Arbeitsmarkt: Wie können wir die stillen Reserven heben?
86 Milliarden Euro. So viel Wirtschaftsleistung geht Deutschland nach Berechnungen der Beratungsfirma Boston Consulting pro Jahr verloren. Der Grund: Arbeitskräftemangel. Im Ranking der wirtschaftsstarken Nationen liegt Deutschland damit auf dem zweiten Platz hinter den USA, und das ist in diesem Fall keine gute Nachricht.
Grundlage der Berechnung waren die Zahlen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das für das zweite Quartal 2022 1,9 Millionen offene Stellen gemeldet hatte. Auch wenn sich die Lage im ersten Quartal dieses Jahres mit bundesweit rund 1,75 Millionen offenen Stellen ein wenig entspannt hat, ist das trotzdem etwas weniger als eine Million über dem langfristigen Durchschnitt.
Diese Zahlen sind wichtig, denn sie zeigen die Entwicklung, über die ich bereits in meinen letzten Beiträgen geschrieben habe, sehr deutlich: Uns gehen die Arbeitskräfte aus. Und zwar in einem dramatischen Tempo. Ich bin der festen Überzeugung, dass es an uns allen liegt, für dieses Problem eine Lösung zu finden. Ich sehe hier drei Stellschrauben: den politischen, den unternehmerischen und den gesamtgesellschaftlichen Kontext.
Expertinnen und Experten sind sich einig, dass Deutschland dringend die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte braucht, um als Wirtschaftsstandort erfolgreich zu bleiben. Das Wort Wohlstandsverlust macht die Runde. Auch wenn wir im Moment einen Dämpfer der Konjunktur erleben und die Zahl der offenen Stellen sich zuletzt reduziert hat, bleibt das Grundproblem bestehen: Deutschland wird auf lange Sicht nie wieder so viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben wie im Moment. Wenn wir erfolgreich Talente aus dem Ausland anwerben und so den Anschluss nicht verlieren wollen, müssen wir die Rahmenbedingungen flexibler gestalten, und hier ist der Gesetzgeber gefragt. Denn wir befinden uns mittlerweile in einem globalen Wettbewerb um Arbeitskräfte.
Und auch bei diesem Punkt stehen wir leider nicht besonders gut da. Eine 2019 durchgeführte Studie der OECD und der Bertelsmann-Stiftung hat gezeigt, dass wir uns mit dem zwölften Platz nur im Mittelfeld befinden, was die Attraktivität für ausgebildete ausländische Fachkräfte angeht, die mindestens einen Masterabschluss haben. Ein Grund dafür ist der Umstand, dass ausländische Abschlüsse auf dem deutschen Arbeitsmarkt oft stark abgewertet werden – hier braucht es neue gesetzliche Regelungen.
In den stillen Reserven steckt riesiges Potenzial
Als CEO beschäftigt mich aber natürlich auch die Frage, was wir als Unternehmen tun können, um die Folgen dieses Fachkräftemangel-Tsunamis, der in Zeitlupe abläuft, abzufedern. An welchen Stellschrauben können wir drehen – sowohl einzeln als auch gemeinsam? Meiner Meinung nach haben wir die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, noch lange nicht ausgeschöpft. Da ist zum Beispiel das Thema stille Reserven, von denen wir in Deutschland sehr viele haben.
Stille Reserven sind zum einen Personen, die beschäftigungslos, verfügbar und arbeitsuchend sind, ohne als Arbeitslose registriert zu sein. Auch Mütter gehören dazu. Mütter, die oft gern (wieder) arbeiten würden, aber keinen Job finden, der ihren Bedürfnissen nach flexibler Arbeitszeit und vielleicht sogar Kinderbetreuung gerecht wird. Oder denen nur Stellen angeboten werden, die gerade mal die Kosten der Kita abdecken. Zum anderen sind es aber auch Menschen, die nach oft langer Suche entmutigt aufgegeben haben. Viele von ihnen würden aber bei guter Arbeitsmarktlage wieder aktiv werden. Die gute Nachricht für sie: Diese Arbeitsmarktlage ist jetzt da.
Es ist schwer, diese Menschen zahlenmäßig zu erfassen. Das Statistische Bundesamt hat es trotzdem versucht – und kommt zu einem in meinen Augen ziemlich dramatischen Schluss: In seiner neuesten Analyse beziffert es die Zahl der stillen Reserve im Jahr 2021 auf 3,1 Millionen Menschen. Angesichts von insgesamt rund 45 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland klingt das schon nach recht viel. Richtig spannend wird es aber, wenn man die stille Reserve mit der Anzahl der fehlenden Arbeitskräfte vergleicht, die für den Zeitraum mit 1,69 Millionen angegeben war – dann nämlich wären zumindest auf dem Papier all unsere Probleme gelöst. Wir können es uns als Unternehmen, als Wirtschaft und auch als Gesellschaft schlicht und einfach nicht mehr leisten, so viele Menschen, die oft qualifiziert und arbeitswillig sind, außen vor zu lassen.
