So radikal will Chef Christian Kullmann den Konzern umbauen
Düsseldorf. Der Spezialchemiekonzern Evonik plant einen radikalen Umbau seiner weltweiten Organisation. Drei große Standorte in Europa will Evonik künftig nicht mehr selbst betreiben und wird das Geschäft in neue Dienstleistungsgesellschaften auslagern. Ein Team von Managern soll zudem ein Modell für eine vollständig neue Verwaltung des Konzerns ausarbeiten. Tausende Mitarbeiter sind von den Plänen betroffen.
„Wir arbeiten an unserer Bikini-Figur. Evonik wird schlanker, schneller und zugleich internationaler“, sagte der Evonik-Vorstandsvorsitzende Christian Kullmann im Gespräch mit dem Handelsblatt. Mit dem Umbau will er nach eigenem Bekunden Kraft für größere Investitionen in Zukunftsgeschäfte schaffen.
Frisches Kapital dafür könnte vor allem die Ausgliederung der Dienstleistungen an den Standorten Marl, Antwerpen und Wesseling aus dem Konzernverbund einbringen. Dabei geht es um Logistik, Energieerzeugung, technischen Service, Werkstätten und Werkschutz. Evonik will drei eigenständige Betreibergesellschaften gründen, in die geschätzt bis zu 4000 Mitarbeiter wechseln würden.
In der zweiten Jahreshälfte 2025 soll dieser „Carve-out“ abgeschlossen sein. Kullmann hält sich für die Zukunft der neuen Gesellschaften alle Optionen offen: Verkauf oder Beteiligungen von Investoren, Zusammenarbeit mit anderen Betreibern von Chemieparks oder die weitere Eigenregie. „Wir werden individuelle Lösungen finden.“
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Der Umbau der Verwaltung soll ebenfalls Freiräume schaffen. „Für Evonik ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem wir uns von der internen Bürokratie lösen“, sagt Kullmann. Gut 8600 Organisationseinheiten hat der Konzern aktuell, acht Hierarchie-Ebenen liegen zwischen Produktion und Vorstand, auf vier Mitarbeiter kommt eine Führungskraft. „Das ist zu komplex und zu teuer“, sagt der CEO.
Evonik ist damit ein weiteres Großunternehmen, das sich wegen zunehmender Komplexität stark gebremst fühlt. Bei der Leverkusener Bayer AG hat der neue CEO Bill Anderson bereits ein Großprojekt zum Abbau von Hierarchien und Führungsebenen gestartet. Die Bayer-Mitarbeiter sollen unternehmerisch eigenständiger arbeiten und entscheiden.
Evonik verzichtet beim Umbau auf externe Berater
In diese Richtung zielt auch das Projekt von Evonik. Kullmann greift dabei zu ungewöhnlichen Mitteln. Der CEO startet kein neues Effizienzprogramm mit Eingriffen in die bestehende Verwaltung, er lässt auf dem Papier das Modell einer komplett neuen Organisation entwerfen.
Die Essener haben dazu ein gutes Dutzend erfahrener Mitarbeiter in einem Projekt namens „Evonik Taylor Made“ zusammengezogen. Sie sollen bis zum Frühjahr 2024 eine moderne Architektur der weltweiten Konzernverwaltung erarbeiten.
„Wenn wir selbst nicht wüssten, wo wir etwas verändern müssen, wäre das in meinen Augen eine strategische Kapitulation“, sagt Kullmann. Binnen drei Jahren sollen die Pläne umgesetzt werden.
Betriebsbedingte Kündigungen gibt es bei Evonik erst einmal nicht
Wie viele Stellen davon betroffen sind und was der Umbau an Einsparungen bringt, kann Kullmann noch nicht beziffern. Vor betriebsbedingten Kündigungen sind die deutschen Evonik-Mitarbeiter bis 2032 geschützt. Gut zwei Drittel der weltweit 34.000 Beschäftigen entfallen auf Deutschland.
