14 Trends für das Digitaljahr 2021

Die erste Woche des Jahres ist ein guter Moment darüber nachzudenken, was die kommenden 12 bis 24 Monate bringen könnten. Hier also meine persönliche Trendvorschau:

1. Eskapismus

Irgendwann im Laufe des Sommers wird unser Leben wieder normaler. Und es gibt eine große Sehnsucht nach „Leben“. Wie groß die ist, zeigen die Staus vor Skigebieten in diesem Januar – obwohl alle Behörden darum ersucht haben, diesen fernzubleiben.

Und deshalb wird mit Lockerung der Restriktionen eine neue, verrückte Zeit beginnen:

  • Restaurants werden im High-End-Bereich ausgebucht sein, wie nie zuvor.

  • Sportveranstaltungen werden neue Besucherrekorde melden.

  • Fernreisen werden komplett ausgebucht sein – obwohl die geringe Zahl von Flügen sie teuer macht.

  • Konzerte und Festivals werden voll sein.

Das Marketing wird sich diesen Lebenshunger zunutze machen. Wir werden wilde Geschmacksinnovationen im Lebensmittelbereich sehen, Pop-up-Läden und -Restaurants, bunteste, schrägste Werbekampagnen.

2. Billig-E-Commerce boomt

Schon jetzt ist „Das hast Du wohl auf Wish“ bestellt ein geflügeltes Internet-Wort. 2021 wird die Billigprodukte-App Wish im Mainstream ankommen, gemeinsam mit anderen Plattformen, die billige Billigwaren zu billigen Billigpreisen anbietet.

3. Prügelknabe des Jahres I: Fridays For Future

Für mich gibt es zwei klare Verlierer der Pandemie-Zeit: Flüchtlinge und die Umwelt. Bei ersteren sehen wir jetzt schon eine Distanzierung aus konservativen Kreisen, Personen wie Friedrich Merz zeigen, dass christliche Werte und die CDU nicht zwingend zusammengehören.

Am Ende wird mangelndes Engagement für Menschen auf der Flucht genauso wie ein schneller Umbau der Wirtschaft in Richtung Ökologie mit einem Argument abgetan werden: Es ist halt nach Corona kein Geld da. Bereits jetzt mucken sich die ersten Haushaltsausgleichsfetischisten und zumindest bei der CDU werden sie Rückendeckung von Wolfgang Schäuble erhalten. Modern Monetary Theory? Die soll sich erstmal ein paar hundert Jahre beweisen.

Während über Geflüchtete aber keine Häme ausgegossen wird (außer in rechtsextremen Kreisen), sieht das bei Fridays For Future anders aus. Die Bewegung wird zum Ablassventil aufgestauten Frustes werden. Und weil sich in ihr sehr stark jene jungen Menschen bewegen, die auf Plattformen wie Wish umweltschädigendes Billigzeugs bestellen, werden die für die Umwelt demonstrierenden Jungen in Sippenhaft genommen werden.

Fridays For Future stehen zwei harte Jahre bevor, es sei denn, die Bewegung wandelt sich vom Mahner zum Macher – und liefert konkretere Vorschläge als bisher und schafft es so, die Schlagzeilen zu drehen.

4. Nostalgie-Marketing

Schon 2012 empfahlen Tanja und Johnny Haeusler in ihrem Eltern-Ratgeber „Netzgemüse", dass Eltern und Kinder ihre gegenseitigen Lebenswelten durch digitale Medien gemeinsam erforschen sollten.

Genau das ist in den Tagen des Homeschooling und Nicht-Wegfahrens verstärkt passiert. Somit ist die popkulturelle Vergangenheit der Eltern in die der Jugend hineingerutscht. Umgekehrt wird dieser Effekt aber nicht so stark sein: Ab einem gewissen Alter sind die meisten Menschen weniger aufnahmewillig und -fähig für neue Bands, Stars, Spiele oder Serien.

Wir werden sehen, dass in den kommenden zwei Jahren Medienprodukte und Marketingkampagnen besonders gut funktionieren, die Bezug nehmen auf den popkulturellen Hintergrund der heutigen Elterngeneration, egal ob es um Testimonials oder sogar alte Werbebotschaften geht: Raider hat jetzt mehr Chancen als Twix.

5. Social Media Marketing wächst

Viel wurde über die „Zwangsdigitalisierung“ Deutschlands im Pandemie-Jahr geschrieben und geredet. Auch ich sehe bei vielen bisher analog denkenden Entscheidern eine gewisse Hinwendung zum Digitalen. Dies wird den Digitalverantwortlichen und -abteilungen in deren Unternehmen Luft zum Handeln verschaffen.

