Standort-Verlagerung? Die Wildblumenwiese, wegen der Stihl angeblich Deutschland verlassen will
Ein Interview mit Nikolaus Stihl wird als „Abwanderungsdrohung“ aus Deutschland interpretiert. Dabei geht es eigentlich um etwas ganz anderes.
Die Freifläche an der Mörikestraße bereitet der Stadtverwaltung von Ludwigsburg bei Stuttgart schon seit längerem Sorgen. Genau am Übergang zwischen einem dicht bebauten Wohngebiet und einem Industrieareal im Westen der Stadt gelegen, findet sich hier seit Jahren eine unschöne Brache. Eine Fabrik, die bis 2018 in Betrieb war, dämmerte zunächst fünf Jahre lang vor sich hin, dann wurde sie abgerissen.
Das aber ist nun auch schon wieder anderthalb Jahre her, seitdem herrscht Stillstand. Immerhin, Samen für eine Wildblumenwiese wurden im vergangenen Frühjahr ausgebracht, damit die Fläche sich im Sommer nicht mehr so stark aufheizt. Inhaber der Wiese: das Unternehmen Stihl.
„Mit dem Rücken zur Wand“
Der weltbekannte Sägenhersteller hat im nahen Waiblingen seinen Sitz, produziert hier auch – noch. Unternehmenschef Nikolas Stihl nämlich, so legen es die Schlagzeilen nahe, könnte eine Verlagerung im großen Stil in Erwägung ziehen. Er „drohe mit Abwanderung“, stelle der Politik „ein Ultimatum“. Gesagt hatte Stihl der „Augsburger Allgemeinen“: „Der deutsche Standort hat innerhalb kürzester Zeit massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Wir müssen in Deutschland dringend umdrehen. Deutschland steht mit dem Rücken zur Wand.“ Nur wenn die Standortbedingungen besser würden, so Stihl weiter, könne er sich weitere Investitionen in Deutschland vorstellen. Sonst stehe eine Abwanderung an, etwa in die Schweiz, wo die Lohnkosten zehn Prozent niedriger seien.
Nicht wenige in Ludwigsburg dürften die Aufregung mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen. Geht es doch eigentlich nicht um das große Ganze, den Standort Deutschland, den Wirtschaftswettlauf der Nationen – sondern um die Zukunft der Wildblumenwiese einen Kilometer westlich des Hauptbahnhofs ihrer Stadt. 1979 hatte Stihl hier die Produktion aufgenommen, seither sind Stadt, Unternehmen und das Industriegebiet gewachsen, inzwischen ist das Gelände von Werk 5 rundum von Gebäuden und Bahngleisen umschlossen.
Und so entschloss sich das Unternehmen knapp vierzig Jahre nach Inbetriebnahme dazu, das Werk zu schließen, konzentrierte seine Ludwigsburger Tätigkeiten am Werk 7. Es gebe zwar Überlegungen, die Fläche von Werk 5 abzustoßen, so damals der Leiter der Vertriebslogistik des Konzerns, Georg Mieler zitieren. „Aber vielleicht brauchen wir es bis dahin wieder selbst.“
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Geplant im Hype
2022, mitten im Corona-bedingten Run um Elektrogeräte wie Motorsägen, schien es so weit zu sein. Der Konzern präsentierte eine Zukunftsvision, wie eine Stadt sie sich nicht schöner erträumen konnte. Auf der Fläche sollte wieder eine Produktion entstehen, Führungsschienen für Sägen sollten hier gebaut werden. Hunderte Arbeitsplätze würden entstehen, zugleich würde das Gebäude deutlich kleiner dimensioniert sein, so dass Platz für querende Fuß- und Radwege und zusätzliche Grünflächen sein würde. „Wir freuen uns sehr und sind sehr dankbar“, verbeugte sich der Oberbürgermeister Matthias Knecht artig zum Anlass der Verkündung.
Das Unternehmen Stihl begann mit der Planung, trug das alte Fabrikgebäude ab, bereite das Gelände für einen Bau vor. Knapp ein Jahr später aber, im Oktober 2023, stoppte das Unternehmen die Planungen abrupt. Der Corona-Hype war ebenso plötzlich zu Ende gegangen, wie er gekommen war. Mehr noch, es sei „deutlich geworden, dass die Umsetzung der bestehenden Vorplanung eine unerwartet hohe Investitionssumme erfordern würde“, so teilte der Konzern mit. Man werde die Planung daher neu aufsetzen. „Als Benchmark soll die Schweiz als alternativer Standort geprüft werden.“ Unmittelbare Folgen aber habe das nicht: „Da der Weiterbetrieb der bestehenden Schienenfertigung im Werk 2 in Waiblingen-Neustadt bis 2030 gesichert ist, wird zu einem späteren Zeitpunkt final über den künftigen Fertigungsstandort entschieden.“
Baukosten, Energiekosten, Personalkosten
An diesem Stand hat sich seither nichts geändert. Verhandlungen zu einer Wiederaufnahme des Plans gibt es mit der Sache betrauten Personen zufolge derzeit nicht. Kleinere Wandlungen durchlaufen allein die Argumente, die der Stihl-Konzern in der Sache aufbietet. Begründete der Konzern den Entwicklungsstopp Ende 2023 noch mit „stark gestiegenen Baukosten“ und „erheblichen Energiekosten während des Betriebs“, kam später auch das Lohnkosten-Argument hinzu. Angeblich fordere die IG Metall eine 32-Stunden-Woche für alle Angestellten am neuen Standort, hieß es im Frühjahr 2024.
Diese Forderung der Arbeitnehmer aber habe es einem Kenner des Konzerns zufolge nie gegeben. Ohnehin sei die Debatte einigermaßen aufgebauscht: Bei der Verlagerung der Fertigung der Führungsschienen gehe es de facto nur um eine einstellige Anzahl von Arbeitsplätzen. Das wiederum, so ein Sprecher des Konzerns, „können wir als Unternehmen so nicht bestätigen“.
Was jedoch zutreffe: Derzeit stehe die Frage des Standorts Ludwigsburg schlicht nicht zur Entscheidung an. „Die Entscheidung über die Investition in Ludwigsburg steht derzeit nicht zur Debatte an. Die Diskussion über den Standort Deutschland sollte zum jetzigen Zeitpunkt daher auch unabhängig von dieser Frage geführt werden.“ Für die Mitarbeiter viel wichtiger dürfte angesichts der gesamtwirtschaftlich schwierigen Lage ohnehin ein anderes Thema sein: der Vertrag über die Beschäftigungssicherung, der Ende des Jahres ausläuft.
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