Ackern für mehr Nachhaltigkeit
„Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.“ Diese zeitlose Metapher für Nachhaltigkeit ist in Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ enthalten - in einem „Lehrbrief“, der mit dem Satz endet: „... gebackenes Brot ist schmackhaft und sättigend für Einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden“. Goethe wusste, dass es ohne Vorsorge keine Selbstsorge gibt. Wenn er von „Saatfrüchten“ schreibt, dann verweist er damit auch auf die Bedingungen, unter denen sie nachwachsen und gedeihen.
Für den tschechischen Schriftsteller Karel Capek, der 1929 das Buch „Das Jahr des Gärtners" schrieb, waren die Kultivierung des Erdbodens (cultura agri) und die Kultivierung des Geistes (cultura animi) wesensgleich. Das Wort „kultivieren“ ist mit dem Gedanken von Entwicklung verbunden und nicht des simplen Erwerbs – diese Ressourcen müssen früh entwickelt werden und nicht erst dann, wenn sie benötigt werden. Kultur braucht gute Gärtner und Bauern, die sich jeglicher Manipulation entziehen, die sich nicht vereinnahmen lassen, die widerstandsfähig sind und mit Augenmaß handeln. Als Bauernjunge und Sohn eines Gutsverwalters auf der Domaine des Barges im Unterwallis, einem Landwirtschaftsbetrieb im Besitz der Aargauer Tabakdynastie Burger Söhne, erlebte Hans R. Herren am eigenen Leib, was „intensive Landwirtschaft“ schon damals bedeutete: Gegen die Raupen der Motten und Nachtfalter an den Tabakblättern sowie gegen Pilzkrankheiten wurden hochgiftige Insektizide und Fungizide verspritzt, die neben den Schadinsekten und Pilzen auch Nützlinge wie Bienen vernichteten. Seine Dissertation schrieb er bei Vittorio Delucchi, Professor für Entomologie (Insektenkunde), der in der Schweiz als Pionier der Idee gilt, in der Landwirtschaft keine Insektizide, sondern natürliche Feinde gegen schädliche Insekten einzusetzen. Später war Herren 27 Jahre in Afrika und in der biologischen Schädlingsbekämpfung tätig. Seine Erfahrungen und das erworbene Wissen machten ihm bewusst, wie wichtig es ist, dass die Landwirtschaft und unser gesamtes Ernährungssystem grundlegend nachhaltig transformiert werden müssen.
Die Landwirtschaft, die er sich wünscht und für die er sich einsetzt, treibt nicht den höchsten, sondern den nachhaltig möglichen Ertrag an - und sie ist multifunktional: „Sie schont Böden und Gewässer, regeneriert und erhält die natürliche Bodenfruchtbarkeit und fördert die Biodiversität.“ Um der Vielfalt der Systeme gerecht zu werden, seien lokale Ansätze nötig, eine Verlagerung der Forschung vom Labor ins Feld, aber auch eine bessere Integration der Bäuerinnen und Bauern vor Ort sowie regionale Forschungsnetze. Dass wir uns wieder auf natürliche Maßnahmen besinnen sollten und weltweit viel zu viel chemisch hergestellte Pestizide eingesetzt werden, bemerkt Claudia Silber, die beim Ökoversender memo AG in Greußenheim die Unternehmenskommunikation leitet: „Immer mehr Menschen sind gegen den Einsatz von Pflanzengiften. Dabei ist doch gegen alles ein Kraut gewachsen, z.B. Brennnessel gegen Blattläuse."
Alle großen Pestizidfirmen verkaufen heute Saatgut wie Mais, Raps, Baumwolle und Soja-, das gegen Herbizide der jeweiligen Firma gentechnisch resistent gemacht wurde. In den letzten 150 Jahren haben sich Agrarindustrie und Nationalstaaten die bäuerlichen Zuständigkeiten über Saatgut und Pflanzenzüchtung angeeignet und Bäuerinnen und Bauern in die Abhängigkeit von Großkonzernen gebracht. Sie zielen darauf ab, bäuerliche Saatgutsysteme überflüssig zu machen und durch industrielle Saatgutsysteme zu ersetzen. Damit verbunden ist eine Vereinheitlichung der Landwirtschaft sowie der weltweite Verlust der Kulturpflanzenvielfalt. Die Notwendigkeit der ökologischen Pflanzenzüchtung „speist“ sich vor diesem Hintergrund auch aus immer neuen Zuchttechniken und Sorten-Patentierungen durch marktbeherrschende Konzerne.
Saatgut sollte von samenfesten und ökologisch gezüchteten Sorten verwendet werden. Bio-Saatgut entsteht ohne Einsatz von Kunstdünger, Pflanzenschutzmitteln oder Gentechnik und ist in Bio-Läden oder Onlineshops wie memolife erhältlich. Das 2012 gegründete Unternehmen „Ackerhelden" stellt landesweit Bioland-zertifizierte Felder zum Selbsternten bereit. In Deutschland gibt es viele weitere solcher Projekte und Orte, an denen Menschen gern „ackern“ und Sorge für eine Welt tragen, die sie mit den Händen bearbeiten und wachsen sehen können - in einer der Natur gemäßen Geschwindigkeit.
Saat des guten Lebens: Was ein nachhaltiges und faires Ernährungssystem ausmacht
Nachhaltige Ernährung: Warum ökologischer Landbau kein Luxus für die Reichen ist
Bio-Vision vom guten Leben: Warum wir natürliche Stoffkreisläufe brauchen
Anja Banzhaf: Saatgut. Wer die Saat hat, hat das Sagen. Oekom Verlag, München 2016.
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009.
Hans R. Herren: So ernähren wir die Welt. Rüffer & Rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich 2016.
Alexandra Hildebrandt: Gartenzeit: Wie wir Natur und Kultur wieder in Gleichklang bringen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.