Ein offensichtlicher, erster Schritt werden verstärkte Media-Investitionen im Social Web sein. Nachdem die Preise für diese Art von Werbung absehbar günstiger wurden, werden die TKP 2021 und 2022 kräftig steigen.

Doch auch die organischen Markenaktivitäten werden zunehmen:

  • Instagram wird Facebook in der westlichen Welt als Top-Plattform für Marken ablösen.

  • TikTok wird Marken mit einem jüngeren Zielpublikum locken.

  • Gleichzeitig wird TikTok aufgrund des höheren Produktionsaufwandes für erste Enttäuschungen sorgen.

  • Twitter wird in Sachen Media-Gelder signifikant wachsen.

6. Prügelknabe des Jahres II: Telegram

Auch ein Impfstoff wird unsere gesellschaftlichen Wunden nicht kitten. Es wird genügend Themen geben, über die sich die große Mehrheit der demokratischen Gesellschaft mit der Minderheit der Verschwörungsgläubigen streiten wird. Ich kann auch keine Einsicht bei den Medien erkennen, absurde Behauptungen und zutiefst unseriöse Expertenbehaupter auszublenden.

In diesen Streitigkeiten wird Telegram eine besondere Rolle übernehmen. Es gibt ja Gründe, warum die Verschwörungsverirrten sich dort einfinden: Es gibt ihnen niemand Widerworte.

Und weil diese Minderheit weiterhin Beachtung finden wird, wird Telegram in den Fokus von Regulierungsbestrebungen rücken und zum neuen Lieblingsgegner im Internet werden.

In einem Punkt wage ich allerdings keine Prognose: Wird Telegram reagieren und seine extrem libertäre Ansicht von Meinungsfreiheit verändern?

7. Techlash läuft vor viele Wände…

Doch auch anderswo im digitalen Raum wird draufgehauen. Der politische und gesellschaftliche Druck (in US-Medien Techlash genannt) auf Digitalkonzerne wird zunehmen, die Regierung von Joe Biden wird versuchen, sich mit den Skalpen großer Namen zu schmücken.

Egal ob in den USA, China oder Europa: Viele dieser Versuche der staatlichen Regulierung werden scheitern. Denn mancher Volksvertreter übersieht, dass jene Vorteile, die Digitalkonzerne für sich nutzen, gar nicht so neu sind. Dass zum Beispiel auch deutsche Großunternehmen Bilanzen so lenken, dass Gewinne in steuerfreundlichen Regionen anfallen. Diese Unternehmen werden die Politik daran erinnern, dass jener Kampf gegen das Digitale ja schön und gut ist, sie aber auch ihre Bedürfnisse haben.

Das gleiche gilt für Gerichte: Auch hier wird mancher Hoffnung von politischer Seite, diese sturen Digitaldinger wegzubekommen ein Riegel vorgeschoben werden.

8. … sorgt aber für den Abtritt von Mark Zuckerberg

Einen Skalp aber wird es geben, zumindest zur Hälfte: Mark Zuckerberg wird Ende 2022 nicht mehr CEO von Facebook sein.

BÄÄM. Ja. Hier. Schreib ich so.

Der politische Druck auf Facebook wird derart zunehmen, dass Zuckerberg sich auf den Posten des Chairman beschränken wird. Dass er den aufgibt, halte ich für unwahrscheinlich, aber nicht für unmöglich. Die Stimmrechte bei Facebook sind ohnehin so konzipiert, dass er immer der bestimmende Mensch im Konzern bleiben wird.

Eventuell wird dies auch den Abgang für Sheryl Sandberg bedeuten, ob er aber so relativ schnell verkündet wird, glaube ich nicht. Und wer wird neuer CEO? Mein Tip: Chris Cox, der im Sommer zu Facebook zurückgekehrt ist.

9. Plattform des Jahres: Zoom

Ich halte Zoom für ein vorbildlich geführtes Unternehmen. Angesichts eines explosionsartigen Wachstums ohne nennenswerte Ausfälle durchzukommen, Kritik aufzunehmen, zu thematisieren und daraus Maßnahmen abzuleiten – all das gehört in die Management-Lehrbücher.

Im kommenden Jahr wird Zoom sich noch einmal wandeln. Schon jetzt wird es in Formen benutzt, für die es nicht gedacht war. Ein Beispiel sind die Weinproben, die wir bei kpunktnull für unseren Kunden Ludwig von Kapff konzipiert haben. Hier ist Zoom als Fundament ein Ort des Community Building von dem aus das Tasting auf Youtube und Facebook verlängert wird. Ergebnis: ein funktionierendes Geschäftsmodell und ein Platz auf der Shortlist des Deutschen Preises für Onlinekommunikation.

