Wenn Menschen von Maschinen lernen
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Unternehmen revolutionieren ihre Ausbildungsmethoden: Immer öfter setzen sie auf künstliche Intelligenz und Robotertechnik statt auf Mentoring und Lernen am Arbeitsplatz. Doch nur durch die geschickte Kombination von Altem und Neuem wird ein echtes Lern- und Lehrkonzept daraus.
Von****Matt Beane
Es ist 6.30 Uhr morgens: Kristen, Assistenzärztin und Chirurgin in Ausbildung, schiebt gerade einen Prostatapatienten in den Operationssaal. Sie hofft, heute selbst einen Teil des heiklen Eingriffs vornehmen zu können. Das Operationsverfahren zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es die Nerven im operierten Bereich möglichst wenig beeinträchtigt. Der behandelnde Arzt steht neben Kristen, und ihre vier Hände arbeiten fast die ganze Zeit im Körper des Patienten. Unter den prüfenden Blicken des Arztes bestimmt Kristen das Vorgehen während des Eingriffs. Die Arbeit verläuft ohne Komplikationen, der Chirurg zieht sich zurück, damit Kristen den operierten Bereich gegen 8.15 Uhr verschließen kann. Ein junger Assistenzarzt sieht ihr dabei über die Schulter und darf am Ende die letzte Reihe der Nähte ausführen. Kristen fühlt sich großartig: Dem Patienten wird es bald wieder gut gehen. Und sie selbst ist eine bessere Chirurgin als noch vor zwei Stunden.
Spulen wir sechs Monate vor. Wieder ist es 6.30 Uhr. Kristen schiebt einen anderen Patienten in den Operationssaal, diesmal jedoch für eine robotergestützte Prostataoperation. Der behandelnde Arzt richtet den 500 Kilogramm schweren Roboter für den Eingriff aus. Er bringt jeden der vier Arme am Patienten in die richtige Position. Dann nehmen Kristen und er ihre Plätze an einem Überwachungsmonitor ein, der rund einen halben Meter entfernt steht. Beide Ärzte sitzen mit dem Rücken zum Patienten, und Kristen sieht zu, wie der behandelnde Kollege den Roboterarm via Fernsteuerung bewegt, der das Gewebe vorsichtig zurückzieht und schließlich entfernt. Mithilfe des Roboters kann der behandelnde Arzt die gesamte Operation allein durchführen. Das tut er auch zum größten Teil. Er weiß zwar, dass Kristen Praxiserfahrung sammeln muss. Aber er weiß auch, dass sie langsamer arbeiten und mehr Fehler machen würde. Daher darf sie schon froh sein, wenn sie bei dem vierstündigen Eingriff mehr als 15 Minuten selbst operieren darf. Ihr ist bewusst: Wenn sie patzt, tippt er einfach auf einen Touchscreen und übernimmt sofort wieder die Kontrolle, während sie für alle anderen sichtbar nur noch Zuschauerin sein wird.
Die Chirurgie ist kein Beruf wie jeder andere. Dennoch erlernten Chirurgen ihren Job genauso wie die meisten von uns auch: Anfangs sahen wir einem Experten bei der Arbeit zu. Nach einiger Zeit wurden wir bei einfacheren Aufgaben einbezogen und gingen danach zu anspruchsvolleren, häufig risikoreicheren Aufgaben über. Dabei standen wir so lange unter der strengen Beobachtung von Experten, bis wir schließlich selbst zu Fachleuten wurden. Für diesen Prozess gibt es ganz unterschiedliche Begriffe: Ausbildung, Mentoring, informelles Lernen, Training on the Job. In der Chirurgie heißt das Motto bei der Ausbildung nach dem renommierten amerikanischen Chirurgen William Stewart Halsted "See one, do one, teach one" (eine Operation sehen, eine durchführen, eine lehren).
Obwohl es für Unternehmen enorm wichtig ist, wird Lernen in der Praxis vielerorts als selbstverständlich erachtet. Es wird kaum offiziell gefördert oder organisiert. Nur ein kleiner Teil der schätzungsweise 366 Milliarden US-Dollar, die 2018 weltweit für eine formelle Ausbildung ausgegeben wurden, kam direkt dem Lernen am Arbeitsplatz zugute. Dabei zeigen die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte: Die vom Arbeitgeber gewährte Ausbildung ist wichtig. Allerdings wird der Löwenanteil der für die Aufgabe wichtigen Fähigkeiten ausschließlich über die Praxis erlernt. Für die meisten Unternehmen ist das Lernen am Arbeitsplatz daher unverzichtbar. Eine Umfrage des Beratungsunternehmens Accenture aus dem Jahr 2011 – die aktuellste in Art und Umfang – ergab, dass nur einer von fünf Arbeitnehmern in den fünf vorangegangenen Jahren neue berufliche Fertigkeiten durch formale Ausbildung erlernt hatte.
Trotzdem ist Lernen am Arbeitsplatz inzwischen bedroht. Der rasend schnelle Einzug von hoch entwickelten analytischen Methoden, künstlicher Intelligenz (KI) und Robotik in viele Arbeitsbereiche verdrängt diesen altbewährten und effektiven Ansatz nahezu vollständig. Zehntausende Menschen werden jedes Jahr ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die neuen Technologien Arbeitsabläufe automatisieren. Sie werden aber auch Zehntausenden Menschen neue Jobs bescheren. Klar scheint zudem: Mehrere Hundert Millionen Arbeitnehmer werden neue Fertigkeiten und Arbeitsweisen erlernen müssen. Doch vieles weist darauf hin, dass der Einsatz intelligenter Maschinen in Unternehmen das Lernen durch Training on the Job häufig behindert: Meine Kollegen und ich stellten fest, dass diese Entwicklung Lernende von Lernchancen und Experten von der Praxis entfernt. Alte und neue Methoden gleichzeitig zu bewältigen überfordert sowohl die eine wie die andere Gruppe.
