Das Patriarchat schadet der Gesellschaft – und den Männern - ©getty/FXQuadro

Was Männer kosten: Wissenschaftler berechnet, dass Männer die Gesellschaft mit 63 Milliarden Euro belasten

Männer verüben 76 Prozent aller Wirtschaftsverbrechen, rauchen mehr und sind öfter in Verkehrsunfälle verwickelt. Die Rechnung zahlen alle. Ist das gerecht?

Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen im Interview mit Kristina Appel

In Deinem Buch schreibst Du, das Patriarchat koste die Gesellschaft 63 Milliarden Euro im Jahr. Wie kommst Du auf diese Summe?

Das sind die Kosten, die Männer jedes Jahr etwa durch Kriminalität, ungesunde Ernährung oder mit ihrem Verhalten im Straßenverkehr verursachen.

Hast Du konkrete Beispiele?

Aber sicher. Im Jahr 2019 waren über drei Viertel der Tatverdächtigen in der Wirtschaftskriminalität Männer. Bei den knapp drei Milliarden Euro Schaden, die dabei entstanden sind, entfallen 2,27 Milliarden, also 76 Prozent, auf Wirtschaftsverbrechen, die von Männern begangen wurden. Exemplarisch habe ich in meinem Buch den Cum-Ex-Skandal untersucht. Er ist für mich ein Symbol dafür, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Männer unter sich sind.

Warum?

Weil Cum Ex ein komplett männlich dominiertes Konstrukt ist. Die einzigen Frauen, die in diesem Skandal vorkommen, sind die, die das System zu Fall gebracht haben und jetzt die Beteiligten verklagen.

Cum Ex ist ein komplett männlich dominiertes Konstrukt.
Boris von Heesen

Wie kommt diese Summe von 63 Milliarden insgesamt zustande?

Nehmen wir zum Beispiel Gefängnisaufenthalte. Knapp 94 Prozent der Insassen in Deutschland sind Männer. Ein Tag im Knast kostet 130 Euro pro Häftling. Das macht drei Milliarden Euro im Jahr. Die Kosten, die die sechs Prozent weiblicher Häftlinge verursachen, sind davon schon abgezogen. Dann die von Männern ausgehende häusliche Gewalt. Allein die direkten Kosten belaufen sich auf 803 Millionen Euro, zu 81 Prozent sind Frauen betroffen. Das Geld geht in die Arbeit von Polizei und Justiz, Schutz in Frauenhäusern sowie medizinische und psychologische Versorgung der Opfer nach Misshandlung und Vergewaltigung.

Deine Argumentation setzt da an, wo es wehtut – beim Geld. Es sei das Schmiermittel wirtschaftlicher und politischer Prozesse und die Sprache des Patriarchats, schreibst Du. Ist Geld der Grund, warum wir das Patriarchat nicht überwinden?

Das Patriarchat ist ein wehrhaftes System. Es wurde über Generation eng gewoben und ist nur schwer zu durchdringen. Schlage mal einem BWLer, der bei McKinsey arbeitet, vor, ab jetzt mit 25 Stunden pro Woche in einer Viererspitze zu führen. Wie soll er dann noch den großen Zampano spielen?

Sexismus ist also eine Statusfrage?

Und eine Frage der Konditionierung: Die eigene Peergroup und die Medien beeinflussen unsere Wahrnehmung der Geschlechterrollen. Sie bilden deutlich mehr Helden als Heldinnen ab. Es gibt viel mehr Sportberichterstattung über Männer. Und wenn Frauen im Mittelpunkt stehen, dann als Extreme, wie bei „Germany’s Next Top Model“. Die Sendung fördert fatale Geschlechterstereotype, die in den sozialen Medien einen noch größeren Resonanzboden finden.

Wie durchbrechen wir das Patriarchat?

Wir müssen betonen, welche Vorteile es hat, wenn wir in Wirtschaft und Gesellschaft divers aufgestellt sind. Wir müssen zeigen, dass gemischte Teams innovativer sind und deutlich weniger Start-ups in Frauenhand insolvent gehen. Genauso müssen wir darüber sprechen, was passiert, wenn Männer unter sich bleiben, wie im Cum-Ex-Fall.

Was treibt die Männer, über die Du recherchiert hast, an?

Status- und Konkurrenzdenken. Man(n) möchte möglichst hohes Ansehen genießen. Das bildet sich auch beim Kraftfahrt-Bundesamt ab: Fahrzeuge über 450 PS werden zu 97 Prozent auf Männer zugelassen. Und ich würde die These aufstellen, dass der Rest aus rein steuerlichen Gründen auf die Partnerin zugelassen wurde.

Fahrzeuge über 450 PS werden zu 97 Prozent auf Männer zugelassen.
Boris von Heesen

Du arbeitest als Krisenberater für Männer: Erkennen Deine Klienten diese Muster und reflektieren sie?

