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Vier Probleme, die den Rückzug aus Russland für Firmen so kompliziert machen – und eine Lösung

Mit Henkel und SAP wollen zwei weitere Dax-Konzerne ihr Russlandgeschäft einstellen. In der Praxis ist das schwierig. Doch Dr. Oetker scheint eine praktikable Lösung gefunden zu haben.

Nach langem Zögern ist nun Schluss: Henkel wird die Geschäfte in Russland einstellen, wie der Konsumgüterkonzern am Dienstag mitteilte. Kein Dax-Konzern war so stark in Russland investiert. Der Persil-Hersteller erzielte dort eine Milliarde Euro Umsatz und beschäftigte 2500 Mitarbeiter in elf Werken. „Der Umsetzungsprozess wird nun vorbereitet“, schreibt Henkel.

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Doch das ist leichter gesagt als getan. Viele Firmen, die sich infolge des Angriffskriegs aus Russland zurückziehen wollen, tun sich damit schwerer als gedacht, berichten sie dem Handelsblatt.

Die Tücken des Rückzugs drohen nun auch SAP. Der Softwarekonzern kündigte ebenfalls am Dienstag an, das Geschäft mit Bestandskunden auslaufen zu lassen. Bislang hatten die Walldorfer nur das Neugeschäft eingestellt. Die genaue Umsetzung prüft das Management aber noch. „Wir sind nicht im Verbrauchergeschäft tätig, sondern verkaufen sehr komplexe Softwarelösungen“, sagte Finanzchef Luka Mucic.

Ob Henkel oder SAP: Die Abwicklung ist „ein langwieriger Prozess, der durchschnittlich zehn bis zwölf Monate dauert“, sagt Andreas Knaul, Leiter des Russlandgeschäfts der Großkanzlei Rödl & Partner. Während der öffentliche und politische Druck und jener der eigenen Belegschaft steigt, sich aus Russland zu verabschieden, versucht Moskau, die Geschäftsaufgabe zu erschweren. „Der Beratungsbedarf der Firmen ist sehr groß“, heißt es vom Außenwirtschaftsverband Ost-Ausschuss.

Betroffene Firmen berichten vor allem von vier Problemen: Dem lokalen Management drohen Konsequenzen, die Betriebe müssen mit Vertragsstrafen rechnen, fürchten die Enteignung oder sorgen sich um ihre Beschäftigten.

Problem 1: Sorge um das lokale Management

„Man will als deutsches Unternehmen nicht damit leben müssen, dass das russische Management vor Gericht gezerrt wird, weil wir uns zurückziehen“, sagt die Führungskraft einer Produktionsfirma, die aus Sorge vor Konsequenzen anonym bleiben will. Schon Anfang März wollte das Familienunternehmen sein Russlandgeschäft beenden. Doch das ist der Firma bis heute nicht gelungen. „Man kann in Telefonaten mit dem russischen Management nicht mehr offen sprechen“, erzählt eine Führungskraft. „Beide Seiten fürchten, abgehört zu werden.“

Tatsächlich diskutiert das russische Unterhaus („Duma“) einen Gesetzesentwurf, demnach sich auch lokale Manager strafbar machen, wenn sie westliche Sanktionen befolgen. Persönliche Konsequenzen drohen laut Beobachtern auch dann, wenn sich ihr Arbeitgeber aus Russland zurückzieht. „Diese Gefahr ist für Unternehmen gerade real, es wäre das Gesetz mit den größten Auswirkungen“, sagt ein langjähriger Russlandkenner, der nicht namentlich genannt werden will. Im schlimmsten Fall müssten lokale Manager zehn Jahre in ein Straflager.

Von einer Firma aus der Autobranche heißt es dazu: „Wir wissen bei einem Rückzug nicht, ob dann der Geheimdienst vorbeikommt.“ Auch ein mittelständisches Handelsunternehmen berichtet von „strengen rechtlichen und formalen Hürden bei der Abwicklung“. Man werde dabei von den lokalen Behörden „besonders kritisch begutachtet“.

