Brauchen wir heute noch eine Stammtischkultur?
Orte der Einkehr
Der Satiriker Gerhard Polt sagte einmal: „Wo Bier ausgeschenkt wird, kommen Menschen ins Gespräch, kommen sich näher und entwickeln interessante Gedanken.“ Soziologen sprechen von Dritten Orten. Der Fachausdruck wurde von Ray Oldenburg in seinem Buch „The Great Good Place“ eingeführt, das ursprünglich 1989 veröffentlicht wurde (Nachdrucke erschienen 1997 und 1999). Neben dem eigenen Heim ("Erster Ort") und dem Arbeitsplatz ("Zweiter Ort") ist der „Dritte Ort“ von großer Bedeutung ist für das Funktionieren einer Gesellschaft. Darunter werden städtische Begegnungsräume (gathering spaces) verstanden, in denen sich Menschen versammeln und trennen können - und in denen Öffentlichkeit hergestellt wird. Neben Galerien, Bibliotheken, Museen, Theater, Buchläden oder Kirchen, Cafés und Restaurants gehören auch Kneipen dazu, die ebenfalls wegen der Pandemie geschlossen sind. Erst dadurch wird klar, wie wichtig sie für eine Gesellschaft sind. Denn diese Oasen schaffen Nähe und bieten uns die Möglichkeit, uns aus der Dauererreichbarkeit auszuklinken und das Gefühl der Selbstvergessenheit zu erleben.
Gerade jetzt vermissen viele Menschen Orte der Einkehr in ihrer Nähe.
Dem „ganzen aktuellen Wahnsinn“ möchte Toni Lauerer, der sich selbst als „notorischer Wirtshausgänger“ bezeichnet, etwas Nachhaltiges entgegensetzen. Der Autor und Kabarettist aus Furth im Wald, der zur Spitze der Bayerischen Humoristen gehört, möchte mit seinem aktuellen Buch „Gestern beim Unterwirt“ Menschen zum Lachen bringen und ihnen unbeschwerte Stunden verschaffen. „Das sind Geschichten, die das Leben beziehungsweise der Stammtisch – beziehungsweise das Bier schreibt!“ Häufig genügt schon ein Stichwort, und schon fällt einem Anwesenden eine passende Geschichte oder ein Gerücht ein. Das Buch basiert zum großen Teil auf wahren Begebenheiten und Erlebtem. Toni Lauerer hat das meiste davon so übernommen, wie es gesprochen wurde (boarisch, kernig, lustig), nur manchmal holte er noch etwas aus.
Mit seinem Projekt möchte er dazu beitragen, dass die Stammtische in einem positiven Licht gesehen werden und erkannt wird, dass mit ihrem Sterben auch ein Stück der regionalen Identität verloren geht. „Die Tendenz, dass jeder möglichst für sich dahinlebt und man sich nicht mehr einfach ‚zammsitzt‘ und ‚ratscht‘, hat sich in den letzten Jahren leider verstärkt.“ Dabei sind die dörflichen „Kommunikationszentralen“ so wertvoll, denn hier verbindet sich Weltbewegendes, Lokales und Politisches, Privates, Gerüchte, Sportliches und Banales.
Der Resonanzboden des Stammtisches ist auch gesellschaftlich nicht zu unterschätzen.
Denn man vertraut den Personen, die darüber sprechen, vor allem aufgrund der privaten Verbundenheit. Es ist nicht nur ein humoristischer Beitrag, um die Corona-Zeit etwas erträglicher zu machen, sondern auch ein Plädoyer zur Erhaltung der Dorf- und Schankwirtschaften, deren Zahl in Deutschland seit Jahrzehnten zurückgingen. Zu den wichtigsten Gründen gehören: Landflucht, verändertes Freizeitverhalten, Konkurrenz durch Vereinsheime, Personalprobleme, unattraktive Arbeitszeiten und der Einfluss von Social Media.
Warum braucht eine Gesellschaft, die immer komplexer und schnelllebiger wird, eine Stammtischkultur? Lässt sie sich im digitalen Zeitalter überhaupt noch pflegen? Die Antwort lautet eindeutig ja, denn die Sehnsucht nach Nähe und unmittelbarem Austausch sowie die Pflege der heimatlichen Wurzeln wird sich auch künftig noch verstärken. Auch aus diesem Grund setzt sich der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) in Bayern dafür ein, dass die bayerische Wirtshauskultur von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wird.
Weiterführende Informationen:
Verein zum Erhalt der bayerischen Wirtshauskultur
Toni Lauerer: Gestern beim Unterwirt. Wirtshausg’schichten aus Bayern. MZ-Buchverlag (Battenberg Gietl Verlag GmbH). Regensburg 2020.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.
Franz Kotteder: Dorfkulturerbe. In: Süddeutsche Zeitung (1./2.4.2018), S. 2.