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SAP in der Midlife-Crisis: Wie Deutschlands wichtigster Tech-Konzern um seine Zukunft kämpft

Die Börse bewertet SAP schlechter als die Konkurrenz. Anleger zweifeln offenbar an der Zukunft des einzigen deutschen IT-Konzerns von Weltgeltung. Das hat Gründe.

  • Ausgerechnet zum 50. Geburtstag werden bei SAP die Probleme immer präsenter: Der Umstieg auf cloudbasierte Produkte verläuft schleppend, neue Wettbewerber greifen an.

  • Konzernchef Christian Klein treibt den Umbau auf allen Ebenen voran. Der Druck auf die Mitarbeiter wächst.

  • Im Interview erklärt SAP-Mitgründer Hasso Plattner, warum der Konzern an der Börse so unterbewertet ist und wieso er sich so schwer damit tut, für sich selbst einen Nachfolger zu finden.

Zum 50. Jubiläum programmiert sich SAP auf Feierstimmung. Bereits Anfang April musizierte das Belegschaftsorchester gemeinsam mit Starpianist Lang Lang im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie.

Im Programm stand unter anderem die „Jubelouvertüre“ von Carl Maria von Weber, die billigsten Karten kosteten 129 Euro. In der SAP Arena in Mannheim soll noch ein „Gala-Event“ mit allerlei Prominenz folgen. Im Sommer dann will Deutschlands einziger Softwarekonzern von Weltrang an 20 Standorten Partys für die Mitarbeiter schmeißen. Das Motto: „It’s time to shine“ – es ist Zeit zu glänzen.

Jubel und Größe, Glanz und Gala: Wie so mancher Mensch zelebriert auch SAP zum Fünfzigsten vor allem die eigene Bedeutung. Man hat was geschafft, man gehört dazu. Doch was ist mit der Zukunft?

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SAP Aktie deutlich unter Dax Leitindex

Vielen SAP-Aktionären und auch einem Teil der Belegschaft wird beim Blick auf die kommenden Jahre bang. Zwar gilt der Dax-Konzern aus Walldorf bis zum heutigen Tag als Maßstab der hiesigen IT-Wirtschaft. Ein Blick auf Marktposition und Geschäftszahlen offenbart aber, dass SAP in einer handfesten Midlife-Crisis steckt.

Der Umsatz des Konzerns ist in den letzten drei Jahren kaum noch gewachsen. SAP kämpft darum, in einer Technologiewelt zu bestehen, in der Software zur Dienstleistung aus der Cloud wird und Künstliche Intelligenz Geschäftsprozesse von der Maschinenwartung bis zur Buchhaltung verändert. Eine Welt, in der IT-Projekte höchstens ein paar Monate dauern dürfen und komplexe Geschäftsanwendungen aussehen sollen wie schicke Smartphone-Apps. Kurz: In der nicht nur neue Technologie, sondern auch neues Denken erforderlich ist.

Damit tut sich SAP schwer. Der Konzern befinde sich in einer großen Transformation, möglicherweise der größten der Unternehmensgeschichte, betont Vorstandssprecher Christian Klein immer wieder. „Mittlerweile sieht jeder, dass die Zukunft in der Cloud liegt – darauf müssen wir reagieren“, sagte er dem Handelsblatt im November, als er die vielen Veränderungen der vergangenen Monate erklärte.

SAP ist ein Opfer des eigenen Erfolgs.
Holger Müller, Analyst bei Constellation Research und ehemaliger Vorstandsassistent von Hasso Plattner

SAP muss sich neu erfinden, nicht zum ersten Mal. Wie bei einer menschlichen Midlife-Crisis geht es weniger ums nackte Überleben als um die Sinnfrage: Welche Rolle will man, kann man mit über 50 noch spielen in einer IT-Welt, die sich schneller verändert als je zuvor? In der jüngere, beweglichere Unternehmen gnadenlos an der angestammten Marktposition nagen? In der SAP nicht mehr wie vor einem halben Jahrhundert der wilde Newcomer ist, sondern der behäbige Platzhirsch?

