Dr. Kai Kaufmann

Dr. Kai Kaufmann

for Stressmanagement, Resilienz, New Work, Gesundheit & Soziales

Beschleunigte Welt: Was uns jetzt besonders stärkt

Westend61/Getty Images

Über Jahrzehnte galten sieben Faktoren als Schlüssel für unser „psychisches Immunsystem“. Doch gerade in den letzten Jahren haben Psychologen und Soziologen feinere, konkrete Aspekte von Strategien erkannt, die uns in dieser hyperschnellen Zeit besonders helfen können. Ein Fokus liegt dabei auf der Art und Weise wie wir miteinander in Kontakt treten – im Job und im Privaten.

Permanenter Wandel ist in unserer heutigen Welt zur Konstante geworden. Und die Veränderungen geschehen rasend schnell. Auf allen Ebenen unseres modernen Lebens. Schritt halten fällt immer schwerer in Zeiten von Industrie 4.0, Globalisierung, Digitalisierung und Ultramobilität. Genau so fühlt es sich für immer mehr Menschen auch an. Sie sind atemlos, überfordert, aus der inneren Balance geworfen, isoliert trotz vielfältiger Vernetzung. Oft reichen die seelischen Widerstandskräfte unter diesen Bedingungen nicht aus, um Herausforderungen immer wieder zu meistern oder nach Rückschlägen wieder aufzustehen.

Fehlzeiten: psychische Erkrankungen als Ursache

Wie nötig wir ein gutes „seelisches Immunsystem“ – Resilienz – gerade jetzt brauchen, zeigen aktuelle Zahlen zu den Gründen für Arbeitsunfähigkeit oder gar Berufsunfähigkeit. An zweiter Stelle stehen für Arbeitsausfälle regelmäßig psychische Leiden – nur Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems führen häufiger zu Krankschreibungen. „Anders als bei den meisten anderen Krankheitsarten war bei Fehlzeiten aufgrund von psychischen Störungen erneut ein leichter Anstieg feststellbar“, heißt es im Gesundheitsreport 2018 der Techniker Krankenkasse.

Berufsunfähigkeit – psychische Erkrankungen auf Platz 1

Jeder Vierte wird in seinem Leben sogar berufsunfähig. Auf Platz 1 als Grund für Berufsunfähigkeit oder Erwerbsminderung sind nicht etwa Unfälle oder Krebserkrankungen, sondern psychische Erkrankungen und Nervenkrankheiten. Betroffen sind davon übrigens mehr Frauen als Männer. 

Besser erkannt: Burnout und Depressionen

Nun mag man abwiegeln: Depressionen, Burnout und Co. seien einfach gerade in Mode. Experten sehen dies meist anders. „Eine der Erklärungen für die häufigeren Krankschreibungen ist, dass die Menschen ihr psychisches Leiden heute eher akzeptieren und Hilfe suchen“, erklärt Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbands und Krankenversicherungsexperte, gegenüber der „Wirtschaftswoche“. Ein weiterer Grund aus Sicht vieler Experten: Ärzte erkennen diese Erkrankungen und Störungen heute besser.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb das Thema Resilienz seit einigen Jahren auf den Titelseiten von Magazinen steht und Unternehmen ihren Mitarbeitern Resilienztrainings anbieten. Was die individuelle seelische Widerstandskraft stärker macht, ist heute gut erforscht. In der Regel wird dabei von sieben klassischen Resilienzfaktoren gesprochen. Doch hat die Forschung gerade in den letzten Jahren das Resilienzfeld erweitert, neue Schwerpunkte entwickelt und konkretere Strategien benannt.

Was hinter dem Begriff VUCA-Welt steckt

Die neuen, ergänzenden Resilienzfaktoren sind spannend, weil sie neue Akzente setzen, die eng mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer modernen Welt verbunden sind. Soziologen sprechen dabei von der sogenannten VUCA-Welt. Das Acronym steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Veränderungen finden in dieser Welt sprunghaft schnell statt und sind in ihren Auswirkungen kaum noch durchschaubar. Eine Herausforderung für jeden von uns.

Moderne Zeiten: Taktgeber für individuelle Resilienz

In dieser Arbeits- und Lebensrealität brauchen wir in besonderem Maße innere Stärke. Welche Faktoren Psychologen, Soziologen und Neurowissenschaftler hierzu aktuell diskutieren, sagt viel über unsere VUCA-Welt aus. Denn der Blick der Wissenschaftler richtet sich gerade auf die heutigen Lebensbedingungen und ihre besonderen Herausforderungen, um daraus notwendige individuelle Resilienzstrategien abzuleiten.