Vor diesem Hintergrund überlegen sich Firmen genau, ob sie sich zurückziehen, selbst wenn ihnen im Heimatmarkt Reputationsverluste drohen. Allerdings ist für Beobachter noch unklar, wann, ob und in welcher Form Russland das Gesetz durchsetzen wird. Aktuell drohen diesbezüglich keine Strafen.

Problem 2: Vertragliche Verpflichtungen

Wie Siemens haben viele Firmen zwar ihr Neugeschäft in Russland gestoppt, sind aber weiterhin zu Service- und Wartungszwecken vor Ort – und daran auch vertraglich gebunden. „Es gibt wesentliche rechtliche Fragen zu berücksichtigen“, teilt Siemens mit. Der Ausstieg aus bestehenden Verträgen zum Beispiel für die Zugwartung ist heikel. Solange die Sanktionen Geschäft zulassen, drohen Schadensersatzforderungen und Vertragsstrafen. Gerade Wartungsverträge werden oft über viele Jahre geschlossen, die Nichterfüllung kann sehr teuer werden.

Das Vorgehen hat für Beobachter auch Signalwirkung: So könnten sich andere autokratische Staaten überlegen, ob sie etwa weiter Züge bei Siemens bestellen, wenn der Konzern in Russland von sich aus den Service einstellen würde. Für Siemens stehen schwierige Entscheidungen an. Auch ein weiterer Rückzug aus bestehenden Verträgen werde nicht ausgeschlossen, heißt es. Es brauche Zeit, eine Lösung zu finden.

Technisch kompliziert ist der Rückzug für SAP. Verträge mit Großkunden gelten als komplex und enthalten lange Laufzeiten, die Abwicklung ist juristisch schwierig. Und Software funktioniert auch ohne Unterstützung des Herstellers, bei einigen Lösungen könne es sich gar um mehrere Jahre handeln. Unternehmen und Behörden in Russland werden die SAP-Technologie vermutlich also noch einige Zeit nutzen können – trotz des angekündigten Rückzugs.

Unter vertraglichen Verpflichtungen leidet auch Fraport. Der Frankfurter Flughafenbetreiber ist mit 25 Prozent am Airport St. Petersburg beteiligt. Fraport hat zwar seine Aktivitäten dort eingestellt, aber die Konzession verbietet einen Verkauf bis 2025. Für eine schnellere Veräußerung müsste Fraport-Chef Stefan Schulte mit den russischen Behörden verhandeln, was er aktuell nicht will. Auch eine Schenkung, bei der Russland einen dreistelligen Millionenbetrag bekommen würde, schließt er aus.

Problem 3: Drohende Enteignung

Um einen dreistelligen Millionenbetrag geht es auch bei Henkel. Auf der Hauptversammlung Anfang April begründete CEO Carsten Knobel das Festhalten am Russlandgeschäft noch mit der Gefahr, dass die russische Tochtergesellschaft von der Regierung enteignet wird. Moskau hatte erwogen, ausländische Vermögenswerte bei einem Rückzug unter treuhänderische Verwaltung zu stellen.

Ein vor Ostern in die Duma eingebrachter abgeschwächter Gesetzesentwurf sieht eine Verstaatlichung zwar nur in Ausnahmefällen vor. Allerdings können davon Firmen wie Henkel betroffen sein, die Güter des täglichen Bedarfs herstellen oder Zulieferer für strategisch wichtige Produktionen sind.

Ein Russlandkenner hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass dieses Gesetz verabschiedet wird. „Was nützt es den Russen, wenn sie ein Werk besitzen, ihnen aber die Beschäftigten und deren Qualifikationen fehlen“, fragt er. Allerdings sei in der aktuellen Lage nichts auszuschließen – die Enteignungsgefahr bestünde weiter.

Die Baumarktkette hat ihre russischen Niederlassungen geschlossen und an einen Investor verschenkt, der sie weiterbetreiben soll. Quelle: Reuters

Um dieser zuvorzukommen, hat die Baumarktkette Obi ihre 27 Märkte samt Einrichtung vor Ostern an einen Investor verschenkt, der die Marke in Russland nicht mehr nutzen darf. So wurde die Tengelmann-Tochter zwar nicht enteignet, dennoch verliert der Betrieb ein beträchtliches Vermögen. Obi erzielte in Russland fünf Prozent des Umsatzes, beschäftigte dort 4900 Mitarbeiter.