Für Kullmann ist aber klar: „Wir werden in Zukunft weniger Funktionen und Führungskräfte haben. Sie sollen keine Sachbearbeiter mit Sternchen auf der Schulterklappe sein, sondern unternehmerisch handeln.“ Dafür wolle man Freiräume und Verantwortungen vergrößern und gegen die „bürokratische Zwangsjacke“ vorgehen.
Hinter den Plänen steckt eine Erfahrung, die viele Großunternehmen gemeinsam haben: Die üblichen Sparprogramme in der Verwaltung brachten in der Vergangenheit nicht den erhofften dauerhaften Erfolg – auch nicht bei Evonik. Kullmann spricht von einem „Doktern an den Symptomen“. Seiner Ansicht nach schafft Bürokratie immer mehr neue Bürokratie.
Evonik ist mit einem Umsatz von zuletzt 18,5 Milliarden Euro hinter BASF die Nummer zwei der deutschen Chemieindustrie. Das Geschäftsportfolio hat Kullmann seit seinem Antritt als CEO 2017 kräftig umgebaut: Milliardenbeträge wurden in die lukrative und wachstumsstärkere Spezialchemie investiert, vor allem in den USA und Asien. Von den Massenchemieprodukten trennt sich der Konzern.
Der letzte große Schritt dieses Umbaus steht bevor: Das Geschäft mit Saugstoffen für Windeln soll noch dieses Jahr einen neuen Eigentümer finden, mehrere Finanzinvestoren sind interessiert. Für die restlichen Einheiten der Evonik-Sparte „Perfomance Materials“ dürfte der Verkaufsprozess wegen der schwachen Konjunktur noch etwas länger dauern.
Evonik soll eine Milliarde Euro mehr Umsatz machen
Die interne Analyse bei Evonik ergab: Die Verwaltung ist diese Portfolioveränderung nicht mitgegangen und noch immer zu stark auf Deutschland konzentriert. Jetzt will Kullmann den Einheiten in den Regionen der Welt mehr Entscheidungsfreiheit geben.
„Dort werden die Märkte gemacht. Wir werden Funktionen dorthin verlagern, weil wir noch näher an den Kunden sein wollen“, sagt er. „Das ist auch aus geopolitischen Gründen notwendig, wenn die protektionistischen Tendenzen zunehmen.“ Die Zentrale in Essen werde sich voll auf die strategische Steuerung konzentrieren.
Für den 54-Jährigen ist der Komplettumbau das große Projekt seiner verbleibenden Amtszeit als Evonik-CEO. 2021 hat der Aufsichtsrat seinen Vertrag bis 2027 verlängert. Bis dann sollen die Zukunftsgeschäfte des Konzerns einen zusätzlichen Umsatz von einer Milliarde Euro machen – vor allem durch organisches Wachstum, kündigt er an.
Dazu gehören alle Geschäfte, bei denen Evonik eng mit Kunden zusammenarbeitet, die Barrieren für den Markteintritt neuer Konkurrenten hoch sind und wo der Konzern eine starke Preismacht hat. Beispiele sind Zusätze (Additive), die die Performance von Kunststoffen und Chemikalien verbessern, Inhaltsstoffe für Kosmetik, Nahrung und Pharma sowie Biotechprodukte.
Für diese komplexe Produktion braucht Evonik spezielle Ingenieure, die auch künftig in der Konzerneinheit Technology verbleiben. Alle anderen Standortdienste sollen in die drei neuen Gesellschaften übergehen. Vor allem Finanzinvestoren könnten an einer Beteiligung interessiert sein, falls sich Evonik von den Firmen trennt.
In anderen großen deutschen Chemieparks ist das längst der Fall. So haben sich Bayer und Lanxess 2019 von ihren Anteilen an Currenta getrennt, dem Betreiber der Chemieparks in Leverkusen, Krefeld und Dormagen. Käufer war der australische Infrastrukturfonds Macquarie. Currenta wurde bei der Transaktion mit 3,5 Milliarden Euro bewertet.
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