Wir brauchen ein Wir-Gefühl

Schon Mitte des letzten Jahrhunderts erkannte der Medizin-Soziologe und Vater der Salutogenese Anton Antonovsky ein „Gefühl von Sinnhaftigkeit“ als Kernelement für Gesundheit. Antonovsky gilt auch als ein Pionier der Resilienzforschung. Aus Sicht von Prof. Tatjana Schnell, assoziierte Professorin für Psychologie an der Universität Innsbruck, ist Sinn-Erleben eng gebunden an ein Wir-Gefühl. Nun sind die postmodernen, hyperschnellen und -mobilen Gesellschaften aber stark von Individualismus geprägt. Sinnhaftigkeit durch soziale Verbindungen geht da schnell verloren.

Es gilt deshalb, wieder verstärkt Möglichkeiten zu finden, auch in unserer VUKA-Welt ein Wir-Gefühl zu entwickeln. Nicht nur im Privaten, sondern auf allen Ebenen. Eine gute Teambildung im Job, ist immer auch eine effektive Resilienzförderung der Mitarbeiter und des Unternehmens. Ein Wir-Gefühl lässt sich auch außerhalb des Berufs in Gruppen mit den gleichen Interessen bilden. Die Jugendbewegung um Aktivistin Greta Thunberg macht es gerade vor.

Burnout-Ursache: Zu schlechte Beziehungen?

In eine ähnlich Richtung wie Prof. Schnell weist auch eine Beobachtung, die die Ärztin und Resilienzexpertin Dr. Mirriam Prieß während der Behandlung von Burnout-Patienten in einer psychosomatischen Fachklinik machte. „Es wurde deutlich, dass sich die Betroffenen nicht an zu viel Arbeit, sondern an zu wenig oder zu schlechten Beziehungen erschöpft hatten“. Was zunächst einmal als steile These erscheint, wirkt im Zusammenhang mit der Bedeutung von Sinnhaftigkeit und sozialen Beziehungen überzeugend.

Es fehlen uns „Resonanzbeziehungen“

Einer der bekanntesten Soziologen und Zeitforscher Deutschlands, Prof. Hartmut Rosa, warnt vor dem „kollektiven Burnout“. Die Vielfalt an Optionen und die Sucht nach ständiger Selbstoptimierung führe in unserer beschleunigten Welt zu immer schlechteren Beziehungen. Auch er sieht also eine ganz bestimmte Form unserer Beziehungen als entscheidend an für individuelle, aber auch kollektive Resilienz. 

Die Lösung liege in mehr echten Beziehungen, die Rosa Resonanzbeziehungen nennt. In dieser Form von Beziehungen kommt es zu einer wechselseitigen Beeinflussung. „Ich glaube, Menschen streben danach, auf lebendige Weise mit der Welt verbunden zu sein. Dazu gehört das Verbunden-sein mit anderen Menschen, Liebe, Wertschätzung, dazu gehört aber auch das Verbunden-sein mit der Natur, mit sich selbst und mit dem eigenen Körper“, sagt Rosa gegenüber dem SWR2. Und dies geht weit über den klassischen Resilienzfaktor "Netzwerkorientierung" hinaus. 

Fehlt es unseren Beziehungen an Resonanz, komme es zu Entfremdung. Die radikalste Form von Entfremdung sei „die Erfahrung von Burnout, wenn alle Resonanzachsen verstummt sind und uns die Welt bleich, tot und leer erscheint“, so Rosa. Ein Gefühl, das in unserer rasend schnellen und megakomplexen Welt immer mehr Menschen zu kennen scheinen. Der Weg zueinander, zur Natur und zu mehr Sinn könnte helfen.

Die klassischen Resilienzfaktoren im Überblick:

  • Optimismus
  • Lösungsorientierung
  • Akzeptanz
  • Selbstwirksamkeit
  • Eigenverantwortung
  • Netzwerkorientierung
  • Zukunftsplanung

About the author

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Trainer für Stressmanagement, Resilienz (Seminare, Coaching), Dr. Kai Kaufmann

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Dr. Kai Kaufmann war 15 Jahre als Führungskraft für Verlage tätig. Nach einem Burnout stellte er die Weichen für sein Leben neu. Heute unterstützt er als Trainer für Stressmanagement und Resilienz Unternehmen und ihre Mitarbeiter. Als Medical Writer publiziert er bis zu 30 Fachartikel jährlich.
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