Wie also werden Mitarbeiter Erfahrung mit der Arbeit an der Seite von intelligenten Maschinen sammeln können? Erste Hinweise ergibt die Beobachtung von Lernenden, die sich in Grauzonen oder an der Grenze des Erlaubten bewegen. Diese Form der Ausbildung wird allerdings nur aufgrund der Ergebnisse toleriert, die sie erbringt. Ich bezeichne diese weitverbreitete, inoffizielle Methode als Schattenlernen.
Ich entdeckte das Schattenlernen während der zwei Jahre, in denen ich Chirurgen und chirurgische Assistenzärzte in 18 als besonders gut beurteilten US-Lehrkrankenhäusern bei der Arbeit beobachtete. Ich untersuchte das Lernen und die Ausbildung in zweierlei Umgebungen: der traditionellen und der robotergestützten Chirurgie. Dabei sammelte ich Daten zu den Herausforderungen, die robotergestützte Chirurgie für erfahrene Chirurgen, angehende Fachärzte, Pflegepersonal und chirurgisch-technische Assistenten (die die Patienten vorbereiten, den Chirurgen beim Anlegen der Handschuhe und der Schutzkleidung helfen oder etwa Instrumente anreichen) darstellt. Besonders interessierte mich die kleine Gruppe angehender Fachärzte, die neue, regelüberschreitende Wege des Lernens entwickelt hatten. Obwohl sich meine Untersuchungen auf die Chirurgie konzentrierten, ging es mir eigentlich darum, Dynamiken des Lernens und der Ausbildung ausfindig zu machen, die auch anderswo beim Arbeiten mit intelligenten Maschinen auftreten.
Zu diesem Zweck nahm ich Kontakt zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern auf, die via Feldforschung untersuchen, wie Menschen mit intelligenten Maschinen zusammenarbeiten. Die von mir angesprochenen Forscher hatten ihre Erkundungen in Internet-Start-ups und Strafverfolgungsbehörden, im Investmentbanking und im Bereich des Onlineunterrichts angestellt. Ihre Arbeiten zeigen ähnliche Entwicklungen, wie ich sie in der Chirurgenausbildung beobachtet habe. Bei der Auswertung der Forschungsergebnisse stieß ich auf vier Hindernisse, die das Erlernen von erforderlichen Fertigkeiten behindern. Alle von ihnen fördern Schattenlernen.
Die Ausbildung von Mitarbeitern kann Kosten verursachen und Qualität mindern, denn Neulinge sind in der Regel langsamer und machen mehr Fehler. Wenn Unternehmen intelligente Maschinen einsetzen, lassen sie Berufsanfänger bei risikoreichen und komplexen Arbeitsabschnitten oft außen vor. Das erlebte auch die angehende Chirurgin Kristen. Indes: Arbeitgeber verhindern auf diese Weise, dass Neulinge in Situationen kommen, die ihre Fähigkeiten zwar übersteigen, die sie aber mit der entsprechenden Unterstützung gemeistert hätten. Damit verhindern die Unternehmen genau jene Erfahrungen, die beim Erwerb neuer Fertigkeiten unverzichtbar sind.
Im Investmentbanking lässt sich dieses Phänomen ebenfalls beobachten. Callen Anthony von der Universität New York stellte fest, dass Junioranalysten umso weniger Kontakt zu Seniorpartnern in einer Firma hatten, je stärker die Partner auf algorithmusgestützte Unternehmensbewertungen bei M&As setzten. Die Junioranalysten durften lediglich Rohdaten zu den Unternehmen beisteuern. Dabei halfen ihnen Filtersysteme, die das Internet nach Finanzinformationen durchforsteten. Die Absicht hinter dieser Arbeitsteilung? Erstens wollte man das Risiko verringern, dass die jungen Leute bei anspruchsvollen Aufgaben Fehler machten, die von der Kundschaft bemerkt werden könnten. Zweitens ging es darum, die Effizienz der Seniorpartner zu steigern: Je weniger Zeit sie brauchten, um ihren jungen Mitarbeitern die Arbeit zu erklären, desto länger konnten sie sich den herausfordernden Analysen widmen. Kurzfristig steigerte diese Aufgabenverteilung die Effizienz tatsächlich. Sie sorgte allerdings dafür, dass junge Analysten nur wenig Erfahrung mit anspruchsvollen und komplexen Tätigkeiten sammeln konnten. Das machte es deutlich schwieriger für sie, den gesamten Bewertungsprozess zu erlernen, und schadete zudem ihrer künftigen Fachkompetenz.