Vielen Männern fehlt der Resonanzraum, um diese Phänomene kritisch zu hinterfragen. Ihnen fehlt der Zugang zur eigenen Gefühlswelt und zu Fragen wie „Wie geht es mir? Habe ich Angst? Bin ich verunsichert?“. Wenn ich mich selbst nicht spüre, dann spüre ich auch nicht, wie es anderen geht. So entsteht diese Skrupellosigkeit, die bei Cum Ex oder Wirecard sichtbar wurde.

Warum sind so viele Männer so vehement gegen eine Quote?

Viele Männer empfinden, dass ihnen durch die Quote etwas genommen wird. Es bleiben weniger Führungspositionen, weniger Plätze am Tisch für sie übrig, und sie können nicht mehr Mansplaining-Monologe abhalten. Der Soziologe Michael Kimmel hat hier den Begriff „kränkende Enteignung“ geprägt. Und das ist der Preis für mehr Gerechtigkeit in ihren Augen: Enteignung. Das Ganze ist also mit Unsicherheit und Angst verbunden.

Was würde sich für Männer in einem gerechteren System verbessern?

Das Patriarchat benachteiligt nicht nur Frauen, sondern auch Männer – etwa wenn Männern vor Familiengerichten nicht zugetraut wird, dass sie für ihre Kinder sorgen können. Oder wenn Männer sich in die Versorgerrolle gedrängt fühlen.

Das Patriarchat benachteiligt nicht nur Frauen, sondern auch Männer.
Boris von Heesen

Auch machtvolle Frauen agieren in patriarchalen Strukturen. Wie kann also ein Gegenentwurf zum aktuellen System aussehen?

Als Wirtschaftswissenschaftler bin ich für freie Märkte und freies Handeln. Aber ich bin der Meinung, dass wir unser kapitalistisches System differenzierter betrachten und besser steuern müssen. Wo der Markt versagt, muss der Staat eingreifen. Es gibt so viele Abstufungen zwischen: „Der Markt regelt das“ und „Der Staat regelt alles“.

Wie soll der Staat denn konkret eingreifen, um das Patriarchat zu überwinden?

Zunächst würde es Sinn machen, die Zahlen, die das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in vielen Statistiken abbilden, regelmäßig prominent der Öffentlichkeit zu präsentieren. Erst wenn die Menschen in dieser Gesellschaft wissen, wo etwas schiefläuft, können sie sich für notwendige staatliche Eingriffe öffnen. Noch schlummern die Daten leider in den Tabellenbänden von Bundeskriminalamt, Kraftfahrt-Bundesamt oder Destatis.

Und längerfristig?

Im zweiten Schritt brauchen wir Maßnahmen, um ungesunde Geschlechterstereotype zu durchbrechen. Werdende Eltern müssen durch Informationskampagnen über die Macht der Rollenklischees aufgeklärt werden. Erzieher·innen und Lehrer·innen müssen in ihren Ausbildungen viel stärker sensibilisiert werden. Der Macht der Medien, besonders der sozialen Medien, muss ein staatliches, aufklärendes Gegengewicht entgegengesetzt werden. Das wird lange dauern – bis zu zwei Generationen – und viel kosten, aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnen wird.

Wie würdest Du die 63 Milliarden Euro investieren, wenn Du sie vor dem Patriarchat retten könntest?

Ich würde in Bildungsgerechtigkeit investieren und so helfen, schon ganz früh in der Entwicklung unserer Kinder existente Rollenstereotype aufzubrechen. Damit am Ende mehr Frauen vollkommen selbstverständlich in Vollzeitbeschäftigung und Führungspositionen arbeiten können. Dann hätten wir in den einflussreichen Posten unserer Gesellschaft keine Männer, denen man eingeflüstert hat, sie müssten unbedingt am großen Rad drehen, ob sie nun dafür geeignet sind oder nicht. Wir hätten dort Menschen – Männer und Frauen –, die der Aufgabe tatsächlich auch gewachsen sind.

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Unser Gesprächspartner

Boris von Heesen (1969) ist Autor und arbeitet in der Männerberatung
Boris von Heesen (1969) ist Autor und arbeitet in der Männerberatung

Boris von Heesen ist Wirtschaftswissenschafter und Gründer eines der ersten deutschen Online-Marktforschungsinstitute. Heute arbeitet er als Berater für Männer in Krisensituationen und geschäftsführender Vorstand eines Jugendhilfeträgers. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich als Autor und Referent mit dem Thema kritische Männlichkeit.

„Was Männer kosten“ von Boris von Heesen ist im Mai 2022 bei Heyne erschienen, 304 Seiten, 18 €
„Was Männer kosten“ von Boris von Heesen ist im Mai 2022 bei Heyne erschienen, 304 Seiten, 18 €

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