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„Blasenautismus“, Klimakrise und Artenschwund: Welche Wunder sind nötig, um unseren Planeten noch zu retten?

Interview mit Rolf Mohr, Diplompsychologe mit Approbationen in Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie, Oberstleutnant d. R., erfolgreicher Führungskräftetrainer und Verfasser zahlreicher Fachpublikationen.

Herr Mohr, als jemand, dem Menschliches in seinen verschiedenen individuellen und kulturellen Ausprägungen vertraut ist und der sein kindlich (be)wunderndes Beobachten nie abgelegt hat, ebenso wenig den unschuldigen Blick auf vielleicht Übersehenes, sprechen Sie in vielen Ihrer aktuellen Publikationen von „Resthoffnung“ und der Dringlichkeit, zu handeln …

… ja, denn die Zeit drängt enorm. Vor mehr als fünfzig Jahren hat Dennis Meadows mit dem Weltbestseller „Die Grenzen des Wachstums“ – den Ergebnissen der Studien des „Club of Rome“ – die Welt aufgerüttelt. Diese fünfzig Jahre sind vergangen, und wir haben heute mehr Probleme (und die sind zudem gravierender), nun aber kaum noch Zeit. Zu den drei zeitgleichen, dabei rasant fortschreitenden Tragödien des Globus gehören: die Klimaentwicklung, der Verlust an Biodiversität und das radikalisierende Auseinanderdriften menschlicher Auffassungen über die eine gemeinsame Realität in Richtung Unvereinbarkeit. Das Klima und seine menschengemachte, kürzlich erneut und besonders eindringlich vom IPCC bestätigte, in Richtung Katastrophe weisende Entwicklung ist als Thema im breiten Bewusstsein der „aufgeklärten“ Welt angekommen, wenngleich in unterschiedlicher Betrachtung und Bewertung.

Inwiefern?

Das Artensterben, das vergleichbar bedrohlich ist, hat bei Weitem noch keine adäquate allgemeine Aufmerksamkeit erreicht. Wo immer es doch schon im Blickfeld ist, wird seine Problematik meist einseitig assoziiert mit dem Klimawandel. So bleiben Herbizide, Fungizide, Pestizide, Überdüngung, Plastikmüll, Mikro- und Nanoplastik, Luftschadstoffe und Feinstaub, Übersäuerung, Monokulturen und der ganze Rest mörderischen menschlichen Einflusses und Raubbaues nicht mitbedacht: der Artenmord an Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroben.

Zwar existiert – neben jüngeren deutschen höchstrichterlichen Überraschungsurteilen – bereits in Ecuador, Panama und wenigen anderen Staaten ein „Recht der Natur“, das vor Gericht stellvertretend von Bürgern eingefordert werden kann, um dem unverantwortlich (selbst-)mörderischen menschlichen Umgang mit den unverzichtbaren Ressourcen aller Existenzen auf diesem Globus entgegenzuwirken. Allerdings sind derlei vereinzelte Rechtstitel angesichts der weltweiten täglichen Vernichtungspraxis nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Noch weniger als für den Artenmord ist ein Bewusstsein öffentlich entwickelt für die Kostenseite der Digitalisierung, deren schlimmste ich mit „Blasenautismus“ bezeichnet habe. Der gesamtgesellschaftlich verändernde Einfluss der Digitalisierung auf den gegenwärtigen Alltag wird jedem Fahrgast des ÖPNV, jedem Flaneur auf der Einkaufsmeile der Stadt und jedem Dozenten in Lehrveranstaltungen deutlich vor Augen geführt: das digitale „Netz“ ist omnipräsent und wird nahezu überall genutzt.

Welche Folgen hat die Blasenbildung?

Was wir heute mit „Blase“ zu bezeichnen gelernt haben, die Verfestigung von Überzeugungen in bestimmten Gruppierungen, die Verstärkung dieser Überzeugungen durch gruppeninternen Austausch und die hermetische Abgrenzung zu allen anderen, hatte schon bei unseren Altvorderen eine Entsprechung, allerdings mit völlig anderem, fast gegensätzlichem Ursprung im Vergleich zur Blasenbildung heutiger Zeit. Die Exklusivität unterschiedlicher Weltsichten und Bewertungen früherer Menschengruppen resultierte wesentlich aus der Enge ihres damaligen Nachrichten- und Austauschhorizonts. Sie führte dazu, dass man sich in solch lokaler und sozialer Nachbarschaft in den Überzeugungen gegenseitig bestärkte und andere Weltsichten in diesem engen Horizont des Austausches kaum vorkamen.

In anderen Regionen verfestigten sich auf ähnlichem Weg möglicherweise ganz andere Überzeugungen. Vielfach wurden diese Unterschiede solcher Überzeugungen regionaler Sozietäten durch religiöse oder anderweitig machtpolitische Einflüsse maßgeblich verstärkt und konnten sich auswachsen: zu Abgrenzungen, zu kollektiven Vorurteilen, zu Animositäten und – im Extrem – zu Kriegen.

Weshalb haben heutige Blasen eine gegenteilige Genese?

Früher war es die Nichtverfügbarkeit andersartiger Informationen infolge des allzu engen Nachrichtenhorizonts einer Sozietät, welche die interne Selbstverstärkung der Überzeugungen forcierte. Heute ist der Nachrichtenhorizont weltweit, alles ist verfügbar: Jeder hat zu jeder Zeit Zugriff auf jede Information. Die Explosion der Verfügbarkeit, die das Individuum maßlos überfordernde Fülle an unaufwendig erreichbarer, gar überflutender Information zwingt uns Heutige zu selektiver Aufmerksamkeit. Wir wählen aus und filtern den Rest weg.