Manchmal stehen die intelligenten Maschinen zwischen Berufsanfängern und ihrer Arbeit. In anderen Fällen werden sie so eingesetzt, dass die Fachleute daran gehindert werden, wichtige Arbeiten eigenhändig auszuführen. Bei der robotergestützten Chirurgie können die operierenden Ärzte den Körper des Patienten oder den Roboter während des größten Teils des Eingriffs nicht sehen. Sie können damit wichtige Teile des Vorgangs nicht unmittelbar beurteilen oder direkt eingreifen. In der traditionellen Chirurgie nimmt der Chirurg zum Beispiel genau wahr, wie Geräte und Instrumente auf den Körper des Patienten einwirken. Er kann dies sehr genau abstimmen. Bei der robotergestützten Chirurgie merkt der Arzt jedoch nicht, wenn ein Roboterarm an den Kopf des Patienten stößt oder ein chirurgisch-technischer Assistent gerade dabei ist, das falsche Roboterinstrument anzureichen. Es sei denn, er wird von jemand anders darauf aufmerksam gemacht. Das bedeutet zweierlei für den Lernprozess: Chirurgen können selbst nicht die Fähigkeiten einüben, die sie brauchen, um ein ganzheitliches Gespür für ihre Arbeit zu entwickeln. Und sie müssen sich neue Fähigkeiten aneignen, um ihre Arbeit einzuschätzen, indem sie die Reaktionen anderer beobachten.
Benjamin Shestakofsky, der inzwischen an der University of Pennsylvania forscht, hat ein ähnliches Phänomen bei einem Start-up aus dem Pre-IPO-Handel beschrieben. Das Unternehmen setzte maschinelles Lernen ein, um Arbeitern aus der Region Jobs zu vermitteln. Die Plattform des Start-ups ermöglichte es Arbeitkräften und Unternehmen, die jeweils für sie passenden Angebote zu finden und die Bedingungen der Zusammenarbeit auszuhandeln. Anfangs passten die vom Algorithmus vorgeschlagenen Verbindungen allerdings nicht besonders gut mit den tatsächlichen Anforderungen zusammen. Daher engagierte das Management in San Francisco Mitarbeiter auf den Philippinen, die jeden einzelnen Vermittlungsvorgang manuell durchführen sollten. Wenn Arbeiter Schwierigkeiten mit der Plattform hatten – etwa wenn sie Auftraggebern mitteilen wollten, wie viel sie für ihre Arbeit verlangten, oder wenn es um die Abwicklung der Bezahlung ging –, bekamen sie Unterstützung von einer Gruppe von Mitarbeitern aus Las Vegas. Angesichts der knappen Ressourcen scheint dieses Vorgehen verschwenderisch. Aber das Management des Start-ups versuchte dadurch Zeit zu gewinnen, um Geld einzuwerben und zusätzliche Ingenieure anzuheuern. Beides wurde dringend gebraucht, um das Produkt zu perfektionieren. Das Auslagern der Aufgaben ermöglichte es den Managern und Ingenieuren, sich auf die Geschäftsentwicklung und Programmierung zu konzentrieren. Es brachte sie aber um wichtige Lernchancen: Es verhinderte den direkten und regelmäßigen Kontakt zu den Kunden und beschränkte so den Input bei Problemen oder Funktionen, die sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber wünschten.
Robotergestützte Chirurgie nutzt radikal andere Techniken und Technologien als die traditionelle Chirurgie. Weil sie höhere Präzision und bessere Ergonomie versprach, wurden die Lehrpläne entsprechend ergänzt. Von den angehenden Fachärzten wurde erwartet, dass sie sowohl das robotergestützte Operieren wie auch die traditionellen Ansätze lernten. Allerdings sah das Curriculum nicht genügend Zeit vor, um beides gründlich zu trainieren. Dies hatte oft genug ein Worst-Case-Szenario zur Folge: Die jungen Chirurgen beherrschten keines der beiden Verfahren wirklich. Ich bezeichne dieses Problem als methodische Überfrachtung.
Shreeharsh Kelkar von der University of California in Berkeley hat beobachtet, dass vielen Professoren, die die neue Technologiepattform edX zur Entwicklung von Massive Open Online Courses (MOOCs) nutzten, ganz Ähnliches passierte. edX stellte ihnen eine Auswahl an Tools zum Aufbau und Design ihrer Kurse zur Verfügung. Zudem gab edX erklärende Hinweise, die auf einer ausgefeilten Analyse der Interaktion von Studenten mit der Plattform beruhten. Dazu gehörten Klicks, Posts oder Pausen bei der Wiederholung von Videos.
Professoren, die Onlinekurse entwickeln oder verbessern wollten, mussten sich dafür etliche neue Fertigkeiten aneignen. Sie mussten lernen, wie die Navigation auf der edX-Benutzeroberfläche funktionierte, wie sich die analytischen Angaben zum Lernverhalten interpretieren ließen oder wie das passende Projektteam für einen speziellen Kurs zusammengestellt und geleitet werden sollte. Gleichzeitig mussten die Lehrkräfte dafür Sorge tragen, dass sie ihre Kompetenzen für den traditionellen Unterricht weiterhin auf dem neuesten Stand hielten.
In diesem Spannungsfeld zu agieren war für alle Beteiligten anstrengend – vor allem weil sich die Ansätze ständig weiterentwickelten. Beinahe täglich wurden neue Tools und Funktionen ergänzt, parallel dazu stiegen die Erwartungen an die Lehrenden. Die Einzigen, die mit den alten wie den neuen Methoden gleichermaßen gut zurechtkamen, waren Professoren, die technisch versiert waren und über große organisatorische Fähigkeiten und Unterstützung dabei verfügten.
Jahrzehntelange Forschung und Tradition verpflichten den medizinischen Nachwuchs auf die althergebrachte Methode "See one, do one, teach one". Doch wie wir gesehen haben, passt sie nicht mehr zur robotergestützten Chirurgie. Der Druck, auf bewährte Lernverfahren zu vertrauen, ist trotzdem so stark, dass nur selten davon abgewichen wird: Wissenschaftliche Untersuchungen zur Chirurgenausbildung, Standardroutinen, Richtlinien und leitende Chirurgen – sie alle beharren weiterhin auf traditionellen Lernansätzen. Und dies, obwohl die herkömmliche Methode dringend ein Update zur robotergestützten Chirurgie bräuchte.