2021 wird das Jahr, in dem aus dem Dienst eine Plattform für Live-Bewegtbild wird. Bereits angekündigt wurden Apps für Zoom. Sie werden die Nutzungsmöglichkeiten erweitern in Richtung Spontan-Videotelefonie, flexiblere Webinare, Konferenzformate und Livestreaming. Zoom steht noch immer am Anfang dessen, was es einmal werden könnte.

10. Livestreaming wird sich ändern (müssen)

Zum Jahresende haben wir mit unserer Digitalberatung kpunktnull ein neues Geschäftsfeld verkündet: Livestreaming-Konzepte. Dies geschah auch aus Frustration heraus. Im vergangenen Jahr war ich bei mehreren Livestream-Veranstaltungen Redner, bei anderen Zuhörer – und viel zu oft war es ein frustrierendes Erlebnis.

Die allermeisten Digital-Events sind schlecht produziert, undurchdacht und für den Teilnehmer sedierend. Den Veranstaltern mangelt es viel zu oft an Kompetenz in zwei Bereichen: Technik und Plattformen. Weil jeder schon mal etwas von Zoom gehört hat, veranstalten halt alle ihre Konferenzen auf Zoom – obwohl es dafür geeignetere Plattformen geben kann.

Die Behauptung mancher Trendforscher, darunter auch der von mir sehr geschätzte Rohit Bhargava, dass ab jetzt Hybrid-Events mit wenigen Zuschauern vor Ort die Norm werden, kann ich nicht teilen. Zum einen, weil Menschen sich weiterhin persönlich treffen wollen. Zum anderen aber, weil die Livestreaming-Konferenzen, egal ob groß oder klein, der Jahre 2020 und 2021 eine so abschreckend Wirkung entwickeln werden, dass sich ihre Ausrichter bald umorientieren dürften.

Wir werden aber 2021 einen Boom der neuen Plattformen erleben. Live gestreamte Konzerte können anders aussehen, als die dies heute tun – Sonidos Immersivos aus Chile liefert einen Vorgeschmack. Es gibt auch keinen rationalen Grund, warum eine digitale Messe aussehen soll, wie eine physische Messe. Viel spannender kann es sein, Produkte im virtuellen Raum so zu präsentieren, wie es analog halt nicht geht – durch das All fliegend oder im Regenwald stehend. Und Redner können mit Prezi Video oder Mmmhmmm ihre Thesen packender überbringen als mit Ichgebeihnenjetztmalmeinepowerpointfrei.

Die Möglichkeiten werden 2021 massiv. Offen ist die Frage, ob sie auch erkannt werden.

11. Flaschenpost wird Wegbereiter des Online-Lebensmittelhandels

Die Chancen des Digitalen erkannt hat die Oetker-Gruppe. Sie übernahm im vergangenen Jahr für angeblich eine Milliarde Euro den Getränkelieferdienst Flaschenpost. In diesem Jahr wird Flaschenpost sich verändern und agieren wie ein Lebensmittelhändler: Das Sortiment wird sich weiten, es wird mehr Eigenmarken geben (die angeblich sehr gut laufen und die Marge steigern) und es wird hart verhandelt um die Listung von Produkten.

Dabei wird eine Gruppe von Herstellern keine Probleme haben, in das Sortiment aufgenommen zu werden: die Töchter von Oetker.

Mit dieser stückweisen Erweiterung der Flaschenpost wird die Online-Bestellung von Lebensmitteln zumindest in deutschen Großstädten (endlich) Alltag.

12. Trügerisches Medienjahr: Verlage jubeln

2021 und 2022 werden etliche klassische Medienhäuser mit donnernden Worten verkünden, dass sie digital mehr Geld einnehmen, als analog. Sie werden das als Zeichen deuten, dass in Paid Content die Zukunft liegt und dem jährlichen Burda-Hausmessenredner Scott Galloway folgen, der keine Zukunft mehr in Onlinewerbung sieht.

Ich halte dies für einen historischen Fehler.

Zum einen, weil deutsche Medienhäuser sehr oft immer noch nicht in der Lage sind, die Grundlagen des digitalen Geschäfts umzusetzen. Noch immer gehören tagelanges Warten auf eine Abo-Bestellung oder das manuelle Generieren von Rechnungen zum Alltag.

Funktionieren wird diese Strategie für ganz wenige der Medienmarken, jene, die Masse auf sich konzentrieren können. Und Paid Content funktioniert für hochspezielle Inhalte – aber eben nicht für das, was derzeit als Nachrichtenjournalismus so geboten wird.

