Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Computer sagt Nein: Bewerben wird immer unmenschlicher – oder gerechter?

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Robot Recruiting, Matching-Tools, Cultural-Fit-Algorithmen, Interview-Bots. Von künstlicher Intelligenz im digitalisierten Recruiting ist die Rede und erste Studien zeigen, dass die Qualität der maschinellen Bewerberauswahl der einer menschlichen Entscheidung um nichts mehr nachsteht.

Doch für die meisten Bewerber ist es heute noch sehr befremdlich, gleich wenige Sekunden nach Hochladen ihrer Unterlagen die automatisch generierte Absage retour ins Postfach zu bekommen, vor dem ersten Kennenlernen einen Persönlichkeitstest beantworten zu müssen oder das erste Interview per Videochat mit einem Sprachcomputer zu führen. Wird der Recruiting- und Bewerbungsprozess immer unmenschlicher – oder gerechter?

"Wenn Sie nichts mehr von uns hören, passte es nicht."

Kürzlich leitete mir ein Klient die Eingangsbestätigung auf seine Bewerbung weiter und war entrüstet über die Unverschämtheit seines bis zu diesem Zeitpunkt noch Wunsch-Arbeitgebers, denn er las: „Danke für Ihre Bewerbung. Wenn Sie nichts von uns hören, hat es nicht gepasst.“

Wie jetzt – nicht mal mehr eine Absage?! Ich konnte seine Verwunderung verstehen und frage mich, ob sich dieser Arbeitgeber Gedanken darüber macht, wie sich ein Bewerber fühlt, der viel Zeit und auch Gedanken in seine Bewerbung investiert hat und diese Antwort inklusive prophylaktischer Absage erhält. Wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe sieht anders aus.

Müsste es nicht vielmehr ein Fortschritt der Automatisierung sein, dass ein Bewerber-Managements-System gewährleistet, wirklich an jeden Bewerber nach entsprechenden HR-Entscheidungen im Laufe des Prozesses eine Absage zu senden und so Klarheit zu schaffen? Mit Kunden würden Unternehmen so nicht kommunizieren. Der Bewerber schrieb mir am folgenden Tag, er habe seine Bewerbung dort zurückgezogen.

Matching-Tools: Computer sagt Nein!

Immer mehr Unternehmen setzen bei der Erstauswahl sogenannte Matching-Algorithmen ein. Das System wird mit Keywords und Bedingungen als Anforderungen an das ideale Kandidatenprofil gespeist und die Unterlagen sowie Eingaben des Bewerbers werden daraufhin analysiert und abgeglichen. Wer viele Treffer erzielt, kommt eine Runde weiter, Bewerber mit niedrigem Matching-Score fliegen automatisch raus.

Ich verstehe, dass Arbeitgeber ihre Recruiting-Prozesse effizient gestalten und insbesondere die Erstsichtung von Bewerbungen zeit- und ressourcenintensiv ist. Doch wenn Bewerber spitz bekommen, welche Keywords sie in ihr Anschreiben einbauen müssen, um vom System positiv bewertet zu werden, dann verkümmert Bewerbung zum Ratespiel um die besten Bullshit-Bingo-Begriffe.

Und so plappern gewiefte Bewerber heute schon stupide nach, was sie in der Stellenausschreibung lesen. Plötzlich sind sie alle teamfähig, belastbar und kundenorientiert. Hauptsache, dem Algorithums gefällt es. Individualität und vor allem die persönliche Note einer Bewerbung gehen verloren. Und auch für Personaler wird es immer schwieriger, Kandidatenprofile voneinander zu unterscheiden und zu bewerten.

Das ist der schleichende Tod des Anschreibens, den viele HR-Experten auch heute schon prophezeien. Denn längst sind sie gelangweilt von den gleichlautenden Worthülsen und nichtssagenden Floskeln und legen ihren Fokus vor allem auf die Zahlen, Daten und Fakten des Lebenslaufs. Doch reicht der Blick in die Vergangenheit eines Menschen aus, um im ersten Schritt die Passung und Eignung einer Zusammenarbeit in der Zukunft zu bewerten?

Ich finde diese von Recruitern hausgemachte Entwicklung sehr bedauerlich, bietet das Anschreiben doch die Chance, neben den Fakten zu Fachwissen und Berufserfahrung über alles das zu sprechen, was für den neuen Job und die Motivation beim potenziellen Arbeitgeber auch noch wichtig ist.

