Agilität in Großprojekten: Es gibt keine Blaupause
Gemessen an den Maßstäben Zeit, Budget und Umfang scheitern die allermeisten Großprojekte. Nicht weil zu wenig geplant wird, ganz im Gegenteil: Das Problem der meisten Konzerne liegt in der Infrastruktur. Silo-Abteilungen, die sich höchstens bei der Weihnachtsfeier begegnen und Vorstandsbüros, deren Türen für Projektmanager geschlossen sind. Dazu eine Erwartungshaltung von oben, die jegliche Fehler ausschließt. Bereits die Prototypen neuer Produkte müssen perfekt sein, sonst rollen Köpfe. Eine produktive Fehlerkultur und die Autobauernation Deutschland haben immer noch nicht zusammengefunden. Während im Silicon Valley Unternehmen wie Airbnb und Uber ganze Branchen auf links drehen, bürokratisieren wir fleißig vor uns hin. Dabei geht es in der Digitalisierung mehr denn je um Schnelligkeit. Meine Kunden fragen daher immer wieder, ob agile Arbeitsmethoden nicht auch in Großprojekten funktionieren können.
Großprojekte scheitern an der Kommunikation
Je mehr Menschen an einem Projekt beteiligt sind, desto schwieriger die Kommunikation und Koordination. Die Rollen und Artefakte von Scrum setzen genau da an: Tägliche Meetings sichern den Kommunikationsfluss und dank Scrumboard sowie der klaren Aufgabenverteilung weiß jeder, was und bis wann er es zu tun hat. Allerdings wird der Rahmen jedes Frameworks ab einer gewissen Größenordnung gesprengt. Versuchen Sie mal, ein Daily Scrum mit 500 Leuten in 15 Minuten über die Bühne zu bringen. Wie viele Scrum Master brauchen Sie in einem Großprojekt und wie regeln Sie die Kommunikation unter Teams, die in Berlin, Shanghai und New York sitzen? Wir sind es bei Scrum gewohnt, dass kleine Teams und Leute mit ähnlichem fachlichem Hintergrund zusammenarbeiten. In Großprojekten wird oft fachübergreifend gearbeitet, was zu Problemen führt: Chemiker denken anders als Biologen, die wiederum ganz anders an Probleme herangehen als Elektroingenieure und Maschinenbauer. Die jeweiligen Spezialisten arbeiten nicht selten aneinander vorbei. Schnell wird im Großprojekt klar: Die Kommunikation verlangt hier nach Lösungen, die über den Tellerrand von Scrum hinausgehen. Agilisten müssen in einem Großprojekt erst einen Schritt zurück machen – bevor Sie Scrum-Elemente nutzen können, gilt es eine strukturelle Grundlage zu schaffen.
Sichtbarkeit durch Infrastruktur
Je größer das Unternehmen, desto mehr Baustellen während eines Projekts. Hier wird ein Budget nicht freigegeben, dort liefert eine Abteilung ihren Beitrag nicht in der vereinbarten Zeit. Wer versucht, alle Probleme gleichzeitig zu lösen, dreht sich schnell im Kreis. Mit meiner Managementberatung habe ich festgestellt, dass die meisten Hürden wie von selbst verschwinden, wenn Sie am Führungsstil der Organisation ansetzen. Die allermeisten stockenden Projekte haben ein Führungsproblem, nicht mehr und nicht weniger. Wenn ein Großprojekt nicht aus dem Ruder laufen soll, muss ich klare Prinzipien und Skills etablieren – und das beginnt in der Führungsetage. Der Autohersteller Ford hat das bereits vor der großen Krise 2008 erkannt. Der damalige CEO Alan Mulally sorgte an der Spitze dafür, dass alle Führungskräfte wöchentlich zusammenkommen, um die Probleme ihrer Abteilungen vorzustellen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Die Transparenz in der Führung färbte auf die Abteilungen ab, sodass Mulally schon nach kurzer Zeit die Silos in seinem Konzern dazu brachte zusammen zu arbeiten. Entstanden ist dadurch eine sichtbare Infrastruktur. Der Arbeiter am Band ist mit dem Kollegen im Büro im Austausch – und das nicht nur in der Kantine. Was banal klingt, ist in vielen Unternehmen undenkbar. Das Marketing redet nicht mehr mit dem Vertrieb, Einkauf und Produktion stimmen sich nicht optimal ab. Doch wenn die Unternehmensspitze die neuen Kommunikationsprinzipien vorlebt, hat das Projekt eine Chance.