Sarah Brayne von der University of Texas beobachtete ein ähnliches Missverhältnis zwischen Lernmethoden und tatsächlichen Anforderungen bei Polizeichefs und Einsatzkräften in Los Angeles. Dort wurden traditionelle Ansätze der Polizeiarbeit angewendet, um die von einem Algorithmus vorgegebenen Einsätze im Rahmen der sogenannten vorausschauenden Polizeiarbeit abzuarbeiten. Obwohl die Effektivität der neuen Methode nicht eindeutig zu belegen und ethisch umstritten ist, vertrauen Dutzende Polizeibehörden zunehmend darauf. Das vom Los Angeles Police Department (LAPD) eingesetzte System des PredPol (Kurzform von Predictive Policing; ins Deutsche übersetzt: vorausschauende Polizeiarbeit – Anm. d. Red.) teilt die Stadt in 150 mal 150 Meter große Quadrate oder sogenannte Boxen ein. Jeder Box wird dabei eine bestimmte Verbrechenswahrscheinlichkeit zugeordnet. Deren Höhe entscheidet darüber, wie viele Einsatzkräfte in das jeweilige Gebiet geschickt werden.
Brayne stellte fest, dass es bisweilen weder für Einsatzkräfte noch Polizeichefs nachvollziehbar war, wann und wo sie ihren KI-gestützten Einsätzen folgen sollten. Im Polizeiwesen bestand die traditionelle und weithin anerkannte Lernmethode aus der Kombination eines großen Anteils altmodischen Lernens auf Streife und eines eher kleinen Teils theoretischer Unterweisung. Daher gingen viele Polizeichefs davon aus, dass die Einsatzkräfte bei der praktischen Arbeit am besten lernen könnten, wie sich die Verbrechenswahrscheinlichkeiten in ihre Aufgaben integrieren lassen würden. Die Verquickung von Einsatzgebieten, die von der KI bestimmt wurden, und Lernen direkt am Arbeitsplatz erhöhte die Verwirrung und den Widerstand gegen das neue Instrument und seine Vorgaben zusätzlich.
Es half auch nicht, dass es die Polizeichefs vermieden, ihren Einsatzkräften zu sagen, was sie in der Box tun sollten, für die sie der Algorithmus eingeteilt hatte. Dies sollten die Polizisten nach Ansicht ihrer Vorgesetzten vor Ort aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Urteilsvermögens selbst entscheiden. Dass sie auf Anweisungen verzichteten, hatte jedoch noch weitere Gründe: Die Chefs wollten ihre Leute nicht dadurch irritieren, dass sie deren Autonomie allzu offensichtlich einschränkten. Zudem wollten sie nicht als Vorgesetzte erscheinen, die ihre Mitarbeiter bis in Detail kontrollierten.
Dadurch, dass sie am traditionellen Ansatz des Lernens am Arbeitsplatz festhielten und den neuen nicht vollständig erklärten, sabotierten viele Polizeichefs den Lernvorgang, ohne es zu wollen. Viele Einsatzkräfte verstanden nicht, wie sie PredPol oder seine potenziellen Vorteile nutzen sollten, und machten keinen Gebrauch davon. Die Krux: Sie wurden trotzdem an der Umsetzung der Systemvorgaben gemessen. So wurde viel Zeit verschwendet und Vertrauen zerstört. Weil zudem die Kommunikation nur eingeschränkt funktionierte und Daten falsch ins System eingegeben wurden, litt am Ende ein erheblicher Teil der Polizeiarbeit darunter.
Angesichts dieser Hindernisse beugen und brechen Schattenlerner im Verborgenen die Regeln, um die Unterstützung und Erfahrung zu erlangen, die sie brauchen. Das überrascht nicht. Schon vor fast 100 Jahren zeigte der Soziologe Robert Merton: Wenn die zulässigen Mittel nicht länger taugen, um das gewünschte Ziel zu erreichen, kommt es zu Abweichungen. Fachliche Expertise – das vielleicht wichtigste berufliche Ziel überhaupt – bildet hier keine Ausnahme. Angesichts der beschriebenen Hindernisse ist es nur allzu vorhersehbar, dass Menschen sich andere Wege suchen, um für sie wichtige Fertigkeiten zu erlernen. Oft gehen sie dabei überaus einfallsreich und zielgerichtet vor. Sie müssen dafür jedoch unter Umständen einen persönlichen oder unternehmerischen Preis zahlen: Schattenlerner setzen sich dem Risiko von Sanktionen aus und gefährden dadurch zum Beispiel die Chance auf Praxis oder Status. Und selbstverständlich kommt es vor, dass sie Ressourcen verschwenden oder Schaden anrichten. Dennoch nehmen Menschen immer wieder diese Gefahren in Kauf. Sie haben gelernt: Ihre Methoden funktionieren dort gut, wo offiziell gebilligte Methoden scheitern. Grundsätzlich ist es zwar nicht zu empfehlen, diese abweichenden Praktiken ungeprüft zu übernehmen – dennoch können Unternehmen durchaus von ihnen lernen.
