdeckel hat sich auch geopolitisch bewährt

Der Wirtschaftskrieg mit dem Westen verläuft für Russland damit ähnlich erfolglos wie die militärische Aggression gegen die Ukraine. Dass die Fehlkalkulationen den Kreml jedoch zum Einlenken bringen, zeichnet sich weiterhin nicht ab. Die russische Armee setzt ihre Versuche fort, Geländegewinne an der Ostfront zu erzielen. Hohe Verluste unter den Soldaten, die gegen die Stellungen der ukrainischen Verteidiger anrennen, schrecken Moskau ebenso wenig ab wie die schwindenden Einnahmen aus dem Ölexport.

Dennoch hat sich der Preisdeckel aus Sicht der EU und der USA nicht nur ökonomisch, sondern auch geopolitisch bewährt. Weil er den Preis auf dem Weltmarkt dämpft, verringert er den politischen Druck, Verhandlungen über ein Ende des Krieges zu russischen Bedingungen zu führen. Wären die Ölpreise dauerhaft so hoch geblieben, wie sie nach Kriegsbeginn zwischenzeitig waren, hätte der Westen die Unterstützung für die Ukraine womöglich nicht durchgehalten.

Diese Sorge trieb vor allem die Amerikaner um. Die US-Regierung setzte sich im vergangenen Jahr vehement für den Ölpreisdeckel ein. Die Pläne der Europäer, russisches Öl zu boykottieren, ohne preisdämpfende Begleitmaßnahmen zu beschließen, hätten den Weltmarkt destabilisiert, lautete die Befürchtung in Washington.

Kurz bevor das EU-Embargo im Dezember in Kraft trat, gelang der G7 eine Einigung. Das Konzept lautet, den Russen einen Anreiz zum Export zu lassen – schließlich sind geringe Einnahmen besser als gar keine –, zugleich aber die Krisengewinne abzuschöpfen, die Russland im vergangenen Jahr wegen der hohen Energiekosten einstreichen konnte.

Im nächsten Schritt soll der Preisdeckel auf „Ölprodukte“ ausgeweitet werden, die Russland exportiert: Diesel und Heizöl. Die Gespräche darüber laufen noch, am 5. Februar sollen die Regelungen in Kraft treten. Das Vorhaben ist heikel, warnt RBC-Analystin Helima Croft: Das Verbot von Ölprodukten werde „schwieriger abzufedern sein als das Embargo für Rohölexporte über den Seeweg“. Sie spricht von einer „Bewährungsprobe für die Märkte“.

USA suchen neue Ölquellen – Sanktionen gegen Venezuela gelockert

Putin, dem Kriegsherrn, bleibt damit noch die Hoffnung auf eine Trendwende. Auch der SWP-Experte Kluge erwartet, dass es „einige Jahre dauern wird, bis Russland ökonomisch in die Knie geht“. Das Land habe noch erhebliche Finanzreserven.

Zugleich stocken die Versuche der USA, jenseits von Russland neue Ölquellen aufzutun. Zwar hat die US-Regierung von Präsident Joe Biden die Sanktionen gegen Venezuela gelockert. Doch RBC-Analystin Croft betont: „Die umfassende Wiederbelebung des venezolanischen Ölsektors wird neue Investitionen in Milliardenhöhe erfordern.“

Der jahrzehntelange Investitionsstau sei nicht ohne Weiteres zu beheben. „Daher wird die Aufhebung der Sanktionen nicht wie ein Lichtschalter die Ölproduktion in Venezuela über einen minimalen Zuwachs hinaus anknipsen können.“

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