Dr. Alexandra Hildebrandt

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für Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Anton Corbijn und die visuelle Identität des Depeche-Mode-Sounds

Anton Corbijn
Depeche Mode, New York, 2008, Sounds of the Universe © Anton Corbijn

People are people

Der Zeitbegriff als Dimension des Lebens geht uns heute immer mehr verloren und führt zugleich in große Zeitbedrängnis, die mit einer beschleunigten Lebenszeit bezahlt wird, die das Leben durch Geschäftigkeit tötet. Viele Songs von Depeche Mode erinnern uns daran. Sie lassen uns begreifen lassen, wie destruktiv es sein kann, sich übermäßig auf die Zeit zu konzentrieren. Vielleicht ist die Band deshalb so beliebt, weil sie „zeitlos“ ist. Das betrifft auch ihre Bildsprache und ihre authentische Ästhetik. Absichtslos wurden sie sogar zur politischen Band. Sie singen davon, dass alle Menschen gleich sind: „People are people.“ Ihre Songs vermitteln, dass wir in Taten und nicht in Jahren leben, in Gedanken und in Empfindungen – und nicht in Zahlen. Dass sie zu einer Kultband geworden sind, ist nicht allein dem ausdrucksstarken Gesang zu verdanken. Vieles muss zusammenkommen, damit sich ein Werk nachhaltig zur Vollkommenheit entfalten kann. Dem niederländischen Künstler, Fotografen, Plattenhüllengestalter, Clipregisseur und Filmemacher Anton Corbijn, Jahrgang 1955, ist es zu verdanken, dass Depeche Mode zu einer „nachhaltige Marke“ wurde. Als Art Director der Band hat er deren visuelles Erscheinungsbild über mehrere Jahrzehnte geprägt. Seine Plattencover trugen entscheidend zum Erfolg der Band bei. Es entstand aber auch eine ikonographische Signatur der Musik, die über das übliche Branding hinausgeht. Bilder und Songs haben für sie immer eine Geschichte.

Als Fotograf begann Corbijn mit Musikerporträts - vom Rock ’n’ Roll über den Pop bis zur Klassik. Er porträtierte Stars der New Wave, aber auch Frank Sinatra oder Luciano Pavarotti. Seine Fotos definieren sich nicht über Oberflächlichkeiten wie Accessoires, Kleidung oder Posen. Er zeigt das Unverfälschte einer Persönlichkeit, das sich vor allem im Gesicht zeigt. Leben als Passion – im Sinne von Leid und Leidenschaft. Er selbst sagt, dass seine Bilder der protestantischen Ethik in Dankbarkeit verpflichtet seien. Der Protestantismus definierte die Bestimmung des Menschen neu: Es ging nicht mehr nur um die Ausrichtung auf das Jenseits, sondern um den täglichen Dienst zu Gottes Ehren - die Erfüllung der eigenen Aufgabe im Hier und Jetzt. Seine Film-Protagonisten „durchwandern eine Zwischenwelt; sie betreten die Leinwand als Personen, die wissen, dass sie eigentlich schon tot sind. Sie suchen nur noch nach der richtigen Pforte.“ Seine Bildvorlagen fand er beim Regisseur Ingmar Bergman (2018-2007), Sohn eines lutherischen Pastors, der bereits als fasziniert von der Inszenierung von Bildern und Geschichten war. Der Symbolismus seiner Schwarz-Weiß-Filme war stets melancholisch-zerrissen, ebenso sein Glaube an Gott. In den meisten Filmen geht es um Vereinsamung, Ent-Emotionalisierung sowie um die (vergebliche) Suche nach Erlösung („Wilde Erdbeeren“, „Szenen einer Ehe“, „Schreie und Flüstern“).

Andy „Fletch“ Fletcher, der dritte Mann, starb überraschend im Mai 2022 an einem Aorten-Riss. Im Gedenken an ihn zitieren Depeche Mode im Video zur Single "Ghosts Again" den Spielfilm "Das siebente Siegel" (1957) von Ingmar Bergman. Darin geht es um den Tod als Schachspieler, der nicht zu überlisten ist. Von den Porträts und Coverarbeiten führte Corbijns Weg zu den Musikclips, die in den achtziger Jahren zu einer eigenständigen Kunst wurden. Als Fotograf und Filmemacher arbeitet Corbijn auf eine „Entsättigung“ hin. Handlung bedeutet für ihn nicht Anreicherung, sondern Reduktion auf Wesentliches:

  • Charakter statt Pose
  • Entwicklung statt Verwicklung
  • Reduktion statt Fülle
  • Tiefe statt Breite
  • Verdichtung statt Verbreiterung
  • Zentrum statt Peripherien.