Folgende Ansätze des Schattenlernens haben andere und ich selbst beobachtet:
Wir erinnern uns, dass Nachwuchschirurgen am Roboter häufig nur wenig Zeit zum Üben haben. Schattenlerner umgehen dies, indem sie jede Gelegenheit nutzen, an die Grenzen ihrer Fähigkeiten zu gehen. Dabei arbeiten sie am liebsten möglichst unbeobachtet. Sie wissen, dass sie sich bewähren müssen, wenn sie etwas lernen wollen. Sie wissen aber auch, dass viele diensthabende Ärzte ihnen kaum Gelegenheit dazu geben. Die Untergruppe der von mir beobachteten Assistenzärzte fand Wege, um sich Zeit an den Robotern zu verschaffen und zu Experten zu werden. Eine ihrer Strategien bestand darin, möglichst mit Ärzten zusammenzuarbeiten, die selbst keine Experten beim Einsatz intelligenter Maschinen waren. Assistenzärzte aus der Urologie – dem Fachgebiet mit der weitaus größten Erfahrung mit robotergestützten Operationen – wechselten daher in Abteilungen, in denen die behandelnden Ärzte weniger versiert darin waren. So konnten die Assistenzärzte den Halo-Effekt ihrer elitären (wenn auch eingeschränkten) Ausbildung nutzen: Den behandelnden Ärzten in den anderen Abteilungen fielen Qualitätsabweichungen bei der robotergestützten chirurgischen Arbeit nicht so schnell auf. Zudem gingen sie davon aus, dass die urologischen Assistenzärzte von wirklichen Fachleuten aus der Praxis ausgebildet wurden. Daher ließen sie sie eher operieren und fragten sie sogar um Rat. Allerdings würde wohl niemand behaupten, dass dies ein optimaler Lernansatz sei.
Und was ist mit den Junioranalysten, die von den komplexen Bewertungen ausgeschlossen worden waren? Eine Gruppe von Berufsanfängern und Partnern praktizierte Schattenlernen, indem sie die neue Arbeitsteilung ignorierte und weiterhin zusammenarbeitete. Die Junioranalysten riefen zwar auch Rohdaten ab, um für den nötigen Input für die Auswertungen zu sorgen. Sie arbeiteten aber im nächsten Schritt eng mit den Seniorpartnern zusammen, um die Analysen zu erstellen.
Diese Art der Arbeitsaufteilung birgt natürlich Risiken. Tatsächlich brauchte die Gruppe für die Abläufe länger. Zudem schlichen sich Fehler ein, weil die Junioranalysten eine große Bandbreite an Bewertungsmethoden und Berechnungen in halsbrecherischem Tempo handhaben mussten. Die Suche danach gestaltete sich ziemlich aufwendig und kostete Zeit. Dennoch entwickelten die jungen Analysten auf diese Weise umfassenderes Wissen. Sie lernten nicht nur die verschiedenen Branchen und die unterschiedlichen Unternehmen kennen, sondern erfuhren auch, welche Interessengruppen im Rahmen von M&As besonders wichtige Rollen spielten.
Darüber hinaus übten sie sich darin, den gesamten Bewertungsprozess zu steuern. Anstatt nur als Rädchen in einem System zu funktionieren, das sie nicht verstanden, arbeiteten sie daran, komplexe Aufgaben zu lösen. Das versetzte sie in die Lage, sehr bald schon anspruchsvollere Aufgaben zu übernehmen. Es gab sogar noch einen weiteren Vorteil: Die jungen Kollegen stellten fest, dass die unterschiedlichen Softwarepakete für die Erstellung der Inputs bei bestimmten Unternehmen abweichende Bewertungen hervorbrachten – zum Teil lagen diese etliche Milliarden Dollar auseinander. Wären die Analysten in ihren Silos geblieben, wäre dies wohl niemals ans Licht gekommen.
Wie bereits beschrieben, sind die Patienten bei der Operation mit Robotern so weit vom Chirurgen abgeschirmt, dass der Arzt keinen ganzheitlichen Eindruck von seiner Arbeit bekommt. Assistenzärzte haben es dadurch schwer, die Fähigkeiten zu erwerben, die sie brauchen. Um den Gesamtzusammenhang verstehen zu können, wenden sie sich deshalb öfter an die OP-Helfer, die den kompletten Vorgang beobachten können. Die OP-Assistenten haben den gesamten Körper des Patienten im Blick, sehen die Position und Bewegung der Roboterarme, die Aktivitäten der Anästhesisten und des Pflegepersonals. Außerdem kontrollieren sie sämtliche Instrumente und Hilfsmittel vom Anfang bis zum Ende des Eingriffs.
Besonders versierte OP-Assistenten haben bereits Tausende von Operationen aufmerksam verfolgt. Wenn die Assistenzärzte vom Monitor an die OP-Liege treten, wenden sie sich deshalb lieber an die OP-Helfer anstatt an den behandelnden Arzt. Sie stellen ihnen Fachfragen, etwa ob der vorliegende intraabdominale Druck ungewöhnlich ist. Oder wann ein OP-Bereich von Flüssigkeit oder dem Rauch durch Ausbrennen gereinigt werden soll. Das tun sie entgegen den Vorschriften und häufig ohne dass es die behandelnden Ärzte mitbekommen.