Dass es SAP an schlüssigen Antworten auf diese Fragen fehlt, lässt sich am Aktienkurs ablesen. In den ersten Monaten des Jubiläumsjahrs 2022 hat SAP an der Börse mehr als ein Fünftel an Wert verloren und damit deutlich mehr als der Leitindex Dax. Den Prestigetitel als Deutschlands wertvollster Börsenkonzern hat SAP verloren – ausgerechnet an den drögen Industriegasehersteller Linde.

SAP erreicht nur noch knapp 120 Milliarden Euro Marktkapitalisierung. Die 300 Milliarden Dollar oder rund 275 Milliarden Euro, die Kleins Vorgänger Bill McDermott einst versprach, sind weit entfernt.

Auch bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Stimmung gedämpft. Es hat sich Unzufriedenheit über die Gehälter breitgemacht. Nun sorgt auch noch der Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine für Diskussionen: Die SAP-Führung verurteilte zwar „den Angriff auf Demokratie und Menschlichkeit“, brauchte aber einige Zeit, um für den Umgang mit russischen Kunden eine Linie zu finden.

Wie geht es weiter mit SAP? Das Management um Vorstandssprecher Klein verspricht eine Metamorphose, wie sie bereits Microsoft gelungen ist: Aus einem traditionellen Softwarehersteller soll ein moderner Cloud-Dienstleister werden, dessen Technik bei der Digitalisierung unabkömmlich ist.

Die Zahlen der letzten Quartale machen dem Vorstand Hoffnung. Während der Gesamtumsatz 2021 kaum wuchs, verzeichnete das Cloud-Geschäft ein Plus von 17 Prozent auf 9,42 Milliarden Euro. Aufsichtsratschef und SAP-Mitgründer Hasso Plattner sieht darin einen „sensationellen Durchbruch“, wie er dem Handelsblatt sagte: „Das ist das Comeback des ‚German Engineering‘“.

Quelle: Bloomberg
Quelle: Bloomberg

Skeptiker sehen SAP auf einem anderen Weg: von einem Pionier, der mit seiner Software die Digitalisierung der Geschäftswelt vorantrieb und die Strukturen ganzer Konzerne prägte, zum Betreiber eines Datensilos, aus dem andere Systeme die relevanten Informationen ziehen.

Einen solchen Bedeutungsverlust haben Technologieanbieter wie IBM und Hewlett Packard bereits hinter sich: Vom strategischen Partner ihrer Kunden wurden sie zum bloßen Dienstleister und Ausrüster herabgestuft, der bei den wirklich wichtigen Zukunftsfragen nicht mehr mit am Tisch sitzt.

Wohin der Weg für SAP geht, darüber werden die nächsten Monate und Jahre entscheiden. Ob der 50. Geburtstag einen letzten Höhepunkt vor dem allmählichen Abstieg markiert – oder den Entschluss, es noch einmal wissen zu wollen.

SAP steckt im „Innovator’s Dilemma“

Um das Geschäft von SAP ein bisschen anschaulicher zu machen, hat der Softwarehersteller mehrere „Experience Center“ aufgebaut, beispielsweise mit einem digital vernetzten Supermarkt, dem „S-Mart“.

Dort lassen sich die Preise an den elektronischen Schildern auf Knopfdruck verändern, etwa wenn die Konkurrenz gerade ein Produkt im Angebot hat. Und wenn Milch, Olivenöl oder Brot im Regal knapp werden, erhält die Marktleitung direkt einen Hinweis. Die Kameras und Sensoren stammen von Partnern, die Software liefert SAP.

Die Technik mag damals eine andere gewesen sein, doch dieses Geschäft betreibt SAP im Prinzip bereits seit der Unternehmensgründung im April 1972. Erst lief die Software auf Großrechnern von IBM, später auf PCs und in den Rechenzentren der Unternehmen, heute findet sie sich immer häufiger in der Cloud.