In der bunten Spaßgesellschaft der 1980er Jahre standen Depeche Mode (bis heute) für ein Klima der Wahrhaftigkeit. Ihre Songs treffen Generationen mitten ins Mark. Die Band ist ein Lebensgefühl: "Sei dir der Sterblichkeit bewusst" (so heißt das neue, 15. Studio-Album von Depeche Mode auch “Memento Mori"). "Irgendwann wird alles zu Ende gehen. Für jeden", bemerkt Dave Gahan dazu. "In der westlichen Welt ignorieren wir das oder wir schieben es irgendwie weg. Aber der Tod wird uns alle holen. Wir erinnern uns ständig daran, dass wir unser Leben in vollen Zügen genießen müssen." Die Band traf sich erstmals in Basildon in der Grafschaft Essex, nordöstlich von London, erstmals in einer christlichen Jugendgruppe. Sie hatten damals eine kleine Anhängerschaft und spielten in Clubs und kleinen Kneipen. Um 1983/84 herum waren sie auch schon wieder desillusioniert „von der ganzen geschäftlichen Seite", sagt Dave Gahan. "Von dem, was die Musikindustrie zu der Zeit glaubte zu sein. Wir waren dauernd unter Druck uns noch etwas Besseres einfallen zu lassen. Einen Hit." Sie wollten keine stromlinienförmige Angepasstheit. Sie spürten, dass der Druck ihre persönliche und künstlerische Entwicklung behindert.

Die offizielle, illustrierte Geschichte von Depeche Mode - fotografiert von Anton Corbijn

1981 fotografierte Corbijn die damaligen Synth-Teenie-Idole in London und in Basildon, Essex, für Plattencover. Dies war der Beginn einer langjährigen, intensiven Zusammenarbeit. Damals empfand er die Band noch als „zu poppig“. Fünf Jahre später transformierte Depeche ihren Sound, der melancholischer wurde. Corbijn drehte ein Video, das ihn zum Kreativdirektor der Band machte: Seit 1986 stammen sämtliche Fotos, die meisten Videos, Albumgrafiken und Bühnenbilder der Band von ihm. Ein besonders eindrucksvolles Dokument dazu ist der opulente Bildband „Depeche Mode by Anton Corbijn“. Präsentiert werden über 500 Fotos aus Anton Corbijns umfangreichem Archiv, darunter offizielle und private Porträts der Band in Orten wie Madrid, Hamburg, der Wüste Kaliforniens, Prag oder Marrakesch. Viele entstanden während der Dreharbeiten zu ikonischen Videos, wie „Enjoy The Silence“ oder „Personal Jesus“. Enthalten sind außerdem spontane Bilder sowie Live-Aufnahmen von ihren Tourneen seit 1988. Zusätzlich enthalten sind Skizzen und Entwürfe für Bühnenbilder und Albumcover, Corbijns handschriftliche Bildbeschriftungen sowie ein ausführliches Interview mit dem niederländischen Fotografen. In der Einleitung erinnert sich Corbijn an seine vielschichtige Rolle bei Depeche Mode: „Vieles hing von mir ab. Ich wollte einfach der Richtige für sie sein, für sie mitdenken und aus mir das Allerbeste herausholen.“ Leadsänger Dave Gahan sagt über das in enger Zusammenarbeit mit der Band zusammengestellte, 512 Seiten starke Buch: „Anton war in der Lage, dem Depeche-Mode-Sound, den wir zu kreieren begannen, eine visuelle Identität zu geben.“

Am 22. Februar starteten Depeche Mode ihre 2024er-Hallentournee in der Londoner O2-Arena, der Abschluss der Konzertreise ist am 08. April in der Kölner Lanxess-Arena.

Signierstunde von Anton Corbijn im Kölner TASCHEN Store am 4. April von 16 bis 18 Uhr (Neumarkt 3, 50667 Köln).

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Freie Publizistin und Autorin, Nachhaltigkeitsexpertin, Dr. Alexandra Hildebrandt

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Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".
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