Und hier unterscheiden sich die Menschen. Anfänglich bilden sich erste Unterschiede eher zufalls- oder neigungsbedingt, vielleicht beeinflusst durch das menschliche Umfeld, durch Bildung oder prägende Erfahrungen und andere Einflüsse, die den zuzulassenden, den zu bevorzugenden Informationen die positiven Vorzeichen verleihen und den eher als „irrelevant“ oder „wenig vertrauenswürdig“ und daher wegzufilternden die negativen. Weil niemand gern mit sich selbst im Widerspruch lebt, folgt daraus, dass die der Überfülle verfügbarer Information geschuldeten Prozesse der Auswahl zunehmend einseitig geraten.

Wie geschieht das im Einzelnen?

Vorzugsweise selbstverstärkend, weil doch dissonante Informationen entweder erst gar nicht aufgefasst, oder, wenn doch, als irrelevant oder falsch bewertet und dann weggefiltert werden. Im sozialen Austausch mit „Seinesgleichen“ führt dies innerhalb der jeweils gleichgesinnten Gruppe (sich selbst wie auch einander verstärkend) zur Bildung einer „Blase“ der neuzeitlichen Art, in der Folge dann entsprechend zum „Blasenautismus“.

Diese Verselbstständigung und Verabsolutierung nicht kompatibler und nicht harmonisierbarer Weltauffassungen ist der bislang unerkannte große Kostenfaktor der Digitalisierung; besonders teuer in Kombination mit der dräuenden Klimakatastrophe und dem Voranschreiten des Artensterbens als dritter Letalfaktor, wo doch gerade jetzt Einmütigkeit nötiger ist denn je. Wieviel divergierende Wahrnehmung unserer einen tatsächlichen, gemeinsamen Wirklichkeit verträgt unsere Welt – gerade in dieser Zeit? Früher war Eroberung, Kolonisation und Krieg die unmittelbare Konsequenz solcher menschentypisch wie inhuman ’blasierten Geisteshemmung’ der humanen Spezies. Heute ist ihre Konsequenz das Ende allen Überlebens.

Welche Entwicklungen sind für Sie erschreckend?

Vor allem die Vielfalt von inzwischen immer lautstärker und absoluter sich artikulierenden abweichenden Wahrnehmungen und radikal parteiisch feindseligen Wertungen dessen, was diese auf Vielfalt in gegenseitigem Respekt bauende Weltgesellschaft ausmacht. Da werden aufklärende Journalisten ebenso angefeindet und attackiert wie die für die Einhaltung notwendiger Standards des Miteinanders eingesetzten Ordnungskräfte, da werden um Fortschritte der Gesellschaft ringende Politiker, selbst ehrenamtliche, und deren Familien beschimpft und auch physisch bedroht, so dass in naheliegender Folge bald nur noch krankhaft Gestörte für derlei Funktionen zu gewinnen sein werden, kaum jedoch die Menschen, denen die Bürger vertrauen können.

Was ist die Folge?

Es entwickelt sich hier eine kaum zu verantwortende Unfähigkeit gegenwärtiger Gesellschaften, solch krankhafte Desorientierung zu diagnostizieren und, wo immer möglich, zu korrigieren und zu renormalisieren. Es wäre vornehme Pflicht aller wissenschaftsorientierter Psychiatrien, als erste warnend die Finger zu heben und gesellschaftliche Reaktionen und Vorkehrungen anzuregen, zu fordern.

Solches ist unterblieben, ebenso die gesunde Reaktion einer – noch – gesunden, psychiatrisch nicht vorgebildeten Allgemeinheit. Diese partielle bis totale Entwirklichung von Individuen und Gruppierungen in unserer Gesellschaft ist bereits gefährlich weit vorangeschritten in unserer Gesellschaft und auch in anderen. Die Menschenwelt wird immer radikaler, immer ‘verrückter‘. Das sollte dringend aufgedeckt, es sollte schleunigst ins allgemeine Bewusstsein gebracht und zum Anlass genommen werden für gezielte, effiziente „Re-Orientierungsmaßnahmen“; denn: Jetzt geht’s um den Globus, nicht um Globuli.

Welche Wege wären denkbar für die Rettung der Erde?

Denken wir zunächst doch einmal über eventuelle letzte Chancen der Jetztzeit für ein künftiges Überleben nach. Das sollte verpflichtend sein, bevor wir – angesichts der illusorisch erscheinenden Aufgabe – alle Hoffnung auf künftiges Überlebensglück fahren lassen, auch solches der Kinder und Enkel, und, bevor wir, als mörderische Mittäter, des eigenen Schafotts bewusst, die Zukunft dieser einzigartigen Lebenswelt und ihrer Wesen, letztgültig resignierend, vielleicht aber doch vorschnell, verloren geben! Gibt es etwas, das Hoffnung macht in der nahezu aussichtslosen Lage? Lösung kann wohl nicht von Pilzen, Petunien, Platanen und Pavianen, aus der belebten Natur, erwartet werden. Wir sind gefragt, die Täter selbst!

Bleibt die hoffnungsvoll zu stellende Frage, ob die (kulturell mehr als zivilisatorisch) trennenden Jahrhunderte der aktuell lebenden „Menschheiten“ in der sehr kurzen, zur Rettung des Globus nur optimistisch noch erwartbaren Zeit (vielleicht 40, vielleicht 50 Jahre) von fast allen – quasi im Zeitraffer – aufgeholt werden können, damit sie, kalendarisch und verantwortungs- und gestaltungspraktisch im gemeinsamen „Jetzt für eine Zukunft des Lebens“ ankommen und dabei konzertiert mitwirken können?

Einzige verantwortliche Losung muss folglich werden: kein Konflikt! Jede Menge Wettbewerb!

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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