Das Prinzip ist jedoch stets gleich: Organisationen können mit Standardsoftware ihre Geschäftsprozesse abbilden, von der Beschaffung bis zur Bilanzierung, vom Personalwesen bis zur Logistik. Und zwar praktisch in Echtzeit.

Dass SAP zu den größten Softwareherstellern der Welt zählt, verdankt der Dax-Konzern seinem Erfolg ab den 1990er-Jahren. Seine Technologie vereinte betriebswirtschaftliches Wissen mit deutscher Gründlichkeit. Damit bot sie die Grundlage fürs „Business Process Reengineering“, also jene Managementphilosophie, die auf Transparenz über Mitarbeiter, Warenströme und Finanzen setzt, und zwar bis in die entlegenste Zweigstelle.

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Die Chronik des Erfolgs

Beratungsfirmen nutzten ihre Kontakte in die Konzerne, um den Vorständen die Reengineering-Radikalkur und die dazu passende Software fürs Enterprise Resource Planning (ERP) zu verkaufen, wie Experten die betriebswirtschaftliche Steuerungssoftware nennen. 99 der 100 größten Unternehmen der Welt sind heute SAP-Kunden. Und viele Zulieferer nutzen die Systeme mehr oder weniger notgedrungen, weil ihre Großkunden das verlangen.

Rund 35.000 Organisationen steuern mit dem SAP-Programmpaket der dritten Generation ihre Geschäftsprozesse, die vierte Generation seiner Software hat SAP inzwischen knapp 19.000 Mal verkauft. Sollten die SAP-Produkte von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktionieren, stünde ein großer Teil der Weltwirtschaft still.

Diese Größe hat SAP allerdings unbeweglich gemacht. Tausende Mitarbeiter haben im Tagesgeschäft damit zu tun, Software-Updates zu liefern und „Feature Requests“ für neue Funktionen zu erfüllen, die Änderungen zu testen und zu dokumentieren. Das bindet Ressourcen. Zugleich ist der Aufwand, so ein System von Grund auf neu zu entwickeln, gigantisch, technologisch wie finanziell. Ein Neuanfang fällt daher schwer.

„SAP ist ein Opfer des eigenen Erfolgs“, sagt Holger Müller, der als Analyst bei Constellation Research Unternehmen beim Kauf von IT-Lösungen berät: „Die alte Software läuft bei den Kunden gut genug, ist vertraut und wird beherrscht – also warum Risiken mit neuen Prozessen und Plattformen eingehen, wenn der Nutzen nicht ganz klar ist?“ In vielen Unternehmen wird die Frage offenbar so oder ähnlich gestellt.

Der Softwarehersteller habe ein „Innovationsproblem“, sagt Müller, der früher zwei Jahre als Vorstandsassistent für die SAP-Manager Hasso Plattner und Henning Kagermann arbeitete und später für mehrere Produkte verantwortlich war.

„Es fehlt eine klare Vision, wie die Unternehmenssteuerung im 21. Jahrhundert aussehen muss.“ Es ist die Walldorfer Version des „Innovator’s Dilemma“: Weil das eigene Kernprodukt so erfolgreich ist, fällt es SAP schwer, sich davon zu lösen.

Heute gibt es die Cloud mit allgegenwärtiger und unbegrenzter Rechenleistung, dazu Algorithmen für Künstliche Intelligenz und Daten ohne Ende. Trotzdem funktioniert die SAP-Software so ähnlich wie vor zehn Jahren. „Das ist ein Problem, das die Konkurrenz auch nicht gelöst hat“, betont Müller – also Oracle, Workday und Microsoft.

Dabei ist SAP nicht untätig gewesen. In den vergangenen zehn Jahren hat der Konzern diverse Cloud-Spezialisten gekauft und mit S/4 Hana eine neue Version seines ERP-Kernprodukts eingeführt. Das war womöglich zu viel auf einmal.

