Abgehängt und isoliert: Was hält unsere Gesellschaft zusammen?
Die Frage nach dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist nicht neu, doch sie fordert uns angesichts des Ineinandergreifens globaler Transformationsprozesse (demografischer Wandel, Klimakrise, Finanzcrash, Digitalisierung, Pandemie) immer wieder neu heraus.
Von zentraler Bedeutung dafür sind soziale Orte, die Begegnung, Kommunikation und Mitwirkung ermöglichen und von denen immer mehr verloren gehen, sodass schließlich auch der gesellschaftliche Zusammenhalt zerfällt. „Soziale und territoriale Armutslagen verfestigen sich, Regionen verlieren den Anschluss, und soziale Milieus begegnen sich immer weniger im öffentlichen Raum“, schreiben die Autoren des Buches „Das Soziale-Orte-Konzept“, das sich dem Zusammenhalt in einer vulnerablen Gesellschaft widmet. Erste Überlegungen dafür haben sie in einem Aufsatz entwickelt, der 2017 in der Zeitschrift „Umwelt- und Planungsrecht“ (UPR) erschienen ist. Darin haben sie aufgezeigt, dass gesellschaftliche Ungleichheiten wachsen, dass sich räumliche Unterschiede vertiefen und alte Klassenspaltungen wieder hervortreten. Die zunehmende soziale Segregation, vor allem die Armutskonzentration in bestimmten Stadtteilen, erhöht die Gefahr einer mehrfachen sozialen Benachteiligung der Bewohner:innen in diesen Quartieren. Zudem setzt sie so auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt unter Spannung. Dies wird mit Fakten und Zahlen belegt:
In gut situierten Wohngegenden unterhält die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner (in der zweiten Lebenshälfte) enge Nachbarschaftskontakte.
Etwas weniger gut sind die Kontakte im Quartier in mittleren Wohnlagen mit 43 Prozent.
In einfachen Wohnlagen sagen nur 38 Prozent, dass sie gute Nachbarschaftskontakte pflegen.
21 Prozent der Befragten aus einfachen Wohngegenden gab an, nur eingeschränkt unterstützende Nachbarschaftsnetzwerke zu haben.
Bewohner:innen gehobener Quartiere müssen nur sehr selten ohne unterstützende Nachbarinnen und Nachbarn (8 Prozent) auskommen.
Cafés, Kinos und Theater, Jugendclubs, Hotelhallen und Restaurantinnenräume, Sportstadien, Kultureinrichtungen, Bibliotheken und Schwimmbäder sind in den vergangenen Jahren in vielen Quartieren, Gemeinden und Regionen einfach verschwunden, weil sie wirtschaftlich nicht mehr rentabel waren und deshalb aufgegeben wurden. Dieser Verlust von öffentlichen Orten wurde auch durch einen Aspekt bedingt, der oft übersehen wird: Denn auch Verwaltungen und der Staat ziehen sich aus den Stadtquartieren und aus der Fläche immer mehr zurück. Zur Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts gehören aber auch der „Institutionenverdruss“ sowie der Abschied von der Verantwortung für das Gemeinwesen.
Diese Entwicklungen sind eng mit den Veränderungen der Erwerbsarbeit verknüpft: „In der Fragmentierung von Biografien, der Spaltung von Belegschaften, in den Erfahrungen von Unsicherheit und Unverbindlichkeit, in der Selektivität von Schutzrechten, im Kampf um Statussicherung in der Arbeitswelt“, so die Autoren. Die Coronapandemie hat diesen Prozess zusätzlich angetrieben. Mit dem Begriff „Abgehängt!“ beschrieben viele Bürger:innen bis zu dieser Krise ihre soziale und wirtschaftliche Lage und ihren Ort in der Gesellschaft. Mit Beginn der COVID19-Pandemie dominierte dann der Begriff „Isoliert!“
Das Soziale-Orte-Konzept bietet eine wichtige Ergänzung kommunaler und regionaler Politik und zielt auf einen gesetzgeberischen Neuansatz. Damit reagiert es auf die negative soziale Dynamik mit optimistischen Antworten und hat zum Ziel, den sozialen Zusammenhalt vor Ort gezielt zu fördern, wiederzubeleben und neu zu begründen. Die zentralen Begriffe in der Debatte um die Voraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenhalts:
Vertrauen,
Gleichwertigkeitserfahrung,
positive Zukunftserwartungen,
das Vorhandensein leistungsfähiger öffentlicher Güter,
ausreichende Angebote der Daseinsvorsorge.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist für die Autoren ein Prozess, der „vor Ort“ (Nahraum) in lokalen, sozialräumlichen Lebenswelten stattfindet. Hier geht es um Fragen der Zugehörigkeit, Partizipation und Integration sowie um die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens.
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Prof. Jens Kersten lehrt Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Prof. Claudia Neu ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel.
Prof. Berthold Vogel ist Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität und Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) am Standort Göttingen.
Jens Kersten / Claudia Neu / Berthold Vogel: Das Soziale-Orte-Konzept. Zusammenhalt in einer vulnerablen Gesellschaft. transcript Verlag. Bielefeld 2022.