Denkbar wäre, dass ausländische Firmen einer Enteignung vorbeugen, indem sie Maschinen und Ausrüstung außer Landes bringen. Allerdings, so Jurist Knaul, habe Russland den Firmen etwa untersagt, Maschinen für die Landwirtschaft oder zur Herstellung von Lokomotiven und Industriefahrzeugen auszuführen. Infolge des neusten EU-Sanktionspakets dürfen Firmen auch keine russischen Logistikfirmen mehr beauftragen. Zudem lassen sich große Produktionswerke in der Praxis nicht in Einzelteile zerlegen und außer Landes bringen.

Problem 4: Entlassung der Beschäftigten

Ein Rückzug wird auch dadurch erschwert, weil „deutsche Unternehmen für ihre 280.000 Mitarbeiter in Russland Verantwortung tragen“, betont Ost-Ausschuss-Chef Oliver Hermes. So sagte auch Bosch-Vorstandschef Stefan Hartung im Handelsblatt: „Es geht hier nicht nur um die geschäftliche Sicht, sondern in erster Linie um unsere fürsorgliche Pflicht.“ Bosch beschäftigt in Russland 3500 Mitarbeiter. Auch andere Firmen wie etwa Gips-Hersteller Knauf oder Landmaschinenbauer Claas argumentieren, dass man vor allem wegen der Mitarbeiter weiter in Russland tätig sein wolle.

Wie heikel und aufwendig der Rückzug für Firma und Beschäftigte sein kann, zeigt das Beispiel Deutsche Telekom, die in Russland mehrere IT-Standorte betreibt. Der Konzern hatte den rund 2000 Beschäftigten kurz nach Kriegsausbruch zunächst angeboten, künftig von anderen Orten aus für die Telekom zu arbeiten.

Doch der Druck, einen vollständigen Abzug zu verkünden, stieg schnell. Am 24. März wurde dann plötzlich die Website vom Netz genommen und die Einstellung aller „Entwicklertätigkeiten“ in Russland verkündet. Derzeit verharren rund 2000 Menschen – Telekom-Beschäftigte aus Russland und deren Familien – in Hotels im türkischen Antalya. Sie sollen von dort aus in ein passendes Zielland weiterreisen. Mitarbeiter, die nicht umziehen können oder wollen, müssen das Unternehmen nun offenbar verlassen. Sie sind laut Telekom-Chef Timotheus Höttges aber in der Minderheit.

Rödl-&-Partner-Experte Knaul rät deutschen Firmen dazu, ihren russischen Beschäftigten vorerst die Gehälter weiterzuzahlen. So verfahren auch Henkel und die Telekom. Knaul sagt: Weiter Gehälter zu zahlen „signalisiert eine mögliche Rückkehr auf den russischen Markt“. Zudem könne das ein gewisser Schutz gegen die drohende Enteignung sein.

Eine Lösung: Der Fall Oetker

Für all diese Probleme scheint eine deutsche Firma eine Lösung gefunden zu haben: Dr. Oetker. Der Nahrungsmittelhersteller hat sein russisches Werk jüngst an das lokale Management veräußert. So kann Oetker den russischen Markt gesichtswahrend verlassen, zugleich Mitarbeiter und Produktion erhalten sowie Management und Assets schützen.

Zum Verkaufspreis wollten sich die Bielefelder nicht äußern. Der dürfte bei einem Management-Buy-out zwar geringer ausfallen. Doch in Anbetracht der anderen Probleme scheint dieser Verlust vernachlässigbar. Oetker hatte nach Kriegsausbruch die Exporte gestoppt, die 150 Beschäftigten in Russland hatten nur noch Backpulver und Hefe produziert.

Auch der Schweizer Großhändler Transgourmet oder die Bierhersteller Heineken und Carlsberg haben diese Lösung gewählt. Beobachter halten diese Lösung für gut durchdacht, gleichwohl sie nicht für jedes Unternehmen die richtige sein muss. Denn der Rückzug aus Russland ist vor allem eines: kompliziert.

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