SAPs langer Weg in die Cloud

Bei der wichtigsten Präsentation seiner Amtszeit zeigt sich Christian Klein in heimeliger Atmosphäre. Im Kamin neben ihm brennt eine Gasflamme, auf dem Couchtisch davor sind zwei Bücher drapiert, hinter bodentiefen Fenstern ist eine Winterlandschaft zu sehen.

Der bequeme Sessel bleibt jedoch unberührt. Klein steht und ruft in die Kamera: „Ladies and Gentlemen, I’m thrilled to launch ‚Rise with SAP‘“, und nach einer Kunstpause: „Business Transformation as a service!“

Was Klein im Januar 2021 mit großer Geste ankündigt: Der Softwarehersteller will Kunden deutlich erleichtern, seine Cloud-Produkte einzuführen und gleichzeitig ihr Geschäft für die digitale Welt neu aufzustellen – zum Beispiel mit Analysen, wie sich Prozesse wie Vertrieb oder Beschaffung effizienter gestalten lassen. „Rise with SAP“ ist ein ganzes Paket – mit Software, technischen Hilfen und einem einheitlichen Vertrag –, das die notorisch komplexe Einführung von SAP-Systemen erleichtern soll.

SAP will mit „Rise with SAP“ zwei zentrale Probleme lösen. Erstens: S/4 Hana, die aktuelle Version der ERP-Software, ist seit 2015 auf dem Markt, doch viele der rund 35.000 Bestandskunden zögern mit der Einführung. Nach einer Erhebung des Marktforschers Gartner haben von den Bestandskunden bis heute nur rund 9000 einen Vertrag fürs neue System unterschrieben, mit der Umstellung begonnen haben sogar nur 6000.

Die teure und aufwendige Einführung von S/4 Hana rechne sich nicht, berichten viele IT-Manager – auch weil die alten, über Jahre weiterentwickelten SAP-Systeme stabil und effizient laufen.

Zweitens: Das Management bezeichnet SAP zwar seit Jahren als „Cloud-Company“, doch das ist Spezialisten wie Success Factors, Concur und Qualtrics zu verdanken, die der Konzern übernommen hat.

Das Kerngeschäft mit Software zur Unternehmenssteuerung – das ERP also – trug lange so wenig zum Cloud-Geschäft bei, dass der Dax-Konzern die entsprechenden Kennziffern erst gar nicht im Geschäftsbericht auswies. Kein Wunder: Das Thema hat intern keine hohe Priorität.

Das verändert sich jedoch durch die Coronapandemie: Da plötzlich Millionen Menschen von zu Hause aus arbeiten, lernen und einkaufen, ist die Cloud zum neuen Standard geworden – sie verspricht schnelle Updates und viel Flexibilität, ohne dass ein Mitarbeiter dafür ins Büro oder Rechenzentrum kommen muss.

SAP droht von mehreren Seiten Ungemach. Im Kerngeschäft mit Software für die Betriebssteuerung hat Oracle in den vergangenen Jahren das Angebot deutlich ausgebaut, Ambitionen hat auch Microsoft. Gleichzeitig ist der Verkauf zusätzlicher Produkte schwierig, wenn die Kunden nicht die aktuelle Technik nutzen. Märkte wie Datenanalyse, Personalmanagement und Kundenbeziehungsmanagement wachsen, SAP verliert jedoch Marktanteile.

Es geht zudem um den Nimbus, der erste Ansprechpartner für die Digitalisierung zu sein. Wenn die Kunden mit veralteten Systemen arbeiten, hat es SAP schwer, eine App für die coronakonforme Platzbelegung im Büro einzuführen oder einen Supermarkt zu digitalisieren. Hier konkurriert SAP mit Konzernen wie Microsoft, Salesforce und Service Now ebenso wie mit den neuen Anbietern Celonis, Uipath und Mendix.

