So machst Du Schluss mit Überstunden und Leistungsdruck
Extraschichten im Büro statt Freizeit mit Freunden und Familie? Wer glaubt, dass das der Preis für eine erfolgreiche Karriere ist, übersieht ein entscheidendes Detail.
Bei Frag Dein XING! beantworten Expert•innen Deine ganz persönliche Frage zum Thema Job & Karriere. Praxisnah helfen von XING ausgewählte Coaches Dir dabei, Lösungen zu finden, die zu Dir passen.
Frage der Woche:
Ich mag meinen Job. Aber in meiner Firma wird ständig an der Leistungsschraube gedreht. Ich schaffe es selten vor 19 Uhr Feierabend zu machen, weil immer noch ein Projekt oder Meeting hinzukommt. Ich bin am Anschlag. Was kann ich tun?
Lieber XING Nutzer•in,
als ich noch bei Unilever als Manager im Marketing gearbeitet habe, habe ich so manchen Abend den Sport sausen lassen oder Verabredungen mit Freunden. Ein sehr großer Teil meiner Energie ging in meine Karriere. Ich wollte das damals so. War das richtig oder falsch? Ich bin kein Mensch, der bereuend zurückblickt. Es war einfach so.
Hätte ich damals meine Prioritäten bewusst anders setzen können? Absolut!
Was auch immer wir im Leben tun, alles hat seinen Preis: Wenn Du Dich zum Beispiel entscheidest, die steigenden Leistungsanforderungen im Unternehmen zu erfüllen, dann bist Du abends ausgepowert. Gehst Du dagegen pünktlich nach acht Stunden nach Hause, dann hast Du vielleicht im Job das Gefühl, nicht alles tippi toppi im Griff zu haben. Du könntest Dich aber auch entschließen, mit Deiner Führungskraft ein vermutlich etwas weniger angenehmes Gespräch zu führen und zu erklären, dass Du das neue Projekt nicht auch noch zusätzlich schaffen wirst.
Welche der genannten Alternativen für Dich besser ist, kommt auf DEINE Zielsetzung an.
Ein starker Weg
Stärker, als Entscheidungen im einem Stress-Moment bei der Arbeit zu treffen, sind grundsätzliche Entscheidungen. Es ist nicht falsch, Gas zu geben im Job und die Karriere voranzutreiben. Die Frage ist, was möchtest Du? Und wie viel bist Du bereit zu geben?
Möchtest Du Deine ganze Kraft in den Job setzen und abends zu müde sein, um Freunde zu treffen, Sport zu treiben oder ein gutes Buch zu lesen?
Oder möchtest Du um 18 Uhr den Laptop zuklappen und den Abend noch bewusst und kraftvoll gestalten?
Wie viel Zeit möchtest Du mit Freunden verbringen? Mit Sport? Mit Deinem oder Deiner Liebsten? Deinen Kindern? Wie viel Zeit für Dich möchtest Du haben?
Das sind Deine entscheidenden Grundüberlegungen.
Nein sagen lernen
Wenn Du mehr Aufgaben auf Deinem Schreibtisch liegen hast, als Du schaffen kannst, gibt es fünf Wege damit umzugehen:
Dinge später tun.
Dinge gar nicht tun.
Dinge delegieren, an Mitarbeitende, Kolleg•innen oder an externe Dienstleister.
Dinge mit weniger Zeiteinsatz - und vermutlich auch Qualität - tun.
Überstunden machen.
Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.
Wichtig ist –schon wieder– Deine bewusste Entscheidung.
So geht es auch
Als ich bis Anfang der 2000er bei Unilever arbeitete, waren elf oder zwölf Arbeitsstunden pro Tag für mich normal. So war das nun einmal bei uns im Marketing. Ich hatte zu dieser Zeit aber eine Kollegin, nennen wir sie Tina, die da nicht mehr mitmachen wollte und eine starke Entscheidung traf: Sie ging ab sofort jeden Tag um 18 Uhr nach Hause. Tina liebte ihren Job. Sie war ehrgeizig. Aber sie hatte erkannt, dass ihre Lebensqualität unter der Arbeitsbelastung litt. Ihr Energielevel war abends zu niedrig für Treffen mit Freunden oder Sport.