Wer dagegen als deutscher Medienmanager auf Paid Content setzt muss sich bewusst sein, dass er aus Sicht seiner Kunden in gefühlte Konkurrenz tritt mit „New York Times“, „Economist“, Netflix, Spotify und schon sehr bald seinen eigenen Ex-Redakteuren – denn:

13. Medienbuzz 2021: Paid Newsletter

Substack ist in den USA der aktuell wohl heißeste Medien-Scheiß. Die Newsletter-Plattform ermöglicht nicht nur das Versenden von Newslettern, sondern auch das Generieren von Einnahmen. Dabei ist es möglich, einen Teil Ausgaben frei zu versenden und nur einen Teil hinter die Bezahlwand zu stellen.

Substack-Erfolgsgeschichten sind Legion. So kalkulierte jüngst die „New York Times“, dass die Geschichtsprofessorin Heather Cox Richardson mit ihren nüchtern geschriebenen Einordnungen des politischen Tagesgeschehens im vergangenen Jahr eine Million Dollar eingenommen hat.

Auch in Deutschland gibt es erste Paid Newsletter-Ansätze, so bei Gabor Steingart, dem „Tagesspiegel“ und dem „Handelsblatt“. Doch steht dahinter bisher immer eine Art Unternehmen. Es würde mich sehr wundern, wenn sich 2021 und 2022 nicht spannende Autoren mit digitaler Gefolgschaft mit eigenen Bezahl-Newslettern selbständig machen.

14. Home Office-Schmerz

Ich blogge seit jetzt 16 Jahren auf Indiskretion Ehrensache, aber so was wie am 14. August 2020 ist in all der Zeit noch nicht passiert. Am Vorabend hatte ich einen Artikel online gestellt – und einen halben Tag später hatten den über 200.000 Leute gelesen – und viele erregten sich auch in der Kommentarspalte. Später übernahm Xing den Text – nochmal eine mittlere fünfstellige Zahl von Lesern.

Das Thema: Ich halte es für einen Fehler, dass so viele Großunternehmen Home Office zur neuen Standardeinstellung des Arbeitens machen wollen.

Dazu stehe ich auch weiterhin. Lehrreich war es, dass sich zwei Gruppen ausmachen ließen, die sich mit teils überdeutlichen Worten gegen meine Thesen ausschrieben: einerseits Digitalarbeiter, teilweise in Startups, andere Programmierer; andererseits Personen (vor allem Männer) mit signifikanter Erwerbshistorie, die weder mit Kollegen noch mit Vorgesetzten etwas zu tun haben wollen, paraphrasiert unter dem Motto „Ich will in Ruhe meine Job machen und von sonst nix wissen“ – was ein Stück weit der Definition der „Inneren Kündigung“ entspricht.

In den Jahren 2021 und 2022 werden wir sehen, was der erhöhte Anteil von Home Office anrichtet. Wir werden ein erhöhtes Maß an Krankschreibungen erleben, maßgeblich getrieben durch zwei Bereiche: Orthopädie (aus Mangel an geeigneten Arbeitsplätzen) und Psychologie (in Gestalt von Depressionen und Burnout).

Glauben Sie nicht? Dann blicken wir mal nach Großbritannien. Dort bekamen schon im Sommer 6 Millionen Menschen innerhalb von drei Monaten Antidepressiva verschrieben – 9% der Bevölkerung (Babys und Greise eingeschlossen). Und vergessen wir nicht: Das waren die angenehmen, warmen Tage.

Schon bald werden wir erkennen, dass mehr als ein oder zwei Tage Home Office für sehr viele Menschen gegen ihre Natur geht und auch gegen die Architektur unserer Gesellschaft. Denn spätestens bei Jungfamilien ist einfach nur im Fall des Besterverdienens genug Raum da, um Kinder, Ehe und Job unter das immer gleiche, eine Dach zu bringen.

Das also sind meine Trends für 2021 und 2022 - ich freue mich auf rege Diskussion in den Kommentaren.

Thomas Knüwer schreibt über Marketing & Werbung, Wirtschaft & Management, Konsumgüter & Handel, Tourismus

Gründer der Digitalberatung kpunktnull Marketing- & Medien-Blogger auf Indiskretion Ehrensache Food-Podcaster bei Völlerei & Leberschmerz Mitgründer und -ausrichter des Influencer-Preises Die Goldenen Blogger Ex-Handelsblatt-Journalist und Gründungschefredakteur der deutschen Wired

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