Druck auf Mitarbeiter, Druck auf Kunden

Vor der Präsentation im Januar durchlebte Vorstandssprecher Klein einige Monate, die selbst für einen Topmanager brutal waren. Die Berufung zum Co-Chef gemeinsam mit Jennifer Morgan in einer Doppelspitze, die bereits Monate später zerbrach. Der Ausbruch der Coronapandemie, der die Wirtschaft in die Krise stürzte und das Softwaregeschäft völlig veränderte.

Der 41-jährige Klein, der nach außen stets freundlich und verbindlich auftritt, hat in den zweieinhalb Jahren als Vorstandssprecher die Organisation mit Detailversessenheit und einiger Härte umgebaut. Im Großen wie im Kleinen, von den Strukturen bis zu den Bonusplänen.

Da er schon als Student an der Berufsakademie bei SAP anfing, kennt er die Firma in- und auswendig – dieses Detailwissen ist nun gefragt. Er selbst bezeichnet sich gern als „Brückenbauer“, als einen, der verschiedene Leute zusammenbringt und die Komplexität im Konzern reduziert.

So hat Klein dafür gesorgt, dass sich zugekaufte Cloud-Anbieter wie Success Factors und Concur, denen sein Vorgänger Bill McDermott viel Eigenständigkeit zugestanden hat, an die Vorgaben aus der Zentrale halten – zum Beispiel bei der Integration der vielen Produkte zu einem einheitlichen Programmpaket. Seine Co-Chefin musste im Streit über dieses Thema gehen.

Die ehemalige Co-Chefin von SAP wechselte nach ihrem Abgang bei dem Dax-Konzern zum Vermögensverwalter Blackstone.
Die ehemalige Co-Chefin von SAP wechselte nach ihrem Abgang bei dem Dax-Konzern zum Vermögensverwalter Blackstone.

Nach einigen Umstrukturierungen, intern als „Reorgs“ bekannt, hat SAP nun eine Organisation, die klar nach den einzelnen Funktionen unterteilt ist. Für die Produktentwicklung ist allein Thomas Saueressig verantwortlich, sieht man von einigen Initiativen wie der Nachhaltigkeitssoftware und dem übernommenen Fintech Taulia ab.

Vertrieb und Service sind in der Hand von Scott Russell. Und für das Marketing ist mit Julia White nun eine eigene Vorständin verantwortlich. Damit liegt die Macht wieder in der Walldorfer Zentrale, weniger in den Büros der zugekauften Töchter.

Eines hat sich beim Übergang vom Chefverkäufer McDermott zum Prozessnerd Klein nicht verändert: Der Druck, von Quartal zu Quartal die Verkaufsziele zu erreichen, ist weiterhin hoch – das sei bei den „Account Executives“ von SAP zu spüren, berichten Insider, die an Gesprächen beteiligt waren.

Neugeschäft allein ist indes nicht mehr das Ziel: Die Bonuszahlungen berücksichtigen mittlerweile auch Vertragsverlängerungen bei Bestandskunden. Und damit die Kunden nicht kündigen, haken eigene Teams nach, wenn die SAP-Software nur wenig genutzt wird. Dank der Cloud erhält SAP diese Einblicke.

„Eine klare Verteidigungsstrategie“

Rechtzeitig zum Jubiläum zeigt die Transformation, über die SAP-Chef Klein immer spricht, durchaus Wirkung. 2021 nahm der Softwarehersteller mit S/4 Hana Cloud knapp 1,1 Milliarden Euro ein, ein Plus von 46 Prozent.

Der Auftragsbestand wuchs sogar um 86 Prozent. Dazu dürften die rund 1300 Kunden, die bislang „Rise with SAP“ nutzen, deutlich beigetragen haben. Am 22. April gibt der Vorstand mit den Zahlen fürs erste Quartal das nächste Update.

Derartige Wachstumszahlen sind allerdings auch nötig, um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen: Der Umsatz mit der Cloud soll bis 2025 auf 22 Milliarden Euro steigen, ein durchschnittliches Wachstum von gut 18 Prozent pro Jahr. Das kann nur gelingen, wenn die Akzeptanz der Cloud nach Walldorfer Art weiter steigt.