Und wie sieht es bei den Start-up-Managern aus, die die Aufgaben an Mitarbeiter auf den Philippinen und in Las Vegas ausgelagert haben? Von ihnen war erwartet worden, dass sie sich darauf fokussierten, Kapital zu beschaffen und Ingenieure einzustellen. Dennoch verbrachten einige von ihnen Zeit mit dem fernab angeheuerten Hilfspersonal. Sie wollten erfahren, wie und warum es bestimmte Kontakte und Verbindungen zwischen Arbeitern und Auftraggebern herstellte. Das führte zu Einsichten, die dem Unternehmen halfen, Abläufe beim Akquirieren und Bereinigen der Daten zu verfeinern – ein wesentlicher Schritt, um eine stabile Plattform zu schaffen. Einige Manager fuhren auch in das Kundenservicecenter in Las Vegas. Sie nutzten die Besuche, um in Gesprächen mit den Mitarbeitern vor Ort herauszufinden, welche Probleme und Wünsche die Kunden hatten. Diese Informationen veranlassten sie, Ressourcen anders einzusetzen, etwa zur Verbesserung der Benutzeroberfläche. Das half dem Start-up, neue Nutzer zu gewinnen und Ingenieure anzuheuern, die die so wichtigen stabilen Systeme fürs Maschinenlernen bauen konnten.
Die neuen Arbeitsmethoden, die den Einsatz von intelligenten Maschinen ermöglichen, fördern häufig auch die verschiedenen Taktiken des Schattenlernens. Das strukturiert die Arbeit neu, manchmal verändert es auch Bemessung und Belohnung von Leistung.
Eine Assistenzärztin in der Chirurgie könnte sich beispielsweise dafür entscheiden, ihren turnusmäßigen Einsatz am Roboter so gering wie möglich zu halten. Vor allem wenn sie davon ausgeht, dass sie als ausgebildete Fachärztin keine robotergestützte Chirurgie anwenden wird.
Einige der von mir beobachteten Krankenpfleger bevorzugten die technische Fehlersuche, die eine robotergestützte Aufgabe mit sich bringt, und umgingen daher heimlich traditionelle chirurgische Einsätze. Die Kollegen, die für die Einsatzplanung zuständig waren, berücksichtigten die entstehenden Vorlieben und Fähigkeiten und umgingen damit pauschale Besetzungsrichtlinien, um ihren Kollegen einen Gefallen zu tun. So verändern Menschen stillschweigend ihr Rollen- und Aufgabenverständnis, um es besser auf ihre Arbeit abzustimmen – unabhängig davon, ob dies den offiziellen Regelungen des Unternehmens entspricht.
Lassen Sie uns nun schauen, wie sich die Erwartungen der Polizeichefs an den Teil der Mitarbeiter veränderten, die vorausschauende Analytiken nicht einsetzten. Brayne stellte fest, dass viele Polizisten, die in den PredPol-Boxen patrouillierten, nach herkömmlichen Maßstäben weniger produktiv zu sein schienen. Das legte jedenfalls die Zahl der Verhaftungen, Vorladungen und Aufzeichnungen der Einsatzkräfte zu Kontakten mit verdächtig erscheinenden Bürgern nahe. Diese Art von Kontakten sind in der auf künstliche Intelligenz gestützten Polizeiarbeit besonders wichtig: Sie liefern den entscheidenden Dateninput – selbst dann, wenn es nicht zu Verhaftungen kommt. Wenn sich Polizisten in den Gebieten aufhielten, in die sie das System geschickt hatte, kam es oft vor, dass sie weder jemanden festnahmen noch Tickets oder Kontaktprotokolle schrieben.
Nach einer Weile erkannten die Chefs, dass es die im Laufe vieler Jahre gelernten Methoden waren, die Streifenpolizisten davon abhielten, den Empfehlungen des PredPol-Systems zu folgen. Einige wichen deshalb von einer der üblichen Gepflogenheiten ab: Anstatt Polizisten öffentlich für die Zahl ihrer Verhaftungen oder Vorladungen zu loben, lobten sie sie dafür, dass sie nach den Vorgaben des Algorithmus arbeiteten. Ein ranghoher Vorgesetzter formulierte es so: "Gut: Wenn wir Ihnen sagen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Delikts an einem bestimmten Ort gegeben ist, bleiben Sie einfach dort. Falls Sie dann mit einem Wert von null [kein Verbrechen] in die Dienstelle zurückkommen, ist das ein Erfolg." Indem sie öffentlich hervorhoben, was von vielen als schlechte Polizeiarbeit betrachtet wird, gingen diese Führungskräfte ein Risiko ein. Sie trugen aber dazu bei, die Kultur in der Vollstreckungsbehörde in eine Zukunft zu führen, in der die Polizei zunehmend mit intelligenten Maschinen zusammenarbeiten wird – unabhängig davon, ob PredPol weiterhin in der Werkzeugkiste bleiben wird oder nicht.
In der robotergestützten Operationstechnik nahmen sich die angehenden Chirurgen immer mal wieder die Zeit, abseits ihrer offiziellen Verantwortlichkeiten Videoaufzeichnungen von Operationen zu erstellen, zu kommentieren und zu teilen. Die Aufzeichnungen dienten nicht nur als Anschauungsmaterial für sie selbst und andere. Sie herzustellen half auch beim Lernen, weil die Fachleute in spe Arbeitsphasen, Techniken, Fehlertypen und Reaktionen auf Überraschendes klassifizieren mussten.
Die Hochschulprofessoren, die Schwierigkeiten hatten, Onlinekurse zu erstellen und gleichzeitig die althergebrachten Fertigkeiten zu konservieren, setzten ähnliche Techniken ein. Die Kursplattform edX stellte zwar Tools, Templates und Übungsmaterialien zur Verfügung, um den Lehrenden die Arbeit zu erleichtern – aber das reichte nicht. Vor allem am Anfang brauchten viele der weit im Land verstreuten Lehrkräfte in schlecht ausgestatteten Institutionen Zeit, um mit der Plattform zu experimentieren. Viele machten Anmerkungen und Videos zu ihren Erfolgen und Misserfolgen und teilten sie auf informellem Weg online miteinander. Diese Verbindungen aufzubauen war schwierig, vor allem wenn die Institutionen nur ungern akzeptierten, dass Content und didaktische Hinweise online verbreitet wurden.
