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Arbeit am Selbstbild: Sich in Szene setzen gestern und heute

Die Arbeit am Selbstbild ist im Zeitalter der Digitalisierung und der Kommerzialisierung des Internets selbstverständlich. Instagram-Stars und Selfie-Berühmtheiten sind immer auf der Suche nach dem perfekten Schnappschuss. Ihre Konterfeis schmücken Produktlinien und Magazine. Der Influencer (to influence „beeinflussen“), von dem seit etwa 2007 im Marketing gesprochen wird, ist eine Person, die in den sozialen Medien bekannt wurde und eigene Inhalte, sowie Werbe-Content für Produkte und Dienstleistungen in Form von Posts, Fotos oder Videos veröffentlicht. Im Februar 2017 stellte die "Frankfurter Rundschau" die Verwandtschaft des Wortes "Influencer" mit "Influenza" (Grippe) her und hoffte, dass diese "Welle" rasch vorübergeht. Ging sie aber nicht.

„Zudem denkt und agiert der Influencer häufig global, ist ständig auf Reisen und repräsentiert einen konsumaffinen Kosmopolizismus“, schreiben Ole Nymoe und Wolfgang M. Schmitt in ihrem Buch “Influencer“, in dem sie auch kritisch bemerken, dass Influencer-Agenturen wie Kartelle fungieren, die ihren Klienten durch Vernetzungen Follower zuspielen. Verwiesen wird aber auch darauf, dass Influencer nicht nur das Storytelling beherrschen, sondern auch etwas bieten, das häufig verzweifelt gesucht wird: das Aufstiegsversprechen. Die „Schöpfungshöhe des Werks“ ist allerdings gering – oder nicht einmal vorhanden. Vor diesem Hintergrund gewinnt das folgende Thema an besonderer Bedeutung.

Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann (1875-1955) hatte Vergnügen daran, die Rolle des Erfolgsmenschen darzustellen. Die Erfahrungen „der Großen“ zu teilen hieß für ihn auch immer, sich wie einer von ihnen zu fühlen und öffentlich anerkannt zu sein. Seinen ausgeprägten Hang zur Selbstinszenierung fand seinen Niederschlag in mehr als 6.000 Fotografien, die zeigen, wie er seine eigene Geschichte inszeniert, indem er seine Interaktionen choreografiert und verschiedene Rollen darstellt – ob am Schreibtisch, am Kamin, vor dem Bücherregal, am Strand, beim Rauchen, Trinken und Essen oder beim Spaziergang mit Hund; immer setzte er sich wirkungsvoll in Szene.

So auch vor großem Publikum am 18. März 1832, vier Tage vor dem 100. Geburtstag Goethes – der letzte Kulturbürger (als den er sich damals verstand) präsentiert mit aufgesetzter Brille den ersten Kulturbürger. Ein anderes Bild zeigt ihn vor Goethes Gartenhaus in Weimar am 31. Juli 1949 mit einem noblen Automobil im Rücken. Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, dass inszenierten Porträts des charismatischen „Weltmannes“ (auf dem Weg von Amerika zurück nach Europa, an Deck des Passagierdampfers Berengaria, als Reisender in Sachen Goethe) einem Instagram-Account entstammen. Auch der Umgang des Autors mit den Fotos erinnert an das typische Verhalten der heutigen Selbstdarsteller: "Ich mag mich nicht sehen. Müßte anders ausschauen."

In ihrer repräsentativen Bild-Auswahl konzentrieren sich Rüdiger Görner und Kaltërina Latifi in ihrem Text-Bild-Band „Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene“ vor allem die kaum publizierten Einzelbildnisse und ihren biografischen wie werkgeschichtlichen Rahmen. Die Sammlung der von ihnen ausgewählten Fotografien erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv Zürich. Rüdiger Görner ist Professor für Neuere Deutsche und vergleichende Literatur an der Queen Mary University of London und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations. Kaltërina Latifi promovierte mit einer Arbeit zur Poetik E.T.A. Hoffmanns, Fellowship am Centre for Anglo-German Cultural Relations der Queen Mary University of London. Beide weisen nach, dass das Porträtiert-Werden Thomas Mann bis zum Lebensende blieb.

Die Bilder zeigen aber auch, dass er wirklich „erkennbar“ - weil ganz bei sich selbst - nur an seinem Schreibtisch war, der ihm Sicherheit und Kontinuität gab. Hier konnte er seine Gedanken sammeln und zu Papier zu bringen. Diese Arbeit setzte die Geborgenheit im Bekannten und Überschaubaren voraus. Nirgends arbeitete er allerdings lieber als am Meer – jedoch bedurfte es hier des Zeltes oder Strandkorbs. Zum Schreiben brauchte er immer ein Gehäuse über dem Kopf, welches zugleich die Atmosphäre seines Werkes schützt. Was er sein wollte, zeigt sich in diesem Satz: „Ich bin den Leuten viel lieber nur eine ‚Idee‘, wenn auch zugleich eine wirkende Kraft.“

Rüdiger Görner und Kaltërina Latifi: Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene. wbg THEISS, Darmstadt 2021.

Ole Nymoe und Wolfgang M. Schmitt Influencer. Die Ideologie der Werbekörper. Suhrkamp 2021.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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