Gerade unter den Bestandskunden muss SAP aber noch Überzeugungsarbeit leisten. Laut einer Umfrage der SAP-Nutzerorganisation DSAG ist der Großteil der Mitgliedsunternehmen im deutschsprachigen Raum noch nicht mit „Rise with SAP“ vertraut. Und 57 Prozent der Teilnehmer halten es für unwahrscheinlich, dass sie das Programm nutzen werden.

Bei der Asug, in der sich amerikanische SAP-Kunden organisieren, ist der Bekanntheitsgrad der Cloud-Initiative ähnlich gering. Die Zahlen mögen nicht repräsentativ sein, bieten aber ein valides Stimmungsbild.

Mit seiner Strategie hat Christian Klein zwar dafür gesorgt, dass SAP im Kerngeschäft wieder wettbewerbsfähig wird. „Das ist eine klare Verteidigungsstrategie“, betont jedoch ein Insider, der nah an der Unternehmensführung ist. Es gehe darum, die Kunden zu befrieden und Konkurrenten wie Oracle und Workday abzuwehren. Neue Märkte abseits der Unternehmenssteuerung greife der Softwarehersteller indes nicht an.

Aus vielen Ideen, die bei SAP in den vergangenen Jahren für neues Wachstum sorgen sollten, ist nichts geworden; aus Leonardo etwa, einem Baukasten für die Vernetzung von Maschinen und Objekten. Während der frühere SAP-Chef McDermott davon sprach, das Leonardo-Geschäft könne größer werden als der gesamte Konzern, hat das Management die Marke aus dem Sprachgebrauch gestrichen.

Beim Customer-Relationship-Management (CRM), also der Software zum Management von Kundenbeziehungen, ist SAP nur in einzelnen Feldern wie E-Commerce mit Salesforce konkurrenzfähig. Der Abstand ist weiter gewachsen, trotz vollmundiger Ankündigungen aus Walldorf, den Marktführer überflüssig zu machen, und trotz einiger teurer Zukäufe. Mittlerweile erwirtschaftet der Cloud-Spezialist aus San Francisco fast genauso viel Umsatz wie SAP – an der Börse ist Salesforce längst mehr wert.

Und beim Process-Mining, der Analyse von Geschäftsprozessen, ist mit Celonis mittlerweile ein Softwarehersteller aus München der Marktführer, während SAP mit der Übernahme von Signavio die Lücke im Portfolio schließen muss.

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Abschied von einer Konstante: Finanzchef Mucic verlässt SAP

Die nächste große Aufgabe für das Führungsteam um Christian Klein besteht darin, die Organisation zu befähigen, bedeutende Innovationen selbst zu entwickeln und groß zu machen. Die Chance ergebe sich gerade, betont Aufsichtsratschef Plattner: „Wir haben das ERP in den vergangenen Jahren praktisch neu geschrieben, damit waren alle beschäftigt.“ Deswegen sei die Umstellung auf die Cloud auch langsamer gelaufen. „Wir haben jetzt die Kapazität, etwas Neues zu machen und nicht nur das ERP-Lied zu singen.“

Klein, früher Controlling-Chef und bis heute Prozessoptimierer, will das bestehende Modell rund um die Steuerung von Geschäftsprozessen erweitern. Daten aus Produktion, Logistik und Buchhaltung sollen es Unternehmen zum Beispiel erleichtern, eine Nachhaltigkeitsbilanz aufzustellen oder die Lieferkette besser zu organisieren. Und über das Fintech Taulia, das seit Kurzem zum Konzern gehört, bietet SAP Finanzierungslösungen für Lieferanten an.

Für den Umgang mit den technischen Umbrüchen wie auch für die großen Ideen war in den vergangenen 50 Jahren Hasso Plattner zuständig. Ohne ihn läuft bis heute wenig bei SAP, gegen ihn nichts. Doch das Unternehmen muss sich, wie das in einer Midlife-Crisis passieren kann, vom Übervater emanzipieren.

