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Chronist der Selbstbestimmung: Überall und nirgends sichtbar

Das Bedrückende versachlichen

Der österreichische Schriftsteller Alfred Kubin meinte in einem Brief an den Dichter Peter Scher: „Objektiviere die Hölle.“ Wird das Bedrückende versachlicht, ist es erträglicher. Das gilt auch für den Roman „Verwirrnis“ von Christoph Hein, der als Autor ganz hinter den Stoff des Buches zurücktritt. Mitgefühl und Anteilnahme werden sprachlich nicht „produziert“, sondern erst während des Lesens ausgelöst. Gern zitiert Hein Gustave Flaubert, der einmal gesagt hat, dass man als Autor wie Gott sein müsse: überall anwesend und nirgends sichtbar. Hein selbst versteht sich als Chronist, der in seinen Büchern große gesellschaftliche Ereignisse und Einzelschicksalen miteinander verwebt. Jede „Textur“ ist akkurat gesetzt. Inhalt und Form sind deshalb so wertvoll, weil sie zeitlos sind.

Der Protagonist seines Buches „Verwirrnis“, Friedeward Ringeling, war schon in den Sechzigerjahren ein „kostbares Relikt aus der Welt der Großmütter, der Kutschen und Hauskonzerte“. So beschreibt ihn der Autor akribisch im ersten Abschnitt. Er legt Wert auf Etikette und korrekte Kleidung. „Er war ein edler Mensch“, heißt es, „diese aus der Mode gekommene Zuschreibung entsprach ihm vollkommen.“ Auch an „Das Göttliche“ von Goethe wird damit erinnert: "Edel sei der Mensch / Hilfreich und gut!" Das Aufgeben gewisser Verhaltensregeln hätte für Friedeward einen Kulturverfall bedeutet. Das Buch zeigt, warum wir unsere Manieren im Irrsinn der Welt nicht aufgeben sollten, weil sie uns eine eigene Haltung verschaffen.

Christoph Hein erzählt zwar wie ein unbeteiligter Beobachter, der weder bewertet noch urteilt, aber er hat immer Haltung. Das Schreiben ist für ihn auch ein moralischer Akt, weil es ihm zugleich eine innere Klarheit im Denken verschafft, das schreibend immer im Training bleiben muss. Es geht auch um ein dauerndes Ringen („Ringeling“), um Ästhetik, ständige Übung und Kontinuität, das Leben in einer bleibenden Form auszusprechen. Christoph Hein wurde 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Eine Lebens- und Liebesgeschichte

Sein Roman "Verwirrnis" ist eine Liebes- und eine Lebensgeschichte, die vom großen Kampf um Autonomie und Selbstbestimmung handelt: Sie beginnt kurz nach Kriegsende im Eichsfeld, wo „selbst die Parteisekretäre katholisch sind“. Dort arbeitet Friedewards Vater, ein strenggläubiger Christ, als Lehrer. Bei seinen Kindern hält er sich an den Spruch, dass Prügeln ein Zeichen der Liebe sei. Sein Erziehungswerkzeug war der "Siebenstriemer", eine siebenschwänzige Peitsche. Seine Brutalität begründet er mit der Härte, die er als Kind selbst erfuhr. Nur deshalb sei er im Unterschied zu anderen aufrecht durch die Nazizeit gekommen. Die Tochter entzieht sich durch Heirat mit einem älteren, kriegsversehrten Papierwarenhändler. Sohn Hartwig verschwindet heimlich, und Friedeward betet um den Tod des Vaters.

Eigene Freiheitsräume erobert er sich erst in der Freundschaft mit Wolfgang. Beide achten auf guten Stil und lesen moderne Dichter. Beim Ostseeurlaub entdecken sie am FKK-Strand mehr als Sympathie füreinander. Für Friedewart ist es die Entdeckung der eigenen Homosexualität. Schwul zu sein war damals in Ost und West ein Straftatbestand. Als der Vater die beiden gemeinsam im Bett entdeckt, behaupten sie, dass sie „Tonio Kröger“ von Thomas Mann überprüfen wollten. Es gibt wieder Peitschenschläge. Friedeward sieht erst im Studium die Möglichkeit, sich vom Vater zu entfernen. Da ist ihm längst bewusst, dass er homosexuell ist. Friedeward fühlt sich schuldig und durch sein sexuelles Begehren beschmutzt: „,Ich bin schuldig geworden, Vater‘, sprach er mehrmals am Tag laut vor sich hin und wusste dabei selbst nicht recht, ob er seinen Vater Pius Ringeling oder den himmlischen Vater ansprach.“ Je sündiger er sich fühlt, umso korrekter wird seine übrige Lebensführung. Mustergültig seine Kleidung, geschliffen seine Umgangsformen.