Das Beispiel Ford zeigt, wie wichtig eine gute Kommunikationsinfrastruktur für den Erfolg ist. Ob Sie diese mit Scrum, Kanban oder ohne agilen Rahmen umsetzen, ist erstmal zweitrangig. Die Digitalisierung bringt immer neue Tools hervor, die eine ortsunabhängige Kommunikation ermöglichen und die interne Organisation vereinfachen. Doch auch hier wird oft kaputtreguliert. Bevor sich ein Konzern auf ein Videokonferenz-System geeinigt und die IT grünes Licht gegeben hat, können einige Monate vergehen. Deshalb gilt für Projektmanager auch hier: Holen Sie die Geschäftsführung ins Boot. Großprojekte sollten nicht von oben wegdeligiert werden, sondern an der Spitze beginnen und sich dann nach unten ausbreiten.
Um erfolgreich zu skalieren, ist neben einer entsprechenden Infrastruktur auch ein neuer Rahmen der Zusammenarbeit notwendig. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein wöchentliches Meeting mit Teilnehmern aus drei Zeitzonen – und jedes Mal kommt ein Kollege vier Minuten zu spät. Das wird die Zusammenarbeit langfristig belasten und Ihr Projekt bremsen. Je größer das Projekt, desto wichtiger die Etablierung von Basic Skills bzw. Werten wie Pünktlichkeit und dem Commitment, vereinbarte Ziele zu erreichen. Zudem müssen Sie sicherstellen, dass alle ein gemeinsames Set an organisatorischen Skills haben. Wenn die Teams mit Werkzeugen wie Skype for Business, Trello und Slack arbeiten sollen, muss ich auch Schulungen anbieten, damit jeder mitarbeiten kann.
Abschließend fehlt noch ein Modell, innerhalb dessen die geforderten Skills und Werte ineinander greifen. Design Thinking erweist sich dabei in immer mehr Unternehmen als das entscheidende Puzzlestück. Der Prozess zur Problemlösung hat als Basis die Idee, interdisziplinäre Teams mit verschiedenen Meinungen und Perspektiven zusammenzubringen – genau das, was wir im Großprojekt brauchen, um Silos und riesige Abstimmungsschleifen zu überwinden. Design Thinking startet mit der Phase „Verstehen“, in der alle Projektbeteiligten auf den gleichen Wissensstand gebracht werden und endet mit einem gemeinsam erarbeiteten Prototyp. Genau wie Scrum ist Design Thingking „human-centered“ und stellt den Endanwender in den Mittelpunkt aller Projektschritte. Mit der Methode können Sie agile Prinzipien umsetzen, ohne sich an starre Regeln halten zu müssen, die in Großprojekten zu Problemen führen. Wenn die interdisziplinären Teams dann einmal eingespielt sind und die gesamte Organisation nach den neuen Prinzipien arbeitet, können Sie immer noch agile Frameworks hinzuziehen.
Ausprobieren, lernen, besser machen
Erst wenn die Infrastruktur steht, hat Agilität im Großprojekt eine Chance. Die Idee, dass dann aber gleich ein ganzes Unternehmen vom klassischen Projektmanagement auf Agilität wechselt, ist utopisch. Starten Sie daher klein. Meistens sind selbst Unternehmen mit den starrsten Strukturen bereit, agile Labs und Task Forces als Pilotprojekt zuzulassen. In diesen Labs dürfen die Mitarbeiter den Bürokratieapparat über Bord werfen, bekommen erstaunlich schnell Budgets genehmigt und bringen zeitnah Ergebnisse auf die Strecke. In den meisten Organisationen bleibt es aber bei einem Pilotprojekt, weil man nicht bereit ist, gewohnte Abläufe auf großer Ebene auf den Kopf zu stellen. Stellen Sie daher sicher, dass die Top-Führungskräfte Teil der Task Force sind oder zumindest regelmäßig an den Meetings teilnehmen. Wenn sich dann oben herumspricht, dass Backlogs und Scrumboards Ergebnisse liefern und es durchaus sinnvoll ist, etwas auf die Strecke zu bringen, das noch nicht fehlerfrei ist, steht dem agilen Arbeiten im Großprojekt nichts mehr im Weg.
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