Der 78-jährige Aufsichtsratschef will sich auf der Hauptversammlung im Mai noch einmal für zwei Jahre wählen lassen, nun wirklich zum letzten Mal, wie er verspricht. Dann hätte der letzte der SAP-Gründer den Konzern verlassen.

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Wer Plattner auf dem Posten des Chefkontrolleurs nachfolgen soll, ist unklar – er selbst äußert sich dazu nur vage. Im Aufsichtsrat gibt es zwar etliche fähige Manager, für den Vorsitz eignen sie sich jedoch nur bedingt. So sind Gunnar Wiedenfels, im Hauptberuf Finanzchef des Medienkonzerns Discovery, und Friederike Rotsch, Chefjustiziarin beim Pharmakonzern Merck, keine Technologieexperten und haben überdies mit ihren Hauptberufen genug zu tun.

Bernard Liautaud wiederum, Gründer und Chef des Softwareherstellers Business Objects und heute Risikokapitalgeber, kennt zwar die Branche, scheidet jedoch demnächst aus dem Gremium aus. Bleibt noch Gerd Oswald, der 20 Jahre im Vorstand von SAP saß, aber nächstes Jahr auch schon 70 wird.

SAP Aktie: Die Investoren sind enttäuscht

Der Umbruch bei SAP, die Unsicherheit über die Zukunft: Wie an einer Fieberkurve lässt sich die Midlife-Crisis von SAP am Aktienkurs ablesen. Der Titel hat sich in den vergangenen Jahren deutlich schlechter entwickelt als die Papiere anderer Softwarehersteller und Cloud-Dienstleister.

„Das Marktsegment ist grundsätzlich hochattraktiv, der Aktienkurs von SAP reflektiert das aber in keinster Art und Weise“, sagt Holger Schmidt, der für das Bankhaus Metzler Firmen aus Technologie und Telekommunikation beobachtet. „Ich verstehe, dass die Investoren enttäuscht sind.“

Aktionäre zahlen für Konkurrenten wie Salesforce, Workday und Coupa deutlich mehr, wenn man Umsatz und Betriebsergebnis als Maßstab nimmt. Würde SAP ähnlich bewertet wie die Wettbewerber, müssten allein die Cloud-Dienste des Dax-Konzerns mehr wert sein als aktuell die gesamte Firma.

Analyst Schmidt führt die schlechte Entwicklung auf die Kommunikation von SAP zurück. Ein Beispiel: Der Softwarehersteller habe schon in der Ära McDermott ab 2010 damit begonnen, das Geschäftsmodell aufs Cloud-Computing umzustellen. „Dass jetzt noch einmal hohe Investitionen nötig sind, um die Cloud-Infrastruktur zu harmonisieren, war nicht transparent.“ Genau so begründet jedoch das Management, dass die Gewinne vorerst niedriger ausfallen sollen.

Die Schwierigkeiten bei den Investor-Relations sind nach Handelsblatt-Informationen der Hauptgrund dafür, dass Finanzchef Luka Mucic vorzeitig geht. Die Kapitalmarktkommunikation „machen alle Konkurrenten besser als wir, am besten Oracle“, moniert Aufsichtsratschef Plattner im Handelsblatt-Gespräch. Seine Hoffnung: Wenn sich SAP an der Börse besser verkauft, steigt der Aktienkurs automatisch.

Aber liegt es wirklich nur an der Kommunikation? Analyst Schmidt moniert stellvertretend für viele Beobachter auch verpasste Chancen: „SAP nutzt nicht das Potenzial aus, das sich aus der großen Kundenbasis ergibt.“ So habe der Konzern das CRM-Geschäft Salesforce überlassen.

Bei 50-jährigen Männern, die sich neu erfinden wollen, reicht es in der Regel nicht, wenn sie den Bauch einziehen und sich eine Lederjacke kaufen. Und auch bei SAP wird es mit besserer Kommunikation allein nicht getan sein. Jubelouvertüren helfen nur beim Jubiläumskonzert.

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