Wie hat Tina das geschafft? Sie hatte für sich eine Entscheidung getroffen und handelte konsequent danach. Auch wenn sich ihre Kolleg•innen zunächst gewundert haben, blieb Tina bei ihrem Plan. Um ihre Aufgaben nicht stumpf liegen zu lassen, nutze sie geschickt die vier oben genannten Prinzipien: Delegieren, später machen, mit weniger Umfang bearbeiten und gar nicht machen.
Überstunden waren für sie dagegen fortan Tabu. Aber auch ausschweifende Mittagspausen verbannte Tina aus ihrem Arbeitsalltag. Und das Wichtigste: Sie befreite sich vom Open-end-Syndrom.
Das Gespräch mit Deiner Führungskraft
Um es wie Tina zu halten, kannst Du nicht nur beschließen, etwas „weniger zu arbeiten“. Das ist vage und bringt gar nichts. Wenn Du für Dich die Entscheidung getroffen hast, dass Du bis zu einer bestimmten Uhrzeit Deinen Arbeitsplatz verlassen willst oder dass Du fortan nur noch x Stunden pro Woche arbeiten wirst, dann sprich darüber mit Deiner Führungskraft.
Du könntest erklären: „Ich mag meinen Job. Sehr sogar. Ich will hier Gas geben. Ich will zum Erfolg beitragen. Ich will meine Projekte vorantreiben. UND: Ich möchte ab sofort nicht mehr x, sondern y Stunden arbeiten. Mir ist wichtig, Ruhepausen zu haben, damit ich mich am nächsten Tag wieder kreativ und tatkräftig reinknien kann.“
Auch wenn manche Führungskraft vermutlich die Stirn runzelt, wird sie doch insgeheim wissen: „Mein Mitarbeiter hat recht. Das sollte ich vielleicht selbst auch tun…“
Wenn Du Glück hast, zeigt sich Deine Führungskraft offen für Deinen Vorschlag. Wenn Du Pech hast, nicht. Versuche, in diesem Fall einen Kompromiss zu verhandeln: beispielsweise eine Übergangsregelung für die kommenden drei oder vier Wochen. Mache einen Vorschlag, was genau Du reduzieren möchtest. Welche Aufgaben Du später, gar nicht, delegieren, mit weniger Umfang bearbeiten wirst. Verhalte Dich konstruktiv und bringe mögliche Lösungen ein.
Aber sei Dir klar, dass Du allein die Grenze für Deine Arbeitsstunden pro Woche setzt. Nicht die Menge an Arbeit. Du kennst vielleicht die Redensart: Was ist der Lohn für Menschen, die sehr gut darin sind, richtig große Löcher zu buddeln? Eine größere Schaufel.
Auch wenn es Dir bisher nicht bewusst gewesen ist: Du hast immer schon selbst bestimmt, wie lange Du arbeitest. Denn wenn Du heute das Büro verlässt, wird immer noch Arbeit da sein. Du gehst nach Hause, obwohl noch etwas Wichtiges zu tun ist. Heute schon.
Jetzt bist Du am Zug
Ist Tinas Weg auch für Dich möglich? Ja, klar. Ist es für Dich die beste Lösung? Das hängt davon ab, was Dir in dieser Phase Deines Lebens wichtig ist.
Ich habe aus meiner arbeitsreichen Zeit bei Unilever gelernt und priorisiere heute Freundschaften, Beziehung und meine Familie deutlich höher als damals.
Du solltest nicht zehn Jahre oder länger 50, 60 oder noch mehr Stunden arbeiten, bevor Du die Erkenntnis hast, was die richtige Anzahl an Wochenstunden für Dich ist.
Du kannst Dich heute entscheiden.
Dein Markus Jotzo
P.S.: Du fragst Dich vielleicht, was mit meiner Kollegin Tina passiert ist? Hat sie Probleme mit ihrem Chef bekommen? Hat sie viele Rechtfertigungen gebraucht, um ihre Entscheidung durchzusetzen?
Nein.
Und Tinas Karriere?
Ein Jahr später wurde Sie befördert – eine Position in Mailand, die jeder von uns gerne gehabt hätte.
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Wer schreibt hier?
Markus Jotzo ist Autor, Redner und Trainer für Führung. Seit 2005 provoziert und unterstützt er Führungskräfte in Deutschland und weltweit. Sein Podcast heißt "Führen wie ein Löwe". Mit seinem Blog, seinen Büchern, Reden, Seminaren und Artikeln inspiriert er Menschen in über 15 Ländern.