Leidet der Geisteswissenschaftler Friedeward in Jena noch unter der „Rotlichtbestrahlung“, fühlt er sich später während des Studiums im liberalen Leipzig in den 50er-Jahren frei. Er studiert hier Germanistik, Wolfgang wird Kirchenmusiker – beide schließen sich mit der Studentin Jaqueline zusammen, die eine heimliche Beziehung mit einer Dozentin lebt. Alle leben angespannt in ständiger Selbstkontrolle und tarnen sich mit einem Mantel aus Bürgerlichkeit. Von klein auf wurden sie in eine Maske gepresst und waren bestrebt, äußerlich die Erwartungen anderer zu erfüllen: Wolfgang verlobt sich zum Schein, und Friedeward heiratet sogar. Durch den „Mantel von Gutbürgerlichkeit“ ist auch seine Frau Jacqueline geschützt. Auch wenn sie die Gesetze ändern, ändert sich nicht viel: Der berüchtigte Paragraf 175 wurde in der DDR 1968 gemildert und 1988 gestrichen. In der Bundesrepublik galt er bis 1994. Nur am Theater, sagt Jacqueline, kümmert es keinen, wer wen liebt. Sie arbeitet als Dramaturgin am Staatsschauspiel Dresden.

Mit dem Spitznamen Goethe-höchstselbst bedenken die Studenten „den“ scharfsinnigen Gelehrten der Leipziger Germanistik (der Name Hans Mayer wird im Buch allerdings nicht genannt). Mayer hatte 1948 als Institutschef begonnen und war 1963 nach einer Reise im Westen geblieben. Er sei zu bürgerlich, hieß es, und vernachlässige die Literatur der DDR. Verlag und Rundfunk kündigten seine Verträge, und es drohte der Entzug der Lehrbefugnis. Mayers Homosexualität spielt im Buch keine Rolle. Vor allem Friedeward, der Oberassistent am Germanistischen Seminar in Leipzig wird, leidet unter der Angst, dass seine „Neigung“ publik werden könne. Wolfgang, der angehende Pianist, sieht seine Vorlieben selbstbewusster. Beide leben sich schließlich auseinander: Als Wolfgang zum weiteren Studium in den Westen zieht, macht die Politik aus seinem Schritt eine endgültige Trennung, als 1961 die Mauer gebaut wird. Friedewart bleibt für den Rest seines Lebens allein als verheirateter Mann.

Christoph Hein spannt in seinem neuen Roman den Bogen von den Fünfzigerjahren bis in die Neunziger und bezieht die große politische Geschichte dieser Zeit mit ein: den 17. Juni, den Bau der Berliner Mauer, den Überwachungsdruck in der DDR, Mauerfall, Wende und das Ende der ostdeutschen Hochschullandschaft nach dem Herbst 1989. Im Roman wird dies am Beispiel der Leipziger Universität beschrieben. Einer von Friedewards Kollegen muss als neuer Rektor den Betrieb „evaluieren“: „Nach den ministeriellen Vorgaben haben wir unseren Standard auf das bundesdeutsche Niveau herunterzufahren.“ Mehr als jeder zweite Mitarbeiter wird entlassen. Das sind nicht nur Funktionäre, sondern auch renommierte Fachkräfte, die auch bei den Montagsdemonstrationen dabei waren.

Der Rektor ist empört, denn der Abwicklungsbeschluss der Landesregierung habe eine gesunde und intakte Hochschullandschaft zerstört. Die Universität sei in die Hände von Liquidatoren gefallen und mit dem Verkauf der Immobilien enteignet worden. Der Rektor kann den Kollegen nicht halten. Es sei denn, Friedeward schreibt auf, wie er von der Stasi wegen seiner Homosexualität erpresst wurde. Er verpflichtete sich, einen Bericht von einer Reise nach Wien anzufertigen. Obwohl er nur das offizielle Programm des Kongresses abgeschrieben hat, fiel ihm das Schriftstück nach der Wende auf die Füße, als die Akte entdeckt wurde und ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi enttarnte. Sich öffentlich zu bekennen, hat er immer verweigert. Der Roman endet mit Friedewards Tod 1993.

Seine "Schuld" ist in ihm all die Jahre wie ein Schläfer geblieben - jederzeit erweckbar bis zur Selbstauslöschung. „Verwirrnis“ widmet sich der Würde des Menschen, die im Fokus der humanistischen Psychologie steht. Der Mensch wird hier als von seiner Umwelt abhängig gesehen - im Laufe der Entwicklung erreicht er allerdings immer mehr Selbstbestimmung. Sie beginnt dort, wo eine Ent-Scheidung getroffen wird.

Christoph Hein: Verwirrnis. Roman. Suhrkamp, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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