Die finanziell gut ausgestatteten und großzügig geförderten Professoren an Spitzeninstitutionen entwickelten hingegen eine andere Art von Schattenlernen. Gleich zu Beginn hatten sie eine Menge Input zur Nutzung von edX zur Verfügung gestellt. Um sich die nötige Unterstützung der Plattform zu sichern und an Ressourcen zu kommen, tauschten sie untereinander heimlich Techniken und Tipps aus. So erreichten sie die gewünschten Veränderungen von edX und sicherten sich Förderung sowie personelle Unterstützung.
Schattenlernen ist offensichtlich nicht die ideale Lösung für das Problem, auf das es abzielt. Niemand sollte eine Kündigung riskieren müssen, um seine Arbeit gut machen zu können. Trotzdem sind diese Praktiken – so mühsam sie auch errungen sein mögen – bewährte Wege in einer Welt, in der es immer schwieriger und gleichzeitig immer wichtiger wird, Fachkenntnisse zu erwerben.
Die vier typischen Verhaltensweisen der Schattenlerner – Herausforderungen suchen, Wissen von der vordersten Front nutzen, Aufgaben neu gestalten und Lösungen auswählen – legen entsprechende Reaktionen nahe. Um von ihren Erkenntnissen zu profitieren, sollten Technologen, Manager, Fachleute und Mitarbeiter Folgendes tun:
sicherstellen, dass Nachwuchskräfte Gelegenheiten bekommen, sich in realen – und nicht etwa simulierten – beruflichen Situationen an der Grenze ihrer Kompetenzen zu bewegen. Das erlaubt ihnen, aus Fehlern zu lernen.
klar erkennbare Kanäle pflegen, über die die besten Fachkräfte aus der Praxis als Lehrer und Coachs wirken können.
Aufgaben und Anreize neu strukturieren, um den Lernenden zu helfen, die immer wieder neuen Ansätze zur Arbeit mit intelligenten Maschinen zu bewältigen.
per Crowdsourcing kommentierte "Wissensspeicher" aufbauen, die Tools sowie Expertenanleitungen beinhalten und nach Bedarf von Lernenden angezapft oder ergänzt werden können.
Der spezifische Ansatz für diese Initiativen hängt von der Struktur und Kultur des Unternehmens, den Ressourcen, technischen Möglichkeiten, vorhandenen Fertigkeiten und natürlich von der Art der Arbeit ab. Es gibt keine Best Practice, die für alle Umfelder gleichermaßen taugt. Es existiert aber bereits eine Menge Managementliteratur, die die unterschiedlichen Beispiele untersucht. Auch externe Beratung ist problemlos verfügbar.
Aus meinen Forschungsergebnissen und denen meiner Kollegen ergeben sich drei grundsätzliche unternehmerische Strategien, die helfen, die Erkenntnisse des Schattenlernens zu nutzen:
Schattenlernen entwickelt sich in rasantem Tempo, da intelligente Technologien immer mehr können. Mit der Zeit und sich weiterentwickelnden Technologien werden sich neue Formen und Arten des Lernens herausbilden. Vorsichtiges Handeln ist hier der kritische Faktor. Schattenlerner wissen häufig sehr genau, dass ihre Praktiken nicht regelkonform sind und sie dafür belangt werden können. Man stelle sich nur einmal vor, was passieren würde, wenn ein behandelnder Chirurg durchsickern ließe, er habe die am wenigsten gut ausgebildeten Assistenzärzte für die Zusammenarbeit ausgesucht. In Unternehmen drücken Manager der mittleren Ebene bei diesen Praktiken wegen der guten Ergebnisse häufig schon mal ein Auge zu. Deshalb sind Lernende und ihre Manager vielleicht alles andere als aufgeschlossen, wenn sie von einem ranghohen Manager gebeten werden, zu erklären, wie sie sich über Regeln hinwegsetzten, um neue Fähigkeiten zu entwickeln. Eine gute Lösung ist hier sicherlich, eine neutrale dritte Partei einzubeziehen. Sie kann glaubhaft absolute Anonymität gewährleisten und die Praktiken des Schattenlernens in unterschiedlichen Beispielsituationen unvoreingenommen vergleichen. Meine Informanten haben mich etwa nach und nach kennengelernt und Vertrauen aufgebaut. Sie wussten, dass ich die Arbeit in mehreren Arbeitsgruppen und Firmen beobachtete. Daher vertrauten sie darauf, dass ihre Identität geschützt würde. Das erwies sich als wesentliche Voraussetzung für meine Recherchen.