Unternehmen müssen aktiv werden
Die Coronapandemie hat in der Arbeitswelt viel verändert und viel Flexibilität ermöglicht, wo vorher eher starre Strukturen geherrscht haben. Trotzdem agieren viele Unternehmen noch zu rigide, was flexible Arbeitsmodelle angeht – dabei gibt es dafür viele kluge Ideen und Konzepte. Sie reichen von Teilzeit, der zurzeit viel diskutierten Vier-Tage-Woche über dauerhaftes Arbeiten von zu Hause oder alternativer Vergütung in Form von mehr Freizeit bis hin zur Unterstützung bei der Kinderbetreuung.
Wie aber bringen wir Menschen, die längere Zeit nicht Teil des Arbeitsmarktes waren, wieder dazu, einzusteigen? Indem wir ihre Begeisterung wecken. Indem wir Hürden im Bewerbungsprozess eliminieren. Und indem wir Hürden im Arbeitsalltag abbauen. Darum müssen wir uns fragen: Muss es das umfangreiche Online-Formular oder das Assessment-Center sein? Akzeptieren wir nur geradlinige Lebensläufe, die keine Lücken haben? Wie können wir unsere Jobanzeigen so (um)formulieren, dass wir auch die stille Reserve zur Bewerbung ermutigen? Natürlich haben Menschen, die länger nicht gearbeitet haben, auch Kompetenzlücken, oft im digitalen Bereich. Aber Fortbildungs- und Weiterbildungsangebote sind hier etablierte Instrumente zum Gegensteuern.
Und wo wir gerade beim Thema sind: Die Digitalisierung eröffnet uns hervorragende Chancen, auch die Menschen wieder in den Arbeitsmarkt einzubinden, die nur über ein begrenztes Zeitkontingent verfügen. Remote Work bedeutet nicht nur Zeitersparnis, sondern auch dass man ortsunabhängig Menschen beschäftigen kann – ein Potenzial, das viele noch zu wenig ausschöpfen.
Und auch das Thema künstliche Intelligenz wird im Arbeitsalltag eine immer größere Rolle spielen. Während viele befürchten, dass ganze Berufsgruppen obsolet werden, bin ich hier positiver gestimmt. Die möglichen Produktivitätssteigerungen durch KI werden uns helfen, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, indem Routineaufgaben von der KI übernommen werden. Der Blick auf die Geschichte zeigt zudem, dass jeder neue Technologiesprung zu mehr neuen Arbeitsplätzen geführt hat, als durch die Technologie entfallen sind.
Gute Unternehmenskultur trägt zu Mitarbeiterbindung bei
Aber auch unzufriedene Arbeitskräfte tragen mit zum Problem bei – und damit kommen wir wieder zum Thema Unternehmenskultur. Indem sie weit unter ihren Potenzialen bleiben, kosten sie Unternehmen bares Geld. Und auch das summiert sich. 14 Prozent der Deutschen haben laut aktuellem Gallup Engagement Index innerlich gekündigt. Die dadurch entstehenden volkswirtschaftlichen Kosten aufgrund von Produktivitätseinbußen belaufen sich dabei laut Gallup auf jährlich 92,9 bis 115,1 Milliarden Euro, viele kennen die zitierten Zahlen. Hohe emotionale Bindung, die man vor allem mit einer positiven Unternehmenskultur erreichen kann, sorgt im Gegensatz dazu für höhere Qualität, geringere Fehlzeiten, weniger Arbeitsunfälle, höhere Kundenzufriedenheit, höhere Produktivität, bessere Vertriebsergebnisse – und dafür, dass die so dringend benötigten Talente sich für ein Unternehmen entscheiden.
All das zeigt uns: Wir haben als Unternehmen sehr eindeutige Stellschrauben, um den Arbeitsmarkt positiver zu gestalten. Wenn wir es schaffen, die bislang ungenutzten stillen Reserven besser einzubeziehen, dann haben wir schon eine Menge erreicht. Unternehmen, die hier proaktiv agieren, können sich so nicht nur einen strategischen Vorteil verschaffen, sondern tragen auch zur Stabilisierung unserer Ökonomie bei. Davon haben am Ende wieder alle was. Und auch gesamtgesellschaftlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass der Wohlstand, den wir für so selbstverständlich halten, ohne ausländische Fachkräfte und ohne alle die, die wir vom Arbeitsmarkt ausgrenzen, nicht auf Dauer gesichert ist.
Was ist Deine Meinung, welche Erfahrung hast Du bereits zu diesem Thema gemacht, welche Maßnahmen schon erfolgreich umgesetzt? Ich freue mich auf den Erfahrungsaustausch!
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Insider for Führungskultur + NEW WORK