Der Vorschlag einer Leserin meines Blogartikels zum „ehrlichen Anschreiben“, in der Fußzeile eine Wortwolke aus Keywords zu platzieren, um auch den „Roboter-Test“ zu bestehen, brachte mich zum Schmunzeln und symbolisiert sehr deutlich die absurde und zugleich große Unsicherheit erzeugende Polarität, in der sich Bewerber wie auch Recruiter im digitalen Wandel aktuell befinden.

Cultural-Fit-Analysen und Persönlichkeitstests oder gutes Bauchgefühl?

Ist es die logische Konsequenz der Digitalisierung im HR-Bereich, dass die menschliche Entscheidungskompetenz bei zunehmender Automatisierung des Personalauswahlprozesses immer mehr verkümmert? Ist es gut und richtig, dass Bewerber zunehmend nach Analysen, Scores und Fits bewertet und ausgewählt werden, um so (unbewusste) Vorurteile der Personaler auszuschließen und die Bewerberauswahl objektiver wird? Hat Müslüm dann die gleichen Chancen wie Michael?

Ich bin noch skeptisch, schließlich sind die Modelle und Algorithmen in den Matching-Systemen auch nur ein vereinfachtes Abbild der Realität. Es ist ein Leichtes, das Höchstalter potenzieller Kandidaten für eine Position auf 45 Jahre zu begrenzen – auch wenn es kein Unternehmen zugeben würde – und nach Auswertung des Geburtsdatums an alle Kandidaten mit "Alter > 45" automatisch die Absage-Mail zu schicken. An andere (geheime) Auswahlkriterien mag ich gar nicht denken.

Ganz abgesehen von der technischen Auswahlentscheidung bezweifele ich, dass Personaler und Führungskräfte in den Fachbereichen so exakt wissen, wen sie wirklich suchen. Vielleicht existiert die Vorstellung des Ideal-Kandidaten mit Berufserfahrung in der gleichen Branche im Alter zwischen 30 und 40 sowie mit betriebswirtschaftlicher Ausbildung. Doch wer weiß, ob nicht der 41-jährige Quereinsteiger und Physiker, den bisher niemand auf dem Schirm hatte, noch viel besser für die zu besetzende Position geeignet ist? – Computer sagt Nein, keine Chance!

Es ist unglaubwürdig, wenn sich Arbeitgeber Diversity-Kultur und gleiche Chancen für Quereinsteiger für ein glänzendes Employer Branding auf die Fahnen schreiben, jedoch gleichzeitig Bewerber mit krummen Lebensläufen nicht „matchen“ und sie automatisiert vom System aussortiert werden.

Digitalisierung im Recruiting darf den Menschen hinter Datensätzen nicht vergessen.

Ist es zeitgemäß, Kandidaten auf Basis von Onlinetests in Raster zu stecken? Ist es wichtig, dass neue Mitarbeiter einen passenden „cultural fit“ aufweisen? Müssen Kandidaten vor dem ersten persönlichen Kontakt durchleuchtet und analysiert werden? 

Was unterstützt tatsächlich die (menschliche) Auswahlentscheidung, was dient der Effizienz im Recruitingprozess und was sind schlichtweg unsinnige Technik-Spielchen zur Erzeugung von Pseudo-Wahrheiten?

Die Gefahr im Hype der Digitalisierung ist groß, dass Arbeitgeber und ihre Recruiter ihren Blick so stark einengen und sie unter dem Deckmäntelchen von Neutralität, Effizienz und Qualität vor allem auf „systematische“ Passung statt auf Offenheit, kreativen Weitblick sowie auf ihre menschliche Entscheidungskompetenz vertrauen.

Trotz Digitalisierung werden auch in Zukunft Menschen mit Menschen arbeiten – sogar noch intensiver als je zuvor. Soft-Skills und persönliche Talente werden für gute Zusammenarbeit in der Arbeitswelt 4.0 mehr zählen als Noten, Zertifikate und Fachwissen.

Gerechtigkeit durch Objektivität bei der Bewerberauswahl ist wichtig, hier kann Technik einen Beitrag leisten. Ebenso bietet die Digitalisierung viele neue Möglichkeiten der Arbeitgeber-Bewerber-Kommunikation. Doch Bewerber bleiben Menschen – mit Persönlichkeit, Emotionen sowie Ecken und Kanten. Digitalisierung im Recruiting darf den Menschen hinter einem Datensatz nicht vergessen, sondern sollte dabei unterstützen, dass sich Arbeitgeber und Bewerber in Zukunft besser finden. 

Was ist Ihre Meinung - als Bewerber oder Recruiter?

Wer schreibt hier?

Dr. Bernd Slaghuis
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Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

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Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
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