Intelligente Maschinen werden in Unternehmen häufig so eingesetzt, dass eine Fachkraft ihre Arbeit allein erledigen kann und nicht auf die Hilfe eines Trainees angewiesen ist. Robotergestützte Systeme in der Chirurgie ermöglichen es den erfahrenen Chirurgen, mit weniger Unterstützung bei Operationen auszukommen, also tun sie das auch. Systeme für das Investmentbanking ermöglichen es den Seniorpartnern, junge Analysten von komplexen Bewertungen auszuschließen, also tun sie es. Daher sollten alle Interessengruppen im Unternehmen auf einer Gestaltung von Organisation, Technologie und Arbeitsplätzen bestehen, die die Produktivität verbessert und das Lernen am Arbeitsplatz ausweitet. Im Falle des LAPD würde das zum Beispiel weit mehr bedeuten, als neue Incentives für Streifenpolizisten einzuführen. Auch die Nutzeroberfläche für PredPol müsste völlig neu und bedienerfreundlich gestaltet werden. Bestimmt würde dazu gehören, neue Stellen und Aufgabenbereiche zu schaffen. Wichtig wäre etwa eine Brückenfunktion zwischen Polizisten und Softwareingenieuren. Damit Streifenpolizisten aus Best-Practice-Fällen lernen können, bräuchte es zudem eine Plattform, auf der Einsatzkräfte ihren Kollegen kommentierte Anwendungsfälle zur Verfügung stellen**.**
Künstliche Intelligenz kann so genutzt werden, dass sie Lernende bei neuen Aufgaben begleitet und Experten in ihrer Mentorenrolle unterstützt – oder diese beiden Gruppen geschickt verbindet. Juho Kim baute zum Beispiel als Doktorand am MIT die beiden Anwendungen ToolScape und Lecture-Scape. Sie ermöglichen, über Crowdsourcing Lehrvideos zu kommentieren. Es lassen sich dabei auch Erklärungen und Möglichkeiten zu praktischen Übungen und Anwendungen einblenden. Kim nennt dies Learnersourcing. Im Bereich der Hardware fangen Augmented-Reality-Systeme gerade an, Erklärungen und Anmerkungen von Fachleuten direkt in den Arbeitsablauf einfließen zu lassen. Die bereits existierenden Anwendungen setzen Tablets oder Datenbrillen ein, um die Erklärungen in Echtzeit bei der Arbeit einzublenden. Weiterentwickelte intelligente Systeme werden nicht lange auf sich warten lassen.
Solcherlei Systeme könnten zum Beispiel dazu genutzt werden, einem Neuling die Technik des Schweißens zu vermitteln. Das könnte etwa so aussehen: Der Anfänger sieht an seinem Arbeitsplatz eine Einblendung mit einer Aufnahme, die den besten Schweißer des Betriebs bei der Arbeit zeigt. Via Übertragung erklärt der Meister dem neuen Kollegen die einzelnen Schritte und das beste Vorgehen. Eine weitere Aufzeichnung zeigt den Neuling dabei, wie er das Gesehene in die Praxis umsetzt, und ermöglicht ihm, den Experten bei Fragen direkt zu kontaktieren.
Eine immer größere Gruppe von Ingenieuren konzentriert sich in diesen Bereichen zunehmend auf die formale Ausbildung. Das wahre Problem liegt jedoch beim praktischen Lernen und wird durch diesen Trend noch verstärkt. Hier müssen wir unsere Bemühungen anders ausrichten.
Über mehrere Tausend Jahre hinweg hat der technische Fortschritt die Umgestaltung von Arbeitsabläufen vorangetrieben, und Lernende haben die erforderlichen neuen Fertigkeiten von ihren Mentoren erworben. Doch wie wir gesehen haben, bringen uns die intelligenten Maschinen nun dazu, die Menschen in Ausbildung von ihren Meistern zu entfernen – und die Meister von ihrer eigentlichen Arbeit. Das alles geschieht im Namen der Produktivität. Unternehmen entscheiden sich oft beinahe unbeabsichtigt für Produktivität anstatt für den Einsatz von Menschen. Dadurch wird die praktische Ausbildung immer schwieriger. Dennoch finden Schattenlerner immer wieder riskante und den Regeln zuwiderlaufende Wege, Neues zu lernen.
Unternehmen, die in einer Welt wettbewerbsfähig bleiben wollen, in der immer intelligentere Maschinen zum Alltag gehören werden, sollten diese "Nonkonformisten" sehr genau beobachten. Ihr Vorgehen zeigt exemplarisch, dass künftig dann die beste Arbeit verrichtet wird, wenn Fachleute, Neulinge und intelligente Maschinen zusammenarbeiten – und gemeinsam lernen. 
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Kompakt
Das ProblemIntelligente Maschinen und hoch entwickelte Analytiken erobern viele Bereiche des Arbeitslebens. Dabei ist das Tempo so rasant, dass Berufsanfänger kaum noch Gelegenheit bekommen, die für ihren Beruf wichtigen Kenntnisse zu er- werben: Für das Lernen am Arbeitsplatz fehlt schlicht die Zeit.
Die FolgeIn der Medizin, bei der Polizei und in anderen Bereichen entwickeln Mitarbeiter Methoden zum Erwerb von Fachwissen, die mit den Vorschriften brechen. Wegen der Ergebnisse, die dieses Schattenlernen liefert, wird es allerdings vielerorts toleriert. Es birgt jedoch nicht nur für die Lernenden Risiken: Wenn es schiefgeht, drohen ernste Konsequenzen.
Die LösungUnternehmen sollten ihre Scheinwerfer auf das Schattenlernen richten und es sorgfältig analysieren. Darüber hinaus sollten sie jene Praktiken übernehmen, die unternehmerische, technologische und berufsbezogene Formen zum Ausbau des Lernens am Arbeitsplatz fördern. Dazu müssen intelligente Maschinen zum Teil der Lösung werden.
Der Autor
Matt Beane ist Assistant Professor für Technologiemanagement an der University of California in Santa Barbara sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsinitiative des MIT zur digitalen Ökonomie.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der April-Ausgabe